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Freitag, 26. August 2011

Machtmissbrauch auf Lampedusa Wer schweigt, stimmt zu


Am 24. August 2011 gegen 21 Uhr fand die x-te “Landung” von Migranten an der Favorolo-Mole von Lampedusa statt. Es handelte sich um eine Gruppe von 58 maghrebinischen männlichen Migranten jungen und jüngsten Alters, unter denen auch unbegleitete Minderjährige sind, alle befinden sich in anscheinend gutem Gesundheitszustand. Im Augenblick der Landung waren auf der Mole Mitarbeitende von allen Hilfsorganisationen zugegen und die Vertreter von Institutionen, die zu solchen Situationen immer in Alarm versetzt werden.
Im Einzelnen waren vertreten Repräsentanten des INMP (Nationales Institut für Gesundheit, Migranten und Armut), vom ASP aus Palermo, vom Italienischen Roten Kreuz, von den Ärzten ohne Grenzen und des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR). Dabei handelt es sich um Organisationen, die den Auftrag haben, rechtzeitig und sofort nach der Landung jedes Vorkommnis anzuzeigen, das eine Gefährdung der öffentlichen Gesundheit bedeuten könnte – und eine rechtzeitige und adäquate Antwort darauf zu organisieren. Die Interventionen – von sozio-medizinischem Charakter unmittelbar nach einer Landung sollten gemäß den gültigen Vorschriften  Folgendes umfassen:
          Einen ersten Akt der Aufnahme und Sichtung, unmittelbar an der Anlegestelle der Boote, Aktivitäten auf der Mole von medizinischem und paramedizinischem Personal (CRI, Zivilschutz, GdF, PS, ASL, INMP Sizilien, Ärzte ohne Grenzen)
            Assistenz für Diejenigen, die dringend einen sanitären Eingriff mit einer stationären Unterbringung in einer geeigneten Einrichtung benötigen (z.B. eine Verlegung mit dem Hubschrauber nach Palermo)
          Die anschließende medizinische Assistenz wird im Ambulatorium INMP durchgeführt, das mit den Sanitäts-Einrichtungen in Palermo verbunden ist.
Am Abend des 24. August wurde während des Sichtungs- und Erste-Hilfe-Dienstes auf der Mole eine Ärztin des INMP von einem Polizisten in Zivil verbal und physisch angegriffen, der seine Erkennungsmarke auf Anfrage der Ärztin zeigte, nachdem er sie geschubst hatte. Derselbe Polizeibeamte, der Hand an die Ärztin gelegt hatte, hat sie von dem Patienten fortgezogen, den sie gemeinsam mit Kollegen von Ärzte ohne Grenzen untersuchte und hat ihr nicht erlaubt, die normalen Arbeiten der medizinischen Sichtung durchzuführen, Aktivitäten, die als öffentlicher Dienst zu qualifizieren sind. Der Patient, der eine schwere Verletzung am linken Kniegelenk hatte und eine quälende Wunde am rechten Arm, brauchte einen Transport zur Notaufnahme zwecks weiterer diagnostischer Untersuchungen mit Instrumenten, doch er wurde mit Gewalt gezwungen, dem Polizeibeamten bis zu dem Bus zu folgen, der ihn ins Lager Imbriacola fahren sollte. Derselbe Polizeibeamte schimpfte weiter über die Mitarbeiter von INMP und MSF und sagte, er habe keine Zeit zu verlieren und dass die Aktivitäten der Ärzte ihn behinderten. Es ist schon demütigend  genug, Zeuge zu werden, wie junge gerade gelandete  tunesische Migranten vorbeimarschieren, die keine Chance darauf haben, rechtzeitig alle die Hilfe zu bekommen, die sie benötigen,  die Praxis der “Landungen” und der Aufnahme, die sich ganz schnell in Gewahrsam verwandelt, ist inzwischen konsolidiert. Die Migranten werden in einer Reihe aufgestellt, um rasch an den Repräsentanten der Hilfsorganisationen vorbei defilieren zu können. In dieser kurzen Zeit kann man sie höchstens fragen, wie es ihnen geht, oder vielleicht sehen, ob sie Schwierigkeiten beim Laufen haben, und wenn sie Verletzungen haben, sie fragen, wie alt sie sind, um womöglich die auszusondern, die minderjährig erscheinen. Wenn sich jemand ihnen ohne Erlaubnis zu sehr nähert, riskiert er sogar eine Anzeige. Alle diejenigen, die mit Immigranten arbeiten, werden ständig von der Polizei überwacht. Die Polizeibeamten und die Mitarbeiter von “Aufnahme Lampedusa” zwingen die Migranten, sich in einer Reihe aufzustellen, damit es schneller geht und begleiten sie rasch zu dem Bus, der mit laufendem Motor darauf wartet, sie – wenn man