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Montag, 10. Februar 2014

Kinder auf hoher See

Corriere delle Migrazioni – Was passiert, wenn in Italien unbegleitete Minderjährige ankommen? Ein Interview mit Dinah Caminiti von der NGO “Ai Bi”, die im Rahmen des Projekts “Bambini in alto mare” (“Kinder auf hoher See”) die Möglichkeit anbietet, einen unbegleiteten Minderjährigen in Schutz zu nehmen und mit Nino Vinci, der dank “Ai Bi” einen somalischen Jungen aufgenommen hat. “Als wir im Fernsehen die Bilder des Schiffsunglücks vor Lampedusa am 3. Oktober gesehen haben, die weißen Särge der Kinder, haben meine Frau und ich gespürt, dass wir nicht gleichgültig bleiben können.
Wir haben uns mit Ai Bi in Kontakt gesetzt, die NGO, über welche wir ein ein Kind aus dem Kongo adoptiert haben, das heute zwei-einhalb Jahre alt ist, und haben uns zur Verfügung gestellt, einem Minderjährigen Unterkunft zu gewähren. Am Anfang haben wir eine Bedingung gestellt: dass der Kleine nicht mehr als acht Jahre alt sein sollte. Dann ist uns bewusst geworden, dass diese Altersgrenze keinen Sinn macht, weil diejenigen, die hier allein ankommen, fast alle älter sind. So ist am 23. Dezember Haamid bei uns Zuhause angekommen, ein somalischer Junge, der 17 Jahre alt ist.” Wer spricht, ist Nino Vinci, 34, aus Messina. Seine Familie ist eine von etwa eintausend, die sich bereit erklärt haben, einen Minderjährigen unter ihren Schutz zu stellen, alle im Rahmen der Initiative “Bambini in alto mare” (“Kinder auf hoher See”) von der Organisation “Ai Bi” (“Associazione Amici dei Bambini”, Vereinigung Freunde der Kinder), einer NGO, die sich um Minderjährige und internationale Adoptionen kümmert.
Haamid im Haus der Vincis unterzubringen, war nicht leicht. “Nach der Ankunft in Siracusa wurde er nach Messina gebracht, wo er nach einer radiographischen Kontrolle für volljährig erklärt wurde. Er hat aber immer wiederholt: “Ich bin erst 17 Jahre alt!” Er wurde dann im CARA (Centro Accoglienza per Richiedenti Asilo, Aufnahmezentrum für Asylsuchende) von Mineo eingeschlossen, von dem aus er gemeinsam mit anderen dort festgehaltenen Gleichaltrigen  wiederholt im “Centro Affidi” von Messina (Anmerkung von Borderline Sicilia: eine Art “Schutzzentrum”, ein freiwilliger Service der Kommune Messina und von Schutzorganisationen der Region) anrief, um um Hilfe zu bitten. Letztlich ist sein Fall noch einmal untersucht worden und er wurde auf die Liste der Minderjährigen gesetzt, mit der Begründung, dass die Methode des Handwurzelröntgens zur Feststellung des Alters nicht zu 100% zuverlässig ist. Als ich nach Mineo gefahren bin, um ihn abzuholen, war gerade ein Aufstand im Gange; es gab Blockaden und niemand war zu sprechen. Ich musste umkehren. Aber am Ende habe ich es geschafft! Das erste Treffen mit Haamid fand im CARA statt, in einer sehr verwirrenden Situation. Wir haben miteinander durch die Vemittlung einer kulturellen Mediatorin gesprochen, die er nur um zwei Dinge gebeten hat: dass er studieren und ab und zu seine Familie anrufen kann. Ich habe ihn mit nach Hause genommen und unser Abenteuer hat begonnen.” Dieser junge Somalier spricht zur Zeit nur seine Sprache und einige Worte auf Englisch. “Wir kommunizieren über Gesten, ein bisschen auf Englisch und vor allem durch das Benutzen von Online-Übersetzungsmaschinen”, erklärt Nino Vinci. Was ist seine Geschichte? “Er ist das älteste von fünf Kindern, ist gemeinsam mit einigen Gleichaltrigen aufgebrochen, um sich selbst und seiner Familie die Hoffnung auf eine Zukunft zu geben. Die Reise hat drei Monate gedauert, davon war er acht Tage auf See. Das hat ihn 1.500 Dollar gekostet”. Welche Träume hat er für die Zukunft? “Er ist noch ein Junge”, antwortet Vinci lächelnd, “und hat die Träume, die alle Jungs haben: er würde gerne Fußballspieler oder Pilot werden! Aber ich habe ihm erklärt, dass dies keine leichte Zeit für Italien ist, es gibt nicht viel Arbeit. Ich habe ihm gesagt, dass er als erstes Italienisch lernen sollte, dann kann man weitersehen. Aber es ist klar, dass er von niemandem Almosen annehmen möchte, sondern selbst seinen Lebensunterhalt verdienen will. Hier ist er meinem Neffen verbunden, der das gleiche Alter hat und in der Nähe von uns wohnt. Wir sind dabei, langsam dabei ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, über Worte, Umarmungen, das Zeigen von Zuneigung. Er sagt, dass er zwei Familien hat: seine Familie in Somalia, die er wöchentlich am Telefon hört, und unsere Familie.”
