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Montag, 22. April 2013

Das vergiftete Erbe der technischen Regierung

Corriereimmigrazione - Was sind die CIE (Zentren zur Identifikation und Abschiebung) und was sollte aus ihnen werden? Die scheidende Regierung hat in diesen Tagen einen recht fragwürdigen Vorschlag vorgebracht. Stellungnahmen von Fulvio Vassallo Paleologo, Filippo Miraglia, Alessandra Ballerini. Zusammengefast auf 27 Seiten plus Anhänge. Das Projekt zur Überarbeitung des „Systems der CIE“ wurde, beinah im Geheimen, von einer Gruppe von Führungskräften und Beamten des Innenministeriums unter der Leitung des Staatssekretärs Saverio Ruperto erstellt. Es geht davon aus, dass die Zentren zur Identifikation und Abschiebung (CIE) notwendig sind, und sieht zahlreiche Neuerungen sowohl in verwaltungsrechtlichem, als auch hinsichtlich deren Betriebs im eigentlichen Sinne vor. Stark zusammengefasst sind dies folgende: Übertragung der Zentren an einen einzigen Betreiber für das gesamte Staatsgebiet; Herabsetzung der Höchstaufenthaltsdauer von 18 auf 12 Monate (in Anbetracht der grundsätzlichen Zwecklosigkeit der vorherigen Ausweitung); größerer Entscheidungsspielraum der Präfekten bei der Festlegung der Zugangsmodalitäten; Anwendung von einheitlichen und besseren Gesundheitsstandards in allen Einrichtungen, auch um Fluchtmöglichkeiten vorzubeugen („eine der von den Inhaftierten am meisten angewandte Methode für Fluchtversuche besteht darin, Situationen herbeizuführen – auch durch Selbstverletzung – die eine Überstellung in externe Gesundheitseinrichtungen erfordern“, heißt es im Bericht); Zusammenlegung der „Insassen“ nach deren jeweiligem Rechtsstatus; Isolation der Gewalttätigen und Belohnungssystem für gute Führung; Änderung der Vergabeordnung mit einem einzigen Reglement; neue Ansiedlung der Zentren in Städten, in denen diplomatische Vertretungen ihren Sitz haben; Zusammenarbeit der betroffenen Ministerien.

Das Ministerium hat den Bericht im Juni 2012 beim Staatssekretär Ruperto in Auftrag gegeben, zu dem Zeitpunkt, als strukturelle Lücken aufgetreten waren, die zur Schließung der Zentren „Serraino Vulpitta“ in Trapani und „Malgrado Tutto“ in Lamezia Terme, sowie zu schwerwiegenden Vertragsbrüchen in zahlreichen Zentren geführt hatten. Mehrfach haben wir vom Corriere Immigrazione versucht mit Ruperto zu sprechen, um zu erfahren wie es voranging: wir sind immer abgewiesen worden.

