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Montag, 25. Juli 2011

Flüchtlinge. Rechtswidriges Vergessen

von Antonio Mazzeo.
Migranten befinden sich auch nach Erhalt eines Aufenthaltstitels noch im Aufnahmezentrum für Asylantragsteller. Gegen den Leiter des Genossenschaftskonsortiums „Sisifo“, die das Aufnahmezentrum für Asylantragsteller (Cara) in Sant’Angelo di Brolo (Messina) betrieb, ist Strafantrag gestellt worden. Die Anschuldigung lautet auf schweren und fortgesetzten Betrug. Diese Anklage hat die Staatsanwaltschaft beim Gericht Patti gegen Cono Galipò erhoben, den rechtlichen Vertreter des sozialen Konsortiums „Sisifo“, das eineinhalb Jahre lang (von September 2008 bis Mai 2010) das Aufnahmezentrum für Asylantragsteller (Cara) in Sant’Angelo di Brolo an der tyrrhenischen Küste der Provinz Messina betrieben hat. Gegen Galipò, einen der wichtigsten Operateure im Bereich der Aufnahme von Migranten in Italien, ist Strafantrag gestellt worden (die Vorverhandlung ist für den kommenden 19. Oktober angesetzt).Staatsanwältin Rosa Raffa ist entschieden: „Der Vertreter des Konsortiums – heißt es in der Anklageschrift – hat sich mit mehreren, durch denselben Vorsatz verbundenen Taten“ unrechtmäßig bereichert. Laut Staatsanwaltschaft hat sich Galipò „pro Tag für jeden Nicht-EU-Bürger 40 Euro plus Mehrwertsteuer veruntreut, mit entsprechendem Schaden für die Präfektur Messina und das Innenministerium“. Es war ein einfaches System, man musste lediglich „die Entlassung der Flüchtlinge aus dem Aufnahmezentrum nicht sofort nach der Entscheidung der zuständigen Kommission in Trapani und nach Ausstellen des Aufenthaltstitels in Gang setzen. Laut den Untersuchungsführern betrug der „unrechtmäßige Aufenthalt“ von 248 Asylantragstellern aus Afrika, dem Nahen Osten und Südostasien im Zentrum insgesamt 11.707 Tage und führte zu „ungerechtfertigten“ Ausgaben in Höhe von 468.280 Euro (+ MwSt.) zu Gunsten des Konsortiums. Einige der Flüchtlinge haben rekordverdächtige Zeiten erreicht: 33 Männer und Frauen sind im Aufnahmenzentrum Sant’Angelo di Brolo mehr als 100 Tage nach Gewährung des Aufenthaltstitels festgehalten worden, Extremfälle waren Mahamuud A. (309 Tage), Semere A. (288), Abdullah A.M. (231). In den Untersuchungsunterlagen sind die Personalien der „Gäste“ unvollständig und einige Namen sind falsch transkribiert worden. Keiner von ihnen wurde daher von den Ermittlern als Geschädigter ausgemacht und kann somit nicht vor Gericht auftreten. Galipò rechtfertigt das Vorgehen des Betreibers des Aufnahmezentrums unterdessen mit der Begründung, dass „die Flüchtlinge ganz einfach darauf gewartet haben, von einem Zentrum in ein anderes verlegt zu werden“. Der Betreiber kann auf die uneingeschränkte Solidarität der Geschäftsleiter von LegacoopSicilia und LegacoopSociali zählen, die in einer Mitteilung ihr „volles Vertrauen“ in die Justiz zum Ausdruck gebracht haben, die „sicherlich Klarheit schaffen und den vorschriftsmäßigen Betrieb des Zentrums durch das Konsortium bestätigen wird, der in jeder Hinsicht von Grundsätzen der Transparenz, Vorschriftsmäßigkeit und Professionalität geprägt war, insbesondere bei der Unterstützung der Einwanderer, denen gegenüber sich Cono Galipò mit tiefer Liebe und Leidenschaft und im Sinne der Werte der Solidarität verhalten hat…“. Neben dem Angeklagten (ehemals Gewerkschafter bei der Cgil) zeigt sich auch die sizilianische Gewerkschaft Cisl überzeugt, dass das Aufnahmezentrum Sant’Angelo „exzellente Arbeit sowohl in Hinblick auf Effizienz als auch auf Qualität geleistet hat und sogar eine soziale Integration von anwohnender Bevölkerung und Gästen erreicht hat“. Nach der Entscheidung des Innenministers (September 2008), das kleine Zentrum „vorübergehend und längstens bis zum 31. Dezember des laufenden Jahres“ zu nutzen, um „für kurze Zeiträume ausländische Bürger“ aufzunehmen, die „aus Erstaufnahmeeinrichtungen kommen und daher bereits identifiziert sind und auf die Legalisierung ihres Status warten“, hat jedoch ein Teil der Anwohner schwere Proteste gegen die Migranten inszeniert, die von lokalen Beamten und Politikern unterstützt wurden. Mit der Einstellung einiger Anwohner löste sich die schlechte