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Mittwoch, 29. Februar 2012

Newsletter Borderline Sicilia- Februar 2012

- Delegation von Angehörigen der verschollenen tunesischen Migranten in Italien
- Die Europäische Menschenrechtskonvention verurteilt die Zurückschiebungen auf See durch die italienische Regierung
- Somalische Asylbewerber in Modica (Provinz Ragusa) angeklagt
- Zentrum zur Beobachtung von rassistischen Diskriminierungen in Palermo eröffnet
- Beobachtung der Verletzungen des Rechts auf Verteidigung


DELEGATION VON ANGEHÖRIGEN DER VERSCHOLLENEN TUNESISCHEN MIGRANTEN IN ITALIEN
Am 28. Januar ist eine Delegation von Angehörigen der im März 2011 aufgebrochenen Tunesiern, von denen jede Spur fehlt, in Italien angekommen. Sie haben sorgfältig zusammengestellte Dossiers mit Fotos dabei, auf denen die Ankunft der Tunesier in Italien zu sehen ist. Die Delegation vertritt die Angehörigen von 250 Jugendlichen, die im März 2011 mit vier Booten aufgebrochen waren, doch die „Verschollenen“ sind noch viel mehr: gemäß einer verlässlichen Schätzung gibt es 800 Familien, die jede Spur ihrer Angehörigen verloren haben. Zuerst machte die Delegation in Palermo Station, wo ihnen der tunesische Konsul lediglich mitgeteilt hat, dass „alle leben und sich in Norditalien befinden“. Als ihnen weitere Auskünfte verweigert wurden, begannen sie einen Hunger- und Durststreik und verlangten den Rücktritt des Konsuls. Mit der Unterstützung einiger Antirassismus-Gruppen konnte ein Treffen mit dem Einwanderungsamt des Polizeipräsidiums in Agrigent organisiert werden, das für die Identifizierung aller in Lampedusa angelandeten Personen zuständig ist - jedoch ohne Erfolg. Daraufhin sind sie nach Rom gefahren, wo sie ein Sit-in vor der tunesischen Botschaft organisiert haben, von der sie für wenige Minuten empfangen wurden. Am 21. Februar fand ein Treffen mit dem Innenministerium statt. „Wir verlangen, dass uns die italienische und die tunesische Regierung helfen, sie müssten nur die Fingerabdrücke austauschen“, sagt Nourredine, einer der Väter der Delegation. Die Fingerabdrücke sind einer der diplomatischen Knackpunkte dieser Angelegenheit. Denn mit ihnen könnte nachgewiesen werden, ob die Jugendlichen in Italien angekommen sind und ob sie sich möglicherweise irgendwo in Europa in Verwaltungshaft befinden. Die beiden Regierungen stehen miteinander in Kontakt, jedoch bislang ohne Ergebnis. Das italienische Innenministerium hat sich zur Kooperation bereit erklärt, jedoch nur, wenn Tunesien zuerst die Fingerabdrücke zur Verfügung stellt. Inmitten dieses Hin und Her stehen die verzweifelten Familien.
Lesen Sie hier: bousufi.blogspot.com, http://www.ilmanifesto.it/attualita/notizie/mricN/6532/
Lesen Sie hier: https://leventicinqueundici.noblogs.org/


EUROPÄISCHER GERICHTSHOFS FÜR MENSCHENRECHTE VERURTEILT ITALIEN WEGEN DER ZURÜCKSCHIEBUNGEN AUF SEE
Dank der Klage vorm  Gerichtshof in Straßburg von 24 somalischen und eritreischen Asylbewerbern, die am 6. Mai 2009 nach Libyen zurückgewiesen worden waren, konnte endlich eine einstimmige Verurteilung der Zurückweisungen auf See erreicht werden, die in Übereinstimmung mit dem Freundschaftsabkommen zwischen Italien und Libyen durchgeführt werden. Dem Urteil kommt eine besondere Bedeutung zu, denn es hat der Migrationspolitik, die in den letzten Jahren von den italienischen Regierungen praktiziert wurde, nicht nur einen harten Schlag versetzt, sondern macht es auch erforderlich, diese Politiken gänzlich zu überdenken, auch angesichts der neuen politischen Strukturen in den Mittelmeerländern.
Lesen Sie hier:http://fortresseurope.blogspot.it/2012/02/la-corte-europea-condanna-litalia-per-i.html
Hier finden Sie den Wortlaut des Urteils: http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/view.asp?item=1&portal=hbkm&action=html&highlight=27 765/09&sessionid=87038545&skin=hudoc-en

