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Freitag, 16. November 2012

Eine Schande für Europa: Der Friedhof von Lampedusa

Beppe Grillo's Blog - Die Toten, die jeden Tag an den Stränden von Lampedusa ankommen, sind Routine geworden, so regelmäßig wiederkehrend wie Ebbe und Flut. Italien ist die Landezone für die Boote der Hoffnung. Jeder weiß, woher diese Migranten kommen und warum sie gezwungen sind, ihre Heimatländer zu verlassen, aber niemand tut etwas dagegen. Italien wurde damit allein gelassen, der Verzweiflung Afrikas Herr zu werden, während Europa zuschaut, als ob die Tragödie gar nichts mit dem Kontinent zu tun hätte,  als ob Europa nicht zum Teil verantwortlich wäre durch die Plünderung afrikanischer Rohstoffquellen seitens multinationaler Konzerne, durch den Verkauf von Waffen und die Unterstützung diktatorischer Regierungen, durch die Nicht-Einmischung, durch ein „Laissez faire“, ein Geschehenlassen angesichts der ungeheuren Tragödie wie in Darfur oder durch neukolonialistische Kriege in Libyen und anderswo. Jemand, der aus einem solchen Inferno flieht, endet, mit immer größerer Wahrscheinlichkeit, auf dem Friedhof von Lampedusa, der inzwischen keine Kapazitäten mehr übrig hat.

Der Bürgermeister von Lampedusa zum Tod von Migranten/innen


„Ich bin der neue Bürgermeister der Inseln Lampedusa und Linosa. Im Mai wurde ich gewählt und am 3. November wurden mir 21 Leichen in meinen Verantwortungsbereich übergeben. Es handelt sich dabei um Menschen, die ertrunken sind bei ihrem Versuch, Lampedusa zu erreichen, und für mich ist das wirklich unerträglich. Für Lampedusa bedeutet das eine gewaltige traurige Last. Auf unserem Weg durch die Präfektur mussten wir die Bürgermeister der Provinz um Hilfe bitten, damit sie die verbliebenen 11 Leichen in würdiger Form bestatten konnten, denn unser Friedhof hat keinen freien Platz mehr zur Verfügung. Wir werden mehr Platz schaffen. Aber ich frage jeden folgendes: Wie groß muss der Friedhof meiner Insel sein? Ich kann es nicht verstehen, warum eine solche Tragödie als normal abgetan wird. Wie ist es möglich, den Gedanken aus dem alltäglichen Leben zu verdrängen, dass beispielsweise 11 Personen, darunter acht sehr junge Frauen und zwei Kinder im Alter von acht und 13 Jahren, alle zusammen sterben können, wie es am letzten Samstag passiert ist, während einer Überfahrt auf See, die der Beginn eines neuen Lebens für sie darstellen sollte? 76 von ihnen wurden gerettet, aber insgesamt waren es 115. Die Anzahl derjenigen, die umgekommen sind, ist immer sehr viel höher als die Anzahl der Körper, die von der See zurückgegeben werden. Ich bin zutiefst empört angesichts der Normalität, die scheinbar jeden wie eine ansteckende Seuche erfasst hat. Das Schweigen Europas empfinde ich als Skandal, einem Europa, das gerade erst den Friedensnobelpreis bekommen hat und dennoch in Schweigen verharrt angesichts des Massakers, dessen Ausmaße einem Krieg gleich kommen. Ich bin immer mehr der Überzeugung, dass die europäische Einwanderungspolitik dieses Angebot menschlicher Leben als eine Möglichkeit betrachtet, den Zustrom von Menschen zu begrenzen, oder als ein Abschreckungsmittel. Aber, wenn für diese Menschen die Reise auf den Booten nach wie vor die einzige Möglichkeit zur Hoffnung bedeutet, so glaube ich, dass ihr Tod auf See für Europa den Grund bedeuten muss, in Schmach und Schande zu versinken. Auf dieser wahrhaft traurigen Seite unserer Gesichte, die wir alle gerade jetzt schreiben, wird der einzige Grund, warum wir stolz sein müssen, täglich von den Männern des italienischen Staates dargeboten. Sie retten das Leben von Menschen in einer Entfernung von 140 Meilen vor Lampedusa, während andere Männer auf den wahrhaft gut ausgerüsteten Schnellbooten, die unsere vorherige Regierung an Gaddafi gespendet hatte, in einer Entfernung von nur 30 Meilen den Schiffbrüchigen hätten zur Hilfe eilen sollen, deren Hilfegesuchen jedoch ignorierten, so geschehen am letzten Samstag. Diese gleichen Schnellboote werden wirksam dafür eingesetzt, unsere Fischerboote einzukreisen, selbst wenn diese außerhalb libyscher Hoheitsgewässer sind. Die ganze Welt muss es wissen, dass es die Insel Lampedusa ist, die mit ihren Bewohnern und mit ihren Hilfskräften in ihrer Sorge für eine gastliche Aufnahme den Ankömmlingen die Würde menschlichen Lebens gibt und gleichzeitig diese Würde unserem Land und ganz Europa gibt. Und schließlich, wenn diese Leute, die ankommen, einfach auch unsere Leute sind, dann möchte ich Beileidstelegramme bekommen, gerichtet an meine Adresse, jedes Mal, wenn ein Mensch ertrunken ist. Als ob sie weiße Haut hätten, als ob ein jeder von ihnen von irgendjemandem der Sohn sei, der im Urlaub ertrunken ist.“     

Giusi Nicolini, Bürgermeister von Lampedusa

(aus dem Englischen von Christiana Wölki)