Stimmung auf und das Zentrum wurde von der Präfektur Messina durch Verlängerungen bis zum Mai 2010 erhalten. Mit dem Vertrag wurde dem Konsortium „Sisifo“ der Betrieb „aller Maßnahmen hinsichtlich der Aufnahme von 100 Ausländern, und zwar Allgemein- und Gesundheitsversorgung, Mahlzeiten, Schlafplatz mitsamt Wechsel der Bettwäsche, Produkte für die Körperpflege, Kleidung, Genussmittel und Reinigungsdienste“ übertragen. Maßnahmen, mit denen die Gäste der Einrichtung nicht immer zufrieden waren. „Einige der Flüchtlinge haben sich beschwert, weil die täglichen Sets mit Handtüchern, Seife und Zigaretten manchmal nicht gewährleistet waren“, erzählt die Migrationssoziologin Tania Poguish. „Noch schwerwiegender ist die Untauglichkeit der Struktur, in der das Aufnahmezentrum untergebracht war, ein Gebäude im Besitz des Justizministeriums, das als Gerichtsgebäude vorgesehen war. Das Zentrum wirkte wie ein verschlossener, unzugänglicher Ort. Am Eingang war ein gepanzertes Tor und die Gegend wurde von Polizisten überwacht. Die Gäste, darunter viele Frauen und Kinder, konnten es nur zu bestimmten Zeiten verlassen.“ Ein weiterer Nicht-Ort, an dem Flüchtlinge und Migranten unsichtbar gemacht werden sollten, eine der unzähligen verpassten Gelegenheiten, die Prinzipien von Solidarität und Recht auf Aufnahme zu leben. Nach der Schließung ist das Zentrum in Sant’Angelo di Brolo in eine Wohnanlage für pflegebedürftige Senioren und Behinderte umgewandelt worden, mit deren Betrieb die Genossenschaft „Servizi sociali“ aus San Piero Patti beauftragt wurde; rechtlicher Vertreter dieser Genossenschaft ist, wie sollte es anders sein, Cono Galipò, und der Geschäftsführer ist sein Sohn Carmelo, Gemeinderat der Opposition in Capo d’Orlando. Cono ist unermüdlich und hegt viele politische Leidenschaften. Ehemals Mitglied in der Kommunistischen Partei Italiens PCI, Gemeinderat für die Sozialistische Partei Italiens PSI und als Unabhängiger für Forza Italia, dann Margherita und heute in der Demokratischen Partei PD (aus dem Lager um den Abgeordneten Francantonio Genovese, ehemals Bürgermeister von Messina), ist Galipò in Capo d’Orlando in der Tourismus- und Hotelbranche aktiv und Vorsitzender des sizilianischen Leukämie-Vereins Leucemia Onlus sowie von T Sanità, ein Unternehmen der Legacoop, das landesweit im Bereich der Gesundheitsversorgung tätig ist. Das wichtigste Amt jedoch ist das des stellvertretenden Vorsitzenden des Konsortiums „Sisifo“, das aus 25 Sozialgenossenschaften aus halb Sizilien besteht, die in der Lage sind, das ganze Spektrum der Gesundheits- und Sozialdienste zu Gunsten von Behinderten, Senioren und Kranken im Endstadium abzudecken und Unterkünfte für Minderjährige, Kinderhorte, therapeutische Gemeinschaften und Aufnahmeeinrichtungen für Einwanderer zu betreiben. Dank „Sisifo“ wurde Cono Galipò zum Geschäftsführer von Lampedusa Accoglienza ernannt, einer zusammen mit BlueCoop (Consorzio Nazionale Servizi di Bologna) gegründeten Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die seit Juni 2007 das Ersthilfe- und Erstaufnahmezentrum (CSPA) in Lampedusa betreibt. Mehr als 44.000 Gäste in den ersten zweieinhalb Jahren des Betriebs, dazu kommen mehrere Zehntausend Durchgangsgäste im ersten Halbjahr 2011. Lampedusa, das für 804 Personen zugelassen ist (doch dort sind bis zu 2.000 zusammengedrängt untergebracht worden), bringt der GmbH Einnahmen in Höhe von mehr als zweieinhalb Millionen pro Jahr. Für jeden Migranten zahlt der Staat täglich 33,42 Euro, 16 Euro weniger als an den vorherigen Betreiber. Lampedusa Accoglienza hat seine Konkurrenten mit einer Preissenkung von mehr als 30% aus dem Rennen geworfen, was einige Einwände hervorgerufen hat. „Wir arbeiten mit großen Versorgungszentren, was uns größenbedingte Kostenvorteile bringt“, erwidert Galipò. „Die Telefonkarten beispielsweise kaufen wir direkt von der Telefongesellschaft TIM, sie gelten für Telefonate im Wert von 5 Euro, kosten uns jedoch weniger. Außerdem verwenden wir Arbeitsverträge für die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt und anderer Art, wodurch wir von Sozialabgaben entlastet werden.“ Höhere Einsparungen und höhere Prekarietät der Beschäftigten.