Inzwischen läuft in Italien ein weiterer Prozess wegen einer Zurückweisung gegen einen General der italienischen Zollpolizei, der vom Gericht Siracusa zuständigkeitshalber nach Rom verlegt wurde.
Lesen Sie hier: http://www.meltingpot.org/articolo15480.html#.T0YuBIx8DJ4.facebook

SOMALISCHE ASYLBEWERBER IN MODICA  ANGEKLAGT
Ein weiterer Landungsplatz für die Migranten, die das Mittelmeer überqueren, ist der äußerste Südosten Siziliens; dort werden sie umgehend aufgenommen und im Zentrum für Unterstützung und Erste Hilfe (CSPA) in Pozzallo (Provinz Ragusa), einem Hangar auf dem Hafengelände, identifiziert. Im Jahr 2011, während des sogenannten „Nordafrika-Notstands“, wurden dort in Lampedusa gelandete Migranten festgehalten, bevor sie zurückgeschoben oder in andere Zentren verlegt wurden. All dies erfolgte jedoch ohne eine Bestätigung seitens der Friedensrichter, obwohl die Struktur de facto wie ein Zentrum zur Identifikation und Abschiebung (CIE) genutzt wurde.
Lesen Sie hier: http://it.peacereporter.net/articolo/30554/Italia%2C+Pozzallo+il+centro+della+vergogna
Lesen Sie hier: http://it.peacereporter.net/articolo/30555/Italia%2C+Pozzallo%3A+il+centro+senza+legge


Im Innern des Hangars hat es einige Aufstände und Fluchten gegeben, mit anschließenden Verhaftungen und Prozessen gegen die Personen, die daraufhin festgenommen oder in der Gegend wieder aufgespürt wurden. Normalerweise werden die Prozesse jedoch nicht abgehalten, da sofort eine Verständigung über die Strafe stattfindet; anders war es im Fall von sieben somalischen Asylbewerbern.
Lesen Sie hier: http://www.ilclandestino.info/2012/02/13/disordini-al-centro-di-soccorso-e-primaaccoglienza- di-pozzallo-parlano-i-rappresentanti-delle-forze-dellordine/

ZENTRUM ZUR BEOBACHTUNG VON RASSENDISKRIMINIERUNGEN IN PALERMO ERÖFFNET
“NOUREDDINE ADNANE”
Die Beobachtungsstelle wurde von den Comboni-Missionaren Palermo, Borderline Sicilia ONLUS, borderline-europe, Altro Diritto ONLUS, der Universität Palermo und dem Verein für juristische Studien zur Immigration (ASGI) gegründet und hat die Beobachtung, Analyse, Information und Sensibilisierung von Fällen rassistischer Diskriminierung in der Provinz Palermo zum Ziel. Insbesondere sollen Diskriminierungen untersucht werden, auf die die Einwanderer in ihrem Umfeld stoßen können, und Werkzeuge entwickelt werden, um das Phänomen kennenzulernen und aktive Maßnahmen in Übereinstimmung mit den europäischen und nationalen Rechtsvorschriften zu stärken; es sollen Informationen über Vorfälle von Diskriminierung und Rassismus gesammelt werden, vor allem zum Zwecke des Studiums, der Beobachtung und der Sensibilisierung und als Referenz für die Zusammenstellung und Weitergabe von Informationen, auch um gute Methoden für die Zusammenarbeit mit Behörden und Einrichtungen vor Ort zu entwickeln. Weitere Informationen erhalten Sie bei: palermonondiscrimina@gmail.com
Im Rahmen der Weiterbildung folgt ein Kurs in Asylrecht an der Universität Palermo, auch mit Blick auf die geplante Einrichtung einer „legal clinic“ in Zusammenarbeit mit dem Verein „Altro diritto“ und dem Doktorstudium in Menschenrechten, die bereits eine diesbezügliche Vereinbarung getroffen haben.