sie für Maghrebiner hält – in das CPSA von Imbriacola zu bringen. Ihr Schicksal ist sowieso für alle gleich, unabhängig von ihrem Alter: Wenn sie Tunesier sind – auch Minderjährige – werden sie alle zusammen zum CPSA von Lampedusa gebracht, während lediglich diejenigen aus den Ländern südlich der Sahara zur Ex-Basis Loran geschickt werden. An all diesen Orten werden seit einiger Zeit unterschiedliche – doch alles irreguläre - Formen der administrativen “Unterhaltung” gepflegt, die außerhalb jeder von Gesetz oder Vorschrift vorgesehenen Form sind, und jeder Versuch des Protestes oder des Sich-Entfernens wird mit systematischen Schlägen sanktioniert. Das schwerwiegende Ereignis, das am Abend des 24. August stattgefunden hat - nicht einmal motiviert durch eine besondere Spannung aufgrund der Landung, welche sich angesichts der guten gesundheitlichen Konditionen der Migranten und des kollaborativen Klimas zwischen allen auf der Mole präsenten Organisationen heiter und rasch vollzog, könnte die wichtige Arbeit der Nicht-Regierungs-Organisationen und der nicht-konventionierten Helfer während der Landungen gefährden. Die Verhaltensweise des Polizeibeamten, der Hand an eine Ärztin gelegt hat, könnte den Straftatbestand einer Nötigung darstellen, nach Art 610 des Strafgesetzbuches, nach dem “jeder, der mit Gewalt oder Drohung andere zwingt, etwas zu tun, zu tolerieren oder zu unterlassen, bestraft wird mit bis zu 4 Jahren Gefängnis .” Jenseits aller eventuellen strafrechtlichen Aspekte des Falles erscheint es einmal mehr evident, wie man die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen und der nicht direkt mit dem Innenministerium konventionierten Organisationen, die im Moment der Landung an der Mole sind, auf eine unnütze Farce reduzieren will, eine formale Prozedur, die weder die Gesundheit noch die Rechte der Migranten schützen kann. Dieses schwerwiegende Ereignis ist nicht als eine isolierte Geste zu verstehen, sondern lässt sich zurückführen auf eine Polizei-Praxis, die nur dazu tendiert, die Linie der Regierung und des Innenministeriums zu bestätigen, die Linie der “Bosheit” oder – wie wir sagen würden – der Negation der Menschenwürde, vor allem was die Landungen von Tunesiern betrifft,  die alle miteinander zu kollektiven Rückführungen verdammt sind, in zusammenfassenden Prozeduren, durch die Zentren der Haft hindurch, vor allem Pozzallo, und dann zum Flughafen von Catania, unter Verletzung des Schengener Abkommens von 2006. Keine bilaterale Übereinkunft darf dem Recht der Menschen auf gesundheitliche Unversehrtheit entgegen stehen, den Rechten Minderjähriger, die von internationalen Konventionen bestätigt werden, dem Verbot von kollektiven Abschiebungen, das außer von der CEDU auch von der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bestätigt wird. Das sind bindende Normen für jedermann, auch für die italienische Polizei, jenseits der geheimen Übereinkommen, die von Maroni mit verschiedenen Herkunfts- und Transit-Ländern geschlossen wurden - wie Tunesien, Ägypten und Marokko - Abkommen, die summarische Zurückweisungen an den Grenzen vorsehen, wie man es auch so schnell wie möglich mit dem libyschen Übergangs-Komitee vereinbaren möchte. Wer den Grundrechten der Menschen effektive Anerkennung verschaffen will, vom Recht auf Verteidigung und Berufung bis zum Recht auf Gesundheit oder den Rechten der unbegleiteten Minderjährigen, wer es wagt, die Mauer des Schweigens zu brechen, welche die Handhabung der “Landungen” in Lampedusa umgibt, bildet lediglich eine “Behinderung”. Eine “Behinderung”, wenn es sie denn gäbe, mit der wir uns auch weiterhin in jedem Fall einmischen werden , ohne uns von rechtswidrigen und bedrohenden Verhaltensweisen  einschüchtern zu lassen ,wie sie sich bei diesem letzten Vorfall manifestiert haben. Es wäre an der Zeit, dass die verschiedenen Zeugen dieser gravierenden Vorkommnisse endlich die Mauer des Schweigens brechen, welche die militärische Handhabung der Landungen von Lampedusa umgibt , und zur Anzeige bringen, was sie jeden Tag sehen.

Fulvio Vassallo Paleologo, Universität von Palermo
(aus dem Italienischen von Alexandra Harloff)