„Die Situation des Zentrums in Lampedusa ist immer weniger festgelegt“, kommentiert der Jurist Fulvio Vassallo Paleologo von der Universität Palermo. „Erst war es eine Erstaufnahmeeinrichtung und, nach einer kurzen Episode im Februar 2009 als Zentrum zur Identifikation und zur Abschiebung (CIE), ist es ab dem 2. Mai 2011 erneut de facto in ein Haftzentrum umgewandelt worden, in dem mehr als 200 tunesische Einwanderer in Verwaltungshaft festgehalten wurden, bis die Formalitäten für ihre Abschiebung erledigt sein würden. Heute werden die Personen auf unbestimmte Zeit in geschlossenen Einrichtungen untergebracht, wodurch ihre persönliche Freiheit wochenlang nur infolge von Polizeimaßnahmen de facto eingeschränkt wird.” Unerträgliche Zustände, Aussetzen der Rechte, Überfüllung, diffuse Unsicherheitsgefühle – so kommt es in den “Aufnahme”zentren zu Protesten, Spannungen, Selbstverletzungen. Denken wir daran zurück, was am 21. Februar im Zentrum von Lampedusa nach einer heftigen Auseinandersetzung unter den Gästen, die wegen des langen Anstehens für die Mahlzeiten aufgebracht waren, vorgefallen ist. Oder an das Ersthilfe- und Erstaufnahmezentrum CSPA in Cagliari Elmas, als am 11. Oktober 2010 etwa Hundert Einwanderer die im Militärbereich des Flughafens geschaffenen Unterkünfte besetzten, während ein Dutzend Personen über die Flugpiste fliehen konnten, die anschließend für den Flugverkehr gesperrt wurde. Die Revolte, die ein verzweifelter Versuch war, die Verlegung einiger Einwanderer in ein anderes Zentrum in Italien zu verhindern, wurde von den Sicherheitskräften brutal mit Angriffen und Tränengas niedergeschlagen. “Elmas ist schlimmer als ein Gefängnis, mit Gitterstäben, 3 Meter hohen Zäunen, Überwachungskameras; der Platz ist äußerst gering und auch der Hofgang, der Häftlingen in normalen Gefängnissen gewährt wird, ist hier praktisch unmöglich”, klagt der Koordinator von Libera Sardegna, Giampiero Farru an. Seit August 2010 wird das haftähnliche Zentrum in Cagliari vom Konsortium “Sisifo” betrieben, das eher erfolglos versucht hat, die Kontrolle über die berüchtigten Zentren zur Identifikation und zur Abschiebung in Turin und Ponte Galeria (Rom), des gemischten Zentrums zur Identifikation und Abschiebung und Aufnahmezentrum für Asylantragsteller in Gradisca d’Isonzo und der Erstaufnahmeeinrichtung in Borgo Mezzanone (Foggia) an sich zu reißen. Den sizilianischen Genossenschaften in Castroreale (Messina) ist ein besseres Schicksal wiederfahren, wo im Februar 2011 ein Dreijahres-Projekt zur Unterbringung einiger Flüchtlingsfamilien in der ehemaligen Kaserne der Carabinieri bewilligt wurde. Das an “Sisifo” übertragene Zentrum, das mit 714.471 Euro vom Innenministerium und mit 179.361 Euro von der Gemeinde finanziert wurde, hat 15 Betten. Minimale Unterbringung zu maximalen Preisen: Castroreale führt zu einer Pro-Kopf-Ausgabe von 55,2 Euro pro Tag, 22 Euro mehr als in Lampedusa und 15 Euro mehr als im Aufnahmezentrum in Sant’Angelo di Brolo, gegen das ermittelt wird. Der Migrantennotstand scheint also immer mehr ein Geschäft zu werden für diejenigen, die in der „Sozialbranche” arbeiten.

Antonio Mazzeo

Dieser Artikel wurde in der Zeitschrift Left Avvenimenti, Nr. 20 vom 22. Juli 2011 veröffentlicht.

Übersetzung aus dem Italienischen: Renate Albrecht