Fulvio Vassallo Paleologo von der Universität Palermo gehört zu den Wissenschaftlern und Aktivisten, die seit einiger Zeit den, mit den verschiedenen Formen der Verwaltungshaft zusammenhängenden, Fragen nachgehen: „Der Bericht enthält die Darstellung von Vorgehensweisen, die seit Monaten in allen Zentren zur Identifikation und Abschiebung gebräuchlich sind, und zwar auf Grundlage der großen Ermessensspielräume der Polizeipräsidenten und unter Leitung der Abteilung für bürgerliche Freiheiten und Einwanderung des Innenministeriums (deren Leiterin zu den Verfassern des Berichts gehört, AdR). Es ist dokumentiert, dass Isolationszellen für gezielte Misshandlungen verwendet werden und dass nach den Protestaktionen Verlegungen durchgeführt wurden. Diesbezüglich hat es auch Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft gegeben, die jedoch nicht aktiv geworden ist und alles zu den Akten gelegt hat. Und nun hat unter den Häftlingen, die immer härteren Repressalien ausgesetzt sind, auch die Bereitschaft zur Erstattung von Anzeigen abgenommen. Der Bericht scheint den extremsten Forderungen einiger Polizeigewerkschaften zu entsprechen und es ist alarmierend, dass er gerade zu einem Zeitpunkt erscheint, zu dem es de facto kein Innenministerium gibt. Es wirkt wie ein Impuls, ein aufgefangenes und an die Polizeikräfte gesandtes Signal, dass sich die Vorgehensweisen und Rechtsvorschriften für die Verwaltungshaft in Italien weiter von der Richtlinie 2008/115/EG entfernen. Was vorgeschlagen wird, ist eine rasche Verbreitung der Zentren zur Identifikation und Abschiebung auf dem gesamten Staatsgebiet, mit einer Verschärfung der Haftbedingungen und den üblichen Begleiterscheinungen neuer „Täterstraftaten“. In jedem Passus des Berichts sieht man sich problematischen Aspekten ausgesetzt: So wird zur Kenntnis genommen, dass die Zentren, auf Grund der von den Inhaftierten verursachten Beschädigungen der Räumlichkeiten, eine reduzierte Aufnahmefähigkeit haben, hierbei wird jedoch verschwiegen, dass die deutliche Herabsetzung der laut den Verträgen für die Betreiber vorgesehenen Entgelte zu einer Reduzierung des Personals in den Zentren geführt hat. Es wird angekündigt, dass viele Einwanderer ohne Papiere schneller zurückgeschoben werden können, indem nicht die Zentren zur Identifikation und Abschiebung sondern die – oft informellen – Ersthilfe- und Erstaufnahmezentren (CPSA) genutzt werden, mit Vorgehensweisen, die gegen das Verbot von Massenabschiebungen und gegen das Schengen Abkommen verstoßen.“

Filippo Miraglia, zuständig für Einwanderung beim Verein Arci: „Mit Ausscheiden aus ihrem Amt hinterlässt die Innenministerin Cancellieri ein vergiftetes Erbe: einen ‚Bericht‘ (obschon er nicht die Merkmale eines Berichts hat, in Anbetracht der dürftigen Argumente zur Rechtfertigung von Entscheidungen, die größtenteils eine Fortführung derjenigen ihrer Vorgänger darstellen, insbesondere des ehemaligen Ministers Maroni) über die Zentren zur Identifikation und Abschiebung (CIE), in dem die festgestellten Hauptproblematiken äußerst fragwürdig sind. So ist beispielsweise davon die Rede, dass deren Kosten eingeschränkt werden müssen, auch wenn dies zum Nachteil der Rechte der inhaftierten Personen geschieht. Denn eine Absichtserklärung reicht nicht aus, wenn anschließend die Mittel für die Dienstleistungen, die zur tatsächlichen Durchsetzung dieser Rechte erforderlich sind, nicht zur Verfügung gestellt werden. Ein weiterer Aspekt, auf den der ‚Bericht‘ immer wieder zurückkommt, ist die Notwendigkeit, möglichen Auflehnungen zuvorzukommen und diese zu unterdrücken, indem Aufständische und sogar ‚potenzielle‘ Aufständische in separaten Räumen abgesondert werden – und dies in Zentren, die bereits eine Verleugnung des Rechtsstaats darstellen – Sonderzellen in Sondergefängnissen. Es wird sogar angedeutet, dass in den Gefängnissen Ghettobereiche für Ausländer eingerichtet werden müssten, „um diese einfacher identifizieren zu können“. Das kommt einem Vorhaben von Apartheid auch in den Gefängnissen gleich! Schließlich wird vorgeschlagen, die Rechtsvorschriften bezüglich der Erschwerungsgründe zu erweitern und auch die Auflehnung in den Zentren zur Identifikation und Abschiebung darin vorzusehen, welche so Verbrechen gleichgestellt würden, die eine höhere Strafe rechtfertigen. Es wird also die Politik der Verfolgung fortgeführt, die bereits in Hinblick auf die Eindämmung der illegalen Einwanderung gescheitert ist, aber vor allem eine Schande darstellt für einen Staat, der als zivil und demokratisch erscheinen möchte.“

Die Rechtsanwältin Alessandra Ballerini holt weit aus und nimmt auf einen Fall Bezug, der wahrscheinlich ausschlaggebend ist, um die Absurdität des Berichts zu verstehen. „Ich möchte an das Urteil des Richters Edoardo D‘Ambrosio erinnern, mit dem bestimmt wurde, dass die Anstifter des Aufruhrs im Zentrum zur Identifikation und Abschiebung in Crotone, die verschiedene Gegenstände nach der Polizei warfen, in „Notwehr“ handelten (Urteil Nr. 1410 vom 12.12.12) und dass die Reaktion der Ausländer auf die „ungerechten Beleidigungen“ als verhältnismäßig anzusehen ist. Die Lebensbedingungen im Zentrum sind als „beinahe unhaltbar“ beurteilt worden: Die Einrichtungen waren „für ihren Zweck“ – das heißt für die Beherbergung von Menschen – „ungeeignet“, wie der Richter sagte. Und zwar Menschen als solche und nicht als Ausländer, die sich illegal auf dem Staatsgebiet aufhalten. Der Qualitätsstandard der Unterkunftsbedingungen ist nicht an denjenigen auszurichten, die möglicherweise prekäre Wohnbedingungen gewöhnt sind, sondern am durchschnittlichen Bürger, ohne Ansehen von Lebensbedingungen oder Rasse.“ Tatsächlich, meint Alessandra Ballerini, hat ein Richter bestätigt, dass die Häftlinge ihre guten Gründe hatten zu rebellieren, da sie inakzeptablen Zuständen ausgesetzt waren, die der Folter gleichkämen, wenn diese denn endlich in unserer Rechtsordnung vorgesehen wäre. Sie holt so weit aus, weil es ihrer Ansicht nach unzählige Gründe für die Verfassungswidrigkeit der Zentren zur Identifikation und Abschiebung (früher Zentren für zeitweiligen Aufenthalt CPT) gibt. „Es gibt verfassungsrechtliche Grenzen für die Einschränkung der persönlichen Freiheit und die Modalitäten, mit denen diese umgesetzt werden, die nicht von einer Vergabeordnung geregelt werden können, wie im Schreiben des Ministeriums behauptet wird. Der genannte Bericht zeigt die Notwendigkeit, dass das freie Ermessen, mit dem die Verwaltungshaft angeordnet wird, überwunden werden muss; doch um dies zu erreichen wäre ein Gesetz erforderlich, dass nicht gegen die Verfassung verstößt. Das Einwanderungsgesetz, mit seinen ständigen restriktiven Änderungen und unter Berücksichtigung der auf dem Gebiet geltenden EU-Richtlinien, klärt dies nicht und Verwaltungsakte oder Verordnungen können Gesetze oder Verfassungen nicht umgehen. Im Grunde bestätigt der Bericht das, was diejenigen, die sich seit vielen Jahren mit diesem Thema befassen, immer vergeblich erklärt haben: es fehlt eine klare und anwendbare Gesetzesgrundlage. Meines Erachtens, und dies sage ich auch in meiner Eigenschaft als Aktivistin der Kampagne LasciateCIEentrare, ist etwas ganz anderes zu tun: Überarbeitung des Einwanderungsgesetzes von Grund auf, um die Legalisierung und die legale Einreise zu erleichtern und, in Übereinstimmung mit der Richtlinie 2008/115/EG, die von der italienischen Vorgängerregierung schlecht und verspätet umgesetzt wurde, die Inhaftierung als „letzten Ausweg“ zu nutzen, und nicht als einfachste Lösung zur Überwindung eines Problems.“





(Aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt von Renate Albrecht)