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Freitag, 2. September 2016

Wer stirbt, wer ankommt und wer bleibt. Der Hotspot in Pozzallo platzt aus allen Nähten

„Was die Menschen in Europa nicht verstehen, ist, dass es für einen Geflüchteten, der in Libyen ankommt, weniger gefährlich ist, die Flucht über das Mittelmeer zu wagen, als zurück in sein Ursprungsland zurück zu gehen,“ sagt A., ein junger Mann aus dem Senegal, der vor zwei Jahren nach Italien gekommen ist. Wie viele andere Senegalesen verfolgt er die Rettungsmanöver im Mittelmeer von seinem Fernseher aus. Dies tut er mit gemischten Gefühlen: Einerseits empfindet er eine vorübergehende Erleichterung, andererseits kommt in ihm Wut und Ohnmacht auf. „Wer noch nie in Libyen war, kann sich nicht im Entferntesten vorstellen, wie es ist, dort um sein Überleben zu kämpfen. So wie jeder hier in Europa ein Handy mit sich trägt, trägt jeder Libyer jeglichen Alters eine Waffe mit sich – stets griffbereit. Aber das will hier in Italien niemand hören,“ erzählt er weiter.

Die Handelsflotte Jaguar St. John’s im Hafen von Pozzallo - Ph. Lucia Borghi



Wovon die Medien in den letzten Tagen berichten, sind die zahlreichen Ankünfte und Rettungen von 13000 Migrant*innen, die in wenigen Tagen an den Küsten von Silzilien, Kalabrien, Sardinien und Apulien gelandet sind, gemeinsam mit den Leichen derer, die die Überfahrt nicht überlebt haben. Warum wieder so viele die Küste Italiens erreichen wurde nicht erörtert. Stattdessen gehen wieder viele, zu viele Fotos und Videos um die Welt, im Wettlauf um die eindringlichste und dramatischste Meldung. Diese Fotos berücksichtigen nicht die Persönlichkeitsrechte der Aufgenommenen, noch machen sie Halt vor fremden Schmerz. Die mediale Aufmerksamkeit erlischt, sobald die Migrant*innen auf dem Festland angelangen. Hellhörig wird die Öffentlichkeit erst wieder bei einem Gewaltereignis. Die erhöhte Zahl der Neuankömmlinge steuert die Diskussion gleich wieder auf die Verwaltung der Aufnahme. Keine Schlagzeile wert sind die neuen Abkommen oder die sich häufenden Fälle von Brutalität und das Festhalten der Migrant*innen in Libyen, welche vermutlich die Abreisen in der letzten Zeit gestoppt haben.

Die Handelsflotten, die humanitären Einsatzschiffe und die militärische Marine haben Dutzende Rettungsaktionen innerhalb weniger Stunden durchgeführt. Am 24. August wurde ein neues Abkommen zwischen der Militärmission „Sophia“ und der libyschen Küstenwache getroffen, das eine entsprechende Ausbildung der Küstenwache von Seiten der Mitglieder der Operation „Eunavformed“ vorsieht. Ausgerechnet die libysche Küstenwacht ist verantwortlich für den Angriff auf das Schiff „Bourbon Agros“ von Ärzte ohne Grenzen am 17. August diesen Jahres. Dem Angriff waren Schüsse vorausgegangen, die auf Menschen gerichtet waren. Bis heute steht das Schiff still und hat keine Rettungsaktionen mehr durchführen können. Das Abkommen mit der libyschen Küstenwacht spiegelt einen politischen Willen wieder, der Zurückweisungen, Rückführungen und Strategien zur Festnahme der Migrant*innen vermehren will, bevor sie an europäische Küsten gelangen. Mit diesen Vorhaben sind die europäischen Regierungen mehr beschäftigt, als Geflüchteten Schutz zu gewährleisten.

Dieser politische Wille ist auch vom Vizepräsidenten der Europäischen Kommission Frans Timmermans bestätigt worden. Bei einem Treffen mit der Bevölkerung von Syrakus im griechischen Amphitheater hat Timmermans Fragen zur Migration beantwortet und erklärt, dass Europa sich bemühen müsse, „ihnen zu Hause zu helfen“, die eigenen Grenzen zