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Mittwoch, 10. April 2013

Tunesier auf See verschwunden

„Das ist mein Sohn, siehst du ihn? Er lebt. Aber weder die italienischen, noch die tunesischen Behörden unternehmen etwas um ihn zu finden“. Beim Weltsozialforum in Tunis haben die Familien der hunderten von vermisst gemeldeten Personen, welche bei dem Versuch die Straße von Sizilien zu überqueren um Europa zu erreichen und dabei schiffbrüchig geworden sind, versucht die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf ihr Drama zu lenken.
TUNIS - „Hier ist er. Siehst du ihn? Der im Vordergrund ist Bilal, mein Erstgeborener. Dieses Bild ist der Beweis dass Bilal nicht auf See gestorben ist, sondern dass er lebend in Italien angekommen ist. Aber weder Italien noch Tunesien unternehmen etwas um ihn zu finden.“ Abdelaziz hält das Video an der Stelle an, in der ein Junge mit erschöpften Blick sich in eine Decke hüllt und direkt in das Objektiv schaut. Hinter diesem Jungen sieht man ein Aufgebot an italienischen Sicherheitskräften und im Hintergrund eine Fähre mit der Aufschrift „Palladio“.

Die Fähre „Palladio“ gehört zur Gesellschaft Siremar und fährt auf der Route, die von Porto Empedocle nach Lampedusa führt. Bilal war 27 Jahre alt, als er Anfang September 2012 auf einem kleinen Schiff Tunesien verließ. Seitdem hat der Vater non Abdelaziz keine Nachricht mehr von ihm erhalten. Die italienischen und tunesischen Behörden haben ihm erklärt, dass sein Sohn für auf See „vermisst“ gemeldet wurde. Aber da ist Bilal nicht. Ihm zufolge hat der Sohn den Schiffbruch vom 6.September 2012 überlebt und könnte jetzt in Italien in einem CIE (Identifikations- und Abschiebelager) interniert sein. Der einzige Beweis in seinem Besitz ist das Bild, das auf der Seite von „Al Karama“ dem lokalen Radio von Sidi Bouzid verbreitet wurde, und um dass er jetzt die Hände klammert.

Eine lange Liste Vermisster. Die Geschichte von Bilal ist nur eines der vielen Mosaiksteine, die die lange komplizierte Geschichte der verschwundenen Tunesier in der Straße von Sizilien beim Versuch Italien zu erreichen, erzählt. Seit 2010 bis heute werden 250 Vermisste gezählt. Aber wenn man auch alle „irregulären“ verschwundenen Flüchtlinge, die nicht formell den Behörden angezeigt wurden in Betracht zieht, erhöht sich die Zahl schwindelerregend auf circa 2500 Fälle.

Seit zwei Jahren verlangen die Familien der Vermissten die Wahrheit über das Schicksal ihrer Lieben zu erfahren. Aber weder Italien noch Tunesien liefern befriedigende Antworten. In Italien ist auch eine Untersuchung eingeleitet worden, die dennoch aufgrund des Mangels an Beweisen die Einstellung riskiert. Daher haben die Familien der Vermissten von der internationalen Medienaufmerksamkeit, die durch das Weltsozialforum in Tunis entstanden ist, profitiert, um darauf zurückzukommen wie die strengen europäischen Flüchtlingspolitiken das Mittelmeer in einen stillen Friedhof verwandelt haben.

Das Recht der Familien auf Information. Dieses mal jedoch haben sie es durch die Präsentation eines offiziellen Aufrufs an die EU getan. Sie verlangen an einer speziellen Untersuchungskommission teilzunehmen in der Europa, Italien und Tunesien „ihre Erkenntnisse zur Verfügung“ stellen. Insbesondere fordern die Familien das Recht alle Informationen, die von den Behörden durch die technischen Mittel der Seekontrolle, wie die Lokalisierung der Schiffe durch die Telefonaufzeichnungen ihrer Angehörigen während der Überfahrten, zu erfahren. Darüber hinaus verlangen sie eine akkuratere nominelle Untersuchung der Vermissten auf Grundlage europäischer Datenbanken, da die Namen der angekommenen Tunesier wegen der problematischen Transkription aus dem arabischen in das italienische auf unterschiedlicher Weise registriert werden. Außerdem ein technischer Vergleich der Fernsehbilder der „Landungen“ auf Lampedusa und der Transfers nach Mineo, auf welchen die Eltern ihre Kinder wiedererkennen. Schließlich, die Bergung der Leichen und untergegangenen Wracks.

Das Dossier der Familien der Vermissten. In den vergangenen Monaten haben die Familien der Vermissten mit der Hilfe von Freiwilligen und Vereinen die auf beiden Seiten des Mittelmeers arbeiten, Informationen gesammelt und dadurch ein richtiges Dossier zusammengestellt indem sich rekonstruieren lässt wann und auf welchem Schiff die Verwandten aufgebrochen sind. Von welchen Orten Tunesiens und auf welcher Route. Aber auch von welchen Telefonnummern sie während ihrer Reise nach Hause telefoniert haben; die Anrufzeiten und mit welchen Telefongesellschaften. „Das ist unser Wissen“ - liest man in dem Aufruf – aber wir wissen auch dass dieser Meeresbereich ständig durch unzählige technische Überwachungsgeräte, die die EU mit ihren Mitgliedsstaaten und ihrer Grenzbehörde Frontex zwischen den beiden Unfern aufbietet, beobachtet wird um die Flüchtlingsbewegungen zu kontrollieren. Radar, Satelliten, Motorboote, Flugzeuge, Helikopter und nach der Ankunft die Abnahme eines Fingerabdrucks. Wir wissen, dass diese Informationen archiviert werden. Wir wissen, dass über die Behörden der EU hinaus, auch die der NATO vor Ort sind“. Daher „fordern wir nun eure Erkenntnisse“.

„Ist unser Leid nicht weniger wichtig als eures?“ Gegenüber der Taubheit der italienischen und tunesischen Regierungen, wendet sich die Mutter eines Vermissten an die internationale Presse auf dem Forum von Tunis: „Wir sind Mütter, Väter, Schwestern und Brüder auf die selbe Weise, in der man es in Europa ist. Warum also haben unsere Zuneigung und unser Leid nicht den selben Wert wie die Zuneigung die in einem ähnlichen Fall den Familienangehörigen der jungen Europäer zuteil werden würde?“ Dieses Jahr lenkt das Sozialforum große Aufmerksamkeit auf die Frage nach den in der Straße von Sizilien Vermissten. Und es ist daher, dass es schwierig sein wird das dieser Appell ungehört bleibt. 

(La Repubblica, VALERIA BRIGID, aus dem Italienischen ins Deutsche von Alessandro Pastore)