Gemeinsam mit Sardus, einer 14-jährigen Somalierin, ist Haamid unter den ersten Jugendlichen, denen Ai.Bi. Schutz bietet. Ai.Bi. ist im Moment die einzige NGO in Italien, die eine solche Initiative fördert. Die unbegleiteten Minderjährigen, die so eine neue, zeitweilige Familie gefunden haben, sind insgesamt sieben, alle aus Somalia und Gambia. “Die Familien, die sich zur Verfügung gestellt haben, sind viele, aber viele lassen sich von der Tatsache abschrecken, dass es sich hauptsächlich um Jugendliche handelt”, erklärt Dinah Caminiti von der Organisation Ai.Bi. in Messina. Im Rahmen des Projekts “Bambini in alto mare” (“Kinder auf hoher See”) bietet Ai.Bi. nicht nur die Option an, selbst Unterkunft zu bieten: es gibt auch die Möglichkeit einen ökonomischen Beitrag zu leisten, oder dem Projekt etwas von seiner Zeit zu widmen. “Zum Beispiel gibt es in unserer kommunalen Unterkunft in Messina, wo insgesamt bis zu 12 Jugendliche beherbergt werden können, einen Gambier, der sehr gut Karate kann und eine Familie übernimmt die Kosten dafür, dass er diesen Sport ausüben kann”, führt Caminiti weiter aus. “Das Problem der Minderjährigen ist gigantisch und es ist eine  immer noch offene Wunde: gerade neulich ist ein ägyptischer Junge zu mir gekommen und hat mir gesagt: “Ich habe erfahren, dass mein Cousin gerade auf einem Schiff nach Italien kommt, ruf die Küstenwache an!” Etwas, das ich offensichtlich nicht tun kann. Die Jugendlichen kommen erschöpft an, nach mindestens acht Tagen auf See, in denen sie sich nur durch Salz und einige Körner ungekochtem Reis aufrecht erhalten. Die Motivationen, die sie dazu bringen, abzureisen, ändern sich je nach Herkunftsland. Zum Beispiel sehen die Ägypter die Reise als eine Art Test: wenn sie es schaffen, sind sie wahre Männer. Sie kommen sogar mit Empfehlungsschreiben für eventuelle Arbeitgeber hier an. Eines Tages haben wir einigen von ihnen einen Ball zum Spielen gegeben. Einer hat ihn genommen und gefragt, wo Nadel und Faden sind: er dachte, dass wir sie fragen einen ebensolchen Ball herzustellen. Sie fühlen sich in der Rolle der Erwachsenen, mit dieser Verantwortung, und es ist vor allem die Wiederherstellung der Kindheit, an der unsere Erzieher arbeiten. Auf jeden Fall ist die Situation der Ägypter aber glücklicher, als beispielsweise die der Gambier, die davor fliehen, nicht sterben zu müssen und die eine schreckliche Durchreise durch Lybien auf sich nehmen müssen.”
Wie läuft der Prozess ab, der diese Jungs von den Ankunftshäfen bis zum Sozialdienst oder zu Ai.Bi. bringt? “Seitdem es die Operation Mare Nostrum gibt, werden die Migranten auf See aufgenommen und auf Militärschiffen der Marine weiter befördert. Die ersten, die aufgenommen werden, sind Frauen und Minderjährige, welche sich oft im Dunkeln im unteren Schiffsbereich verteckt halten, dort wo sonst der Fisch gelagert wird. Sie werden in die vorgesehenen Häfen geleitet, einer medizinischen Untersuchung unterzogen und dann auf verschiedene Städte verteilt. Sie fallen wie die Erwachsenen unter die Gerichtsbarkeit des Migrationsbüros der Polizei (Ufficio Immigrazione della Questura), aber innerhalb von 72 Stunden muss ihre Anwesenheit dem Sozialdienst oder den Schutzzentren (Centri Affidi) gemeldet werden, die sich dann kümmern. Das Schutzzentrum von Messina, mit dem wir eine Übereinkunft haben, ruft uns an diesem Punkt an und auch wir beginnen dann nach einer Unterkunft zu suchen. Außerdem ist es kompliziert, dass im Fall von Minderjährigen ein Vormund bestellt werden sollte, und es finden sich wenige, die dies übernehmen möchten, weil es sich um eine unbezahlte Tätigkeit handelt.” Was könnte eine Möglichkeit sein, für eine bessere Unterbringung für unbegleitete Minderjährige zu sorgen? “Ideal wäre es, Unterbringungszentren für Mütter und Minderjährige zu realisieren: wenn Minderjährige in die Zentren für Erwachsene gebracht werden, befinden sich diese Jugendlichen, besonders die Mädchen, in Situationen gefährlicher Promiskuität. Nicht selten erleben sie Gewaltszenen. Und dann bräuchte es eine Koordinierungsstelle auf nationaler Ebene, so dass sich Non-Profit-Organisationen sowohl unter sich als auch mit den Autoritäten absprechen können. Im Moment muss Ai.Bi. Absprachen mit den Gemeinden treffen, um in diesem Gebiet aktiv zu sein, die nicht immer zustande kommen. Im Moment ist unsere Organisation die einzige NGO, die eine Kampagne zum Schutz unbegleiteter Minderjähriger hat, aber wenn der bürokratische Prozess erleichtert würde, könnten sich uns andere Non-Profit-Vereinigungen anschließen. Zusammen ließe es sich besser arbeiten.”
Von Medien wird geschätzt, dass 10 bis 15 Prozent der Migranten, die an unseren Küsten anlanden, unbegleitete Minderjährige sind. Alle Informationen darüber, wie es möglich ist, die Initiative “Bambini in alto mare” (“Kinder auf hoher See”) von Ai.Bi. zu unterstützen gibt es auf dieser Internetseite: http://www.aibi.it/ita/sostieni-aibi/bambini-in-alto-mare/.
Gabriella Grasso

Aus dem Italienischen von Philine Seydel