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Montag, 3. Februar 2014

Die Geburt der 'Carta di Lampedusa'. Eine Erzählung.

In diesen drei Tagen hat Borderline Sizilien an der Ausarbeitung des definitiven Entwurfs der Lampedusa Charta teilgenommen. Dieses Dokument schlägt eine neue Geographie der Freiheit vor und bekräftigt sie.

Die Arbeit begann am Nachmittag des 31. Januar mit der Präsentation aller Institutionen, die auf die Insel gekommen sind, um an der Initiative teilzunehmen. Anwesend waren sowohl nationale als auch internationale Vereinigungen und Gruppen. Als erstes kam die Bürgermeisterin von Lampedusa zu Wort, gefolgt von der Rede eines Vertreters der Unternehmervereinigung der Insel und der Gemeinschaft Askavusa.  

Ihr Beitrag war wesentlich, um dem Wunsch, diese Insel sich selbst und seinen Bewohnern zurückzugeben, zu erwidern. Ein Wunsch, der bereits in der Einleitung der Charta angekündigt wurde. Diese Insel hat von der aktuellen Migrationspolitik die Funktion von Ende und Grenze auferlegt bekommen, dient als Ort des gezwungenen Übergangs, der den Tod tausender Menschen verursachte, welche versuchten die Insel zu erreichen. 

Während die Bürgermeisterin Zweifel an der Operation Mare Nostrum (Unser Meer) erhob und unterstrich, dass so die Möglichkeit, eine andere Aufnahme- und Asylpolitik durchzuziehen, behindert werde, hat die Gemeinschaft Askavusa bekräftigt, dass eine solche Migrationspolitik ein deutlicher Ausdruck von politischer Militarisierung sei mit Wirkung auf ganz Sizilien. Zudem stehe diese Politik auch der Installation des MUOS (Mobile User Objective System, Satellitenkommunikationssystem der US Navy) bei Niscemi in Verbindung.

Die enge Verbindung zwischen der Frage der Militarisierung der Grenzen und der Einwanderungspolitik wurde in diesen drei Tagen immer wieder unterstrichen. 

Im Gegensatz dazu hat der Vertreter der Unternehmervereinigung die Operation als eine Lösung beschrieben, auf die seit Jahren gewartet wurde, denn dadurch würden die Migranten direkt in die CARA (Aufnahmezentren für Asylsuchende) überführt, ohne dass mit der Insel dasselbe geschehe wie in den letzten Jahren. 

Der entscheidende Tag für die Approbation der Lampedusa Charta war Samstag der 1. Februar am späten Abend. Der Entwurf der Charta – entstanden in einem Prozess gemeinsamen Schreibens, in den letzten Monaten via Web Konferenz, docuwiki und einer Email-Liste – wurde Kapitel für Kapitel vorgelesen, analysiert und diskutiert. Es war von vorn herein klar, dass von einer so umfangreichen wie heterogenen Versammlung zahlreiche Änderungsvorschläge und Ergänzungen kommen würden und es schwer sein würde, diese einstimmig zu genehmigen. Aber das Prinzip „wenn jeder von uns einen Schritt zurück macht, machen wir alle zusammen zehn Schritte nach vorne“ motivierte und ermöglichte die Genehmigung der endgültigen Fassung. 

Die Lampedusa Charta ist eine Vereinbarung zwischen den unterzeichnenden Parteien. Diese verpflichten sich die in ihr enthaltenen Prinzipien zu verteidigen sei es im Verhalten, in sprachlichen Formulierungen wie durch Aktionen, die jeder einzelne  in Gang setzen will.“ 

Im ersten Teil der Charta werden die Grundprinzipien dargelegt: persönliche Freiheit, Bewegungsfreiheit, Bleiberecht und Widerstandsrecht. Im zweiten Teil werden in Widerspruch zur aktuellen Realität jeneVeränderungen festgehalten, die zur Realisierung der im ersten Teil formulierten Rechte und Freiheiten nötig sind: Entmilitarisierung der Grenzen, Abschaffung der Visumbestimmungen, sofortige Schließung aller Zentren der Verwaltungshaft und Aufnahme-Rückhalte-Strukturen. 

Eine Gruppe Mütter aus Lampedusa eröffnete mit ihrem Aufruf, gleiche Rechte für alle, die Versammlung am Sonntag. Dabei hoben sie hervor, wie das Fehlen eines wesentlichen Dienstes, des Gesundheitsdienstes, sich auf das Schicksal der Menschen auswirke, die auf ihrer Insel „weder geboren werden noch sterben können“, weil es kein Krankenhaus gibt. Sie sprachen über die Unbequemlichkeiten ihrer Kinder, die auf Grund der mangelhaften schulischen Infrastruktur gezwungen sind in Turnussen zum Unterricht zu erscheinen und vor allem, die sich dann in einer Struktur aufhalten deren Nutzung nicht einmal sicher ist.

Darauf folgte der Bericht des Vertreters der Vereinigung „La Terre pour tout“, der vom Drama der Familien der vermissten Tunesier erzählte und der sich von der Lampedusa Charta erhofft, dass sie die Zusammenarbeit zwischen allen Mittelmeerländern ins Leben rufen kann, um weitere Tragödien auf dem Meer zu verhindern. Dazu lädt er alle Anwesenden ein, sich nach Tunesien zu begeben. 

An diesem Punkt begannen die Stellungsnahmen der verschiedenen Gruppen, welche nicht nur ihre eigenen Erfahrungen in den jeweiligen Bereichen und Gebieten einbrachten, sondern auch verschiedene konkrete Vorschläge machten, mit denen die Inhalte der Charta  in  kurzer Zeit realisiert werden könnten, darunter: allgemeine Mobilisierung für die Schließung der Verwaltungshaftzentren in ganz Europa, „Karawanen“ auf bedeutenden Abschnitten der Migrationsroute von Afrika nach Europa und in tunesischen wie auch libanesischen Flüchtlingslagern, Umwandlung des docuwiki in einen Blog, der allen zugänglich ist. 

Die Endfassung der Lampedusa Charta ist bereits auf Carta di Lampedusa einsehbar, die Unterzeichnung ist für einzelne wie auch für Vereinigungen möglich.


Aus Lampedusa, Elio Tozzi und Giovanna Vaccaro
Die Redaktion von Borderline Sizilien

Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner