„Was
die Menschen in Europa nicht verstehen, ist, dass es für einen
Geflüchteten,
der in Libyen ankommt, weniger gefährlich ist, die Flucht
über das Mittelmeer zu wagen, als zurück in sein Ursprungsland
zurück zu gehen,“ sagt A., ein junger Mann aus dem Senegal, der
vor zwei Jahren nach Italien gekommen ist. Wie viele andere
Senegalesen verfolgt er die Rettungsmanöver im Mittelmeer von seinem
Fernseher aus. Dies tut er mit gemischten Gefühlen: Einerseits
empfindet er eine vorübergehende Erleichterung, andererseits kommt
in ihm Wut und Ohnmacht auf. „Wer noch nie in Libyen war, kann sich
nicht im Entferntesten vorstellen, wie es ist, dort um sein Überleben
zu kämpfen. So wie jeder hier in Europa ein Handy mit sich trägt,
trägt jeder Libyer
jeglichen Alters eine
Waffe mit sich – stets griffbereit. Aber das will hier in Italien
niemand hören,“ erzählt er weiter.
Die Handelsflotte Jaguar St. John’s im Hafen von Pozzallo - Ph. Lucia Borghi |
Wovon
die Medien in den letzten Tagen berichten, sind die zahlreichen
Ankünfte
und
Rettungen von
13000 Migrant*innen, die in wenigen Tagen an
den Küsten von Silzilien, Kalabrien,
Sardinien und Apulien gelandet sind, gemeinsam
mit den Leichen derer, die die Überfahrt nicht überlebt haben.
Warum wieder so viele die Küste Italiens erreichen wurde
nicht erörtert.
Stattdessen gehen wieder viele,
zu viele Fotos
und Videos
um die Welt, im Wettlauf um die
eindringlichste und dramatischste Meldung.
Diese Fotos berücksichtigen nicht die Persönlichkeitsrechte der
Aufgenommenen, noch machen sie Halt vor fremden Schmerz. Die mediale
Aufmerksamkeit erlischt, sobald die Migrant*innen auf dem Festland
angelangen.
Hellhörig wird
die Öffentlichkeit erst
wieder bei
einem Gewaltereignis. Die erhöhte Zahl der Neuankömmlinge steuert
die Diskussion gleich wieder auf die Verwaltung der Aufnahme. Keine
Schlagzeile wert sind
die neuen Abkommen oder die sich häufenden Fälle von Brutalität
und das Festhalten der Migrant*innen in Libyen, welche vermutlich die
Abreisen in der letzten Zeit gestoppt haben.
Die
Handelsflotten, die humanitären Einsatzschiffe
und die
militärische Marine
haben Dutzende
Rettungsaktionen innerhalb weniger Stunden durchgeführt.
Am 24. August wurde
ein neues Abkommen zwischen der Militärmission „Sophia“ und der
libyschen Küstenwache getroffen, das eine entsprechende Ausbildung
der Küstenwache von Seiten der Mitglieder der
Operation „Eunavformed“ vorsieht.
Ausgerechnet die libysche Küstenwacht ist verantwortlich für den
Angriff auf das Schiff „Bourbon Agros“ von Ärzte
ohne Grenzen
am 17. August diesen Jahres. Dem Angriff waren Schüsse
vorausgegangen,
die auf Menschen gerichtet waren. Bis
heute steht das Schiff still und hat keine Rettungsaktionen mehr
durchführen können.
Das
Abkommen mit der libyschen Küstenwacht spiegelt einen politischen
Willen wieder, der Zurückweisungen, Rückführungen und Strategien
zur Festnahme der Migrant*innen vermehren will, bevor sie an
europäische Küsten gelangen. Mit diesen Vorhaben sind die
europäischen Regierungen mehr beschäftigt, als Geflüchteten Schutz
zu gewährleisten.
Dieser
politische Wille
ist auch vom
Vizepräsidenten
der Europäischen Kommission Frans Timmermans bestätigt
worden. Bei
einem Treffen mit
der
Bevölkerung von Syrakus im griechischen Amphitheater hat
Timmermans Fragen zur Migration beantwortet und erklärt, dass
Europa sich bemühen müsse, „ihnen zu Hause zu helfen“, die
eigenen Grenzen zu schützen, Asylsuchende von
Wirtschaftsgeflüchteten zu unterscheiden und hart gegen afrikanische
Staaten durchgreifen werde, die nicht die Rückführungsabkommen
akzeptierten.
Timmermans
verteidigte auch das Abkommen das
mit der Türkei abgeschlossen wurde.
Er lobte mit vielen leeren Worten die Aufnahmebereitschaft der
Italiener*innen,
erwähnte aber mit keinem konkreten Wort, wie man das Dubliner
Abkommen verändern
könnte. Das totale Versagen des Hotspot-Verfahrens wurde genauso
ignoriert wie die gescheiterte Verteilung der Migrant*innen auf die
verschiedenen europäischen
Mitgliedstaaten.
Timmermans
steht für ein Europa, in dem aus
Angst, den Rechtspopulisten immer mehr Raum
zu
überlassen, deren
Positionen übernommen werden,
auch
wenn mit weniger vulgären und offen rassistschen Tönen.
In
Pozzallo wurden
an zwei
aufeinanderfolgenden
Tagen zwei
Ankünfte verzeichnet.