BEOBACHTUNG DER VERLETZUNGEN DES RECHTS AUF VERTEIDIGUNG
Zugang zur Prozesskostenhilfe
Der Zugang zum Recht auf Verteidigung, der für die Migranten immer schon schwierig war, wird seit einigen Monaten zusätzlich behindert durch Maßnahmen wie den Runderlass des Justizministeriums vom 27. Mai 2011, der als Reaktion auf eine Anfrage des Präsidiums des Berufungsgerichts Catania zum Wirksamwerden der Prozesskostenhilfe durch den Staat im Zivilprozess erfolgt ist. Das Berufungsgericht Catania ist zuständig für Berufungen gegen Ablehnungen internationalen Schutzes durch die regionale Kommission Siracusa und der Unterkommission im Aufnahmezentrum für Asylbewerber (CARA) in Mineo (das größte Aufnahmezentrum in Europa). Durch den Runderlass wird geklärt, dass die Prozesskostenhilfe im Zivilprozess ab dem Zeitpunkt der Bewilligung durch den Ausschuss der Anwaltskammer wirksam wird. Das Problem dabei ist, dass es sehr lange dauert, bis diese Entscheidungen gefällt werden, und meistens geschieht dies erst, wenn die Frist für die Einlegung der Berufung bereits abgelaufen ist. Der Berufungskläger ist daher gezwungen, die Kosten für die Gerichtsgebühren vorzustrecken, auch wenn er bedürftig ist. Oder aber sein Anwalt muss die Ausgaben für die Eintragung der Berufung im Prozessregister für seinen Mandanten vorstrecken. Die Situation wird noch erschwert durch einen neuen Beschluss des Ausschusses der Anwaltskammer Catania, mit dem alle Anträge von Asylbewerbern auf Prozesskostenhilfe wegen fehlender Ausweise ausgesetzt werden. Diese Frage war jedoch bereits durch einige Beschlüsse des Gerichts Catania geklärt worden, nach denen die von der Polizei ausgestellte Bescheinigung für die Asylbewerber als Ausweis gilt: denn wer aus seinem Land flieht, kommt ohne Papiere in Italien an.

Berufungen gegen verzögerte Zurückschiebungen
Der mangelnde Zugang zum Recht auf Verteidigung erstreckt sich auch auf die Fälle von Migranten, die in ganz Italien Berufung gegen eine sogenannte verzögerte Zurückschiebung einlegen (d.h. eine Zurückschiebung, die von den Polizeipräsidenten nach der Einreise nach Italien anstelle der traditionellen Abschiebung verfügt wird). Erst im Jahr 2011 ist Tausenden in Lampedusa angekommenen Migranten vor dem Friedensrichter in Agrigent, trotz Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen, das Recht auf einen effektiven Rechtsschutz (im vorliegenden Fall eine Annullierung der Zurückweisung) versagt worden. In solchen Fällen erklärt der Friedensrichter, nicht zuständig zu sein, befasst sich nicht mit der Sache (d.h. er nimmt keine Einschätzung der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen, die der Anfechtung zugrunde liegen, vor), da er der Ansicht ist, dass die Anfechtungen in die Zuständigkeit des Regionalen Verwaltungsgerichts fallen, das jedoch mehrfach erklärt hat, in dieser Angelegenheit nicht zuständig zu sein. Dies führt dazu, dass Tausende Asylbewerber, Schutzbedürftige, Angehörige von Unionsbürgern und im Allgemeinen alle Migranten, denen es nicht gestattet wäre, Italien zu verlassen oder sich in einem Zentrum zur Identifikation und zur Abschiebung (CIE) aufzuhalten, in Erwartung des Ergebnisses ihres Antrags auf internationalen Schutz Gefahr laufen, zurückgeschoben, monatelang in einem Abschiebelager festgehalten zu werden oder der Illegalität ausgesetzt zu sein. Glücklicherweise gibt es mutige Anwälte, die sich dafür einsetzen, dieser institutionellen Verschleierungstaktik, mit der der italienische Staat den Migranten de facto das Recht auf Verteidigung versagt, ein Ende zu setzen.
Im kommenden Monat werden wir näher auf diese Angelegenheit eingehen, u.a. mit Interviews von einigen der von den angesprochenen Vorfällen betroffenen Personen.

Unsere Blogs:
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Aus dem Italienischen von Renate Albrecht