Von Alessandra Ballerini - 25. Juli 2011 Lampedusa – Mission mit Terre des Hommes. Ex – Militärbasis Loran. Heute sind 169 Minderjährige in der Ex- Militärbasis Loran eingeschlossen. Ich war seit drei Wochen nicht auf der Insel und es gibt viele neue Gesichter. Zwei Mitarbeiterinnen von Terre des Hommes, die sie jeden Tag besuchen, stellen sie mir vor. Said ist 14 Jahre alt und kommt aus Kamerun.
In Libyen hat er allein mit seiner Mutter gelebt (sein Vater ist gestorben), seit er vier Jahre alt war. Dann ist der Krieg ausgebrochen und eines Tages fand er seine Mutter nicht mehr zu Hause vor, wo sie sonst immer auf ihn wartete. Er bleibt einen Augenblick stehen, guckt uns an, tippt auf seine Brust und murmelt: Aber in meinem Herzen weiß ich, dass sie noch lebt. Nach einigen Tagen sind die von Gaddhafis Polizei – die mit der grünen Binde um den Arm - gekommen und haben ihn aus dem Haus geholt. Sie haben ihn in ein Lager gebracht und dann haben sie ihn in ein Boot steigen lassen. Ein Heranwachsender, der plötzlich gewachsen ist. Ganz lange, dünne Beine. Nicht enden wollendes Lächeln, arglos und sonnig. Trotz allem. Es verlischt nur, wenn er von der Reise berichtet. Dann senkt er den Blick, versteckt die Gefühle unter dem Schirm seiner kleinen Militärkappe und neigt den Kopf. Er erinnert sich nicht, es gelingt ihm nicht, Einzelheiten zu erinnern (wie viele sie auf dem Boot waren, wie lange die Reise gedauert hat). Aber erinnert sich gut an das Meer, soweit die Augen reichten, die Angst, die Krämpfe seines zwischen vielen anderen eingezwängten und eingedrückten Körpers, den unstillbaren Durst. Heute möchte er nur seine Mutter wieder umarmen können. Neben ihm Dew, ein 17jähriger nigerianischer Junge. Er ist uns sofort entgegen gekommen, als wir herein kamen. Er ist traurig und besorgt. Er hat keine Nachrichten mehr von seinem Freund Goodwin, der mit ihm in Libyen gelebt hat. Er hat Angst, dass er im Krieg umgekommen sein könnte. Er würde ihn gern anrufen, aber das kann er nicht. Das ist eine weitere der unsinnigen Torturen, die den Gefangenen von Loran auferlegt werden: Es gibt keine Telefonkabinen. Es gibt die Anschlüsse ans Netz, sie haben alle Arbeiten kunstgerecht verrichtet, sie haben lediglich „vergessen“, auch die Telefone und die Kabinen anzubringen. So können die Minderjährigen, die in diesem Zentrum gefangen gehalten werden, ihren Familienmitgliedern nur dann Nachrichten geben und von ihnen welche empfangen, wenn irgendein Mitarbeiter von Lampedusa Accoglienza sich entschließt, ihnen ein Handy zur Verfügung zu stellen. Und dann werden sie alle der Reihe nach aufgestellt, bekommen Nummern zugewiesen (eine lange und komplizierte Aktion, wenn im Zentrum mehr als 300 seit Wochen darauf warten, zu Hause anrufen zu können, um zu sagen, dass sie am Leben sind und hoffen, ebensolche Nachrichten von ihren Angehörigen zu erhalten). Aber das Problem besteht darin, dass es in diesem Zentrum schlechten Empfang gibt und man mit dem Handy hier fast nie etwas hört. So kann es geschehen – wie es einem anderen nigerianischen Jungen tatsächlich passiert ist – der zwanzig Tage darauf warten musste, nach Hause anrufen zu können, um dann zu hören, dass seine Mutter gestorben ist, dass die Beisetzung schon vorüber ist – und dass dann das Netz zusammen bricht. Kein gemeinsames Weinen, nur ein spätes Gebet. Dew erinnert sich etwas besser an seine Reise, er war im selben Boot wie Said. Er erinnert, dass glücklicherweise keiner seiner Reisekameraden während der Überfahrt umgekommen ist und dass die Reise zwei Nächte gedauert hat. Und dann erinnert er sich an das Meer. „Ich sah nur Meer um mich herum und das hat mir Angst gemacht.“ „Ihr,“ sagt er und macht dabei eine weite Bewegung mit der Hand, „habt uns das Leben gerettet und dafür danke ich euch, aber das Meer macht uns immer noch Angst und diese Angst lässt uns nicht schlafen.“ Das liegt auch daran, dass das Zentrum, in dem diese Jungen festgehalten werden, die zwei oder drei Tage Überfahrt unter schrecklichen Bedingungen mitgemacht haben, die traumatisiert und terrorisiert vom Meer sind, dass dieses Zentrum vom Wasser umgeben ist, direkt am Meer gelegen ist. Wieder endloses Meer. Und so zieht er sich das Unterhemd aus (der einzige Schutz gegen das Risiko, buchstäblich von Mückenstichen zerfressen zu werden) und hängt es als Schutz in das kleine Fensterchen des Schlafraums und versucht die Erinnerungen und die Ängste fort zu scheuchen. Aber das gewalttätige Meer hört man von jeder Ecke aus – und nachts macht es noch mehr Angst. Deswegen ist es fast unmöglich zu schlafen und tagsüber scheint der Kopf zu explodieren.27. Juli
Said kommt uns lächelnd entgegen und wir lächeln noch mehr als er. Sie haben gerade „als Überraschung“ 71 Minderjährige auf eine Fähre gebracht, die sie in achtstündiger Fahrt nach Porto Empedocle bringen soll und später vielleicht weiter nach Kampanien. Wir sind an die Mole gelaufen, um uns von „unseren“ Jugendlichen zu verabschieden, die gezwungen sind, ein weiteres Mal mit dem Meer und ihren Ängsten zu kämpfen, um sie zu beruhigen und uns von ihrer psycho-physischen Gesundheit zu überzeugen, doch das Schiff war schon losgefahren. Wir wissen nicht, ob wir sie noch einmal aufspüren können, deswegen suchen wir, als wir nach Loran zurück kehren, sofort unsere „Lieblinge“, diejenigen, die uns ihr Herz ausgeschüttet haben und zu denen sich eine Beziehung fast wie eine Freundschaft entwickelt hat. Deswegen sind wir glücklich, als wir Said wieder umarmen können. Er zieht zwei beschriebene Blätter aus der Tasche. Er hat einen Brief an seine Mutter vorbereitet und gibt ihn mir. Er möchte, dass wir ihn lesen. Wir sind gerührt. Er möchte, dass seine Mutter erfährt, wie sehr er sie liebt und wie sehr er sie braucht, er möchte, dass sie erfährt, dass er am Leben ist und immer nach ihr sucht. Er möchte, dass sie diesen Brief bekommt, doch er weiß nicht, wo sie ist und ob sie überlebt hat („aber im Grund meines Herzens weiß ich, dass sie lebt“). Also biete ich ihm an, dass ich seinen Brief auf meiner homepage veröffentliche, so dass alle ihn lesen können in der Hoffnung, dass auch sie ihn lesen kann oder wenigstens unterrichtet werden kann, dass er am Leben ist und sie sucht. Die Idee gefällt ihm. Er schenkt mir eines von seinen strahlenden Lächeln. Hier ist die Übersetzung des Briefs, den SAID ISLAM YACOUB, geboren am 17.9.1997 in Kamerun, seiner Mutter KATIADOU geschrieben hat. Das letzte Mal haben sie sich am 17. März in Sebha in Libyen gesehen.
24. Juli 2011
An meine Mutter
Die Liebe eines Kindes für seine Mutter. Ich schreibe diesen Brief, um dir zu sagen, dass ich dich liebe. Seitdem wir uns getrennt haben, denke ich Tag und Nacht an dich. Die Nacht ist sehr lang für mich, so weit weg von dir. Du bist die schönste Mutter der Welt, alle Kinder träumen davon, dich auf der Erde zu haben, du bist die beste Mutter, die ich mir je vorstellen könnte. An einem Tag wurde ich von dir getrennt, Mami. Weißt du, wenn du eine Blume wärst, würde ich dich in mein Herz pflanzen und mit meinen Händen begießen. Wenn ich an dich denke, fangen die Tränen an zu laufen. Wenn ich jetzt hier ohne dich bin, fühle ich mich allein auf der Welt und es ist so, dass du für mich der Mensch bist, der am meisten für mich zählt, die liebste Person auf der Welt. Ich erträume mir, dass ich dich eines Tages heil und gesund wieder treffe, deine kleinen Kinderreime und Lieder helfen mir auf und geben mir die Hoffnung, ein Kind zu sein, dass von seiner Mutter geliebt wird. Ich möchte wie die anderen Kinder der Glücklichste sein, möchte mich über deine Gegenwart freuen, ich verspreche dir, dass ich weiter mit all’ meinen Kräften nach dir suchen werde, damit ich dich wieder finde. Ich weiß, dass du lebst und an mich denkst, in allem, was ich tue, werde ich mich immer darauf konzentrieren, zum barmherzigen Gott zu beten, ich weiß, dass DU mich anhörst, ohne zu schlafen oder schläfrig zu werden. DU bist da in DEINEM Thron. Zwischen allen Kindern hilf mir, meine Familie wieder zu finden, ich möchte der glücklichste der Welt sein und es wäre ein unvergesslicher Tag in meinem Leben. Hilfst du mir, von diesem Bratrost herunter zu kommen?
Said Islam Yacoub, 14 Jahre, vaterlose Halbwaise, einziger Sohn.
Von der homepage der Anwältin Alessandra Ballerini: http:// www.Alessandraballerini.com (aus dem Italienischen von Alexandra Harloff)