Das englische Schiff „Fast Sentinel“ musste in der Nacht vom 30.
August von seinem ursprünglichen Ziel nach
Porto
Empedocle umgeleitet werden, weil der Hotspot von Pozzallo die 300
Migrant*innen nicht mehr hätte aufnehmen können. Dort warten seit
Wochen hunderte von unbegleiteten
Minderjährigen,
Mädchen und Jungen, darauf, versetzt
zu werden.
Das Fehlen von geeigneten Unterbringungsmöglichkeiten rechtfertigt
weder
Rechtsverletzungen noch das willkürliche und illegale Festhalten in
ungeeigneten Räumen, die
dazu noch nicht nach Geschlechtern und
Alter
getrennt sind.
Wir
wissen, dass in den Aufnahmezentren oft sogar Matratzen und der
physische Ort zum Schlafen fehlen, die Überfüllung ist inzwischen
aufgrund von vermehrten Ankünften chronisch geworden. Wir
trafen junge Geflüchtete,
die vergeblich auf einen
geeigneten verfügbaren Unterbringungsort
warten,
der ihnen von Gesetzes wegen zusteht. Ihnen ist nicht bewusst, dass
ihr Aufenthalt in den überfüllten Hotspots nicht rechtens ist,
insbesondere nicht für so einen langen Zeitraum. „Wir bekommen
zwar regelmäßig Sprachunterricht,
Kleidung und Essen. Aber das Warten ist
hart und macht uns fast krank.
Andere werden verteilt, nur wir müssen hier ausharren. Wir sind
einfach zu viele,“ sagt A aus Gambia. Er übersetzt spontan auch
für seine Freunde aus Mali und Eritrea. „Ich spreche
viele
Sprachen. Ich möchte studieren.
Einige italienische Worte kann ich schon. Meine Freunde hier nicht,
sie waren noch nie in einer Schule. Sie können sich nicht
ausdrücken,
weil sie es nie gelernt haben.“ Die Freunde von A werden wohl noch
warten müssen, bis sie an einen Ort kommen, wo sie nicht mehr nur
Zahlen
sind, sondern Personen. Anders als gleichaltrige Europäer*innen,
dürfen sie sich auf dem Kontinent nicht frei bewegen, und so bleiben
ihr Träume und Hoffnung ebensolche.
Die
473 Migrant*innen, die gestern in Pozzallo angekommen sind, haben den
gleichen bürokratischen
Weg
beschritten
wie die
692,
die 24 Stunden vorher dort aufgeschlagen waren.
Unter ihnen waren ca. 40 unbegleitete Minderjährige und ca. 20
schwangere Frauen. Mit einer Verspätung von vier Stunden finden die
Ankunftsmanöver von dem Handelsschiff Jaguar St. John’s statt, die
am Donnerstag um 8 Uhr stattfinden sollten. Die
Verzögerung hatte sich aufgrund der nötigen medizinischen
Untersuchungen von Seiten der ärztlichen Behörde der Marine an Bord
ereignet.
Wie es scheint, war auf dem Schiff selbst kein medizinisches Personal
vorhanden. Routineuntersuchungen konnten deshalb
nicht
gleich
nach der Rettung durchgeführt
werden. Am Hafen warteten
Ordnungskräfte zusammen mit Frontex-Beamt*innen
und Mitarbeiter*innen
vom Humanitären Hilfswerk, des Roten Kreuzes, von Save
the Children,
von
der Internationalen
Organisation für Migration (IOM),
Terres
des Hommes, Emergency und
MEDU
(Ärzte
für Menschenrechte).
Auf
dem Schiff waren
Menschen
vieler
Nationalitäten: aus Gambia, Guinea, Mali aber auch aus Bangladesch,
Senegal, Ägypten, Syrien, Somalia, Kamerun, Nigeria, Tunesien und
Marokko. Sie sind in Libyen abgereist,
genau wie die Geflüchteten
am Tag zuvor. Vom Hotspot werden sie verlegt nach Kampanien, in die
Abruzzen, Molise und Zentral-Norditalien.
Die Nacht haben ca.
hundert Menschen
noch im Zelt verbracht, das die Küstenwacht aufgebaut hatte. Unter
ihnen Frauen und Kinder, syrische und eritreische Familien. So ist es
auch in Augusta passiert, wo
sich seit
dem 31. August ca.
70 unbegleitete Minderjährige
in Zelten wiederfinden müssen,
wo bereits 600 Menschen schlafen.
Auch gestern,
nachdem die Ärzte ihr OK gegeben hatten, begann der lange Umzug in
der heißen Mittagssonne. Einer nach dem anderen wurde unerbittlichen
Fragen seitens der Polizei und
stets aktiver Frontex-Beamt*innen ausgesetzt
und
Kontrollen mit Metalldetektoren
unterzogen. Zeugen wurden isoliert, Schleuser festgenommen. Die Busse
wurden beladen, die sich Richtung Hotspot aufmachten, weit weg von
aufmerksamen
Blicken.
Die Flüchtenden, die gerade noch dem Tod entkommen konnten, erwartet
nun die Dunkelheit und Ungewissheit, die
noch viel zu oft gemeinsam mit der mangelnden Gewährleistung von
Schutz auftritt.
Lucia
Borghi
Borderline
Sicilia
Übersetzung
aus dem Italienischen von Alma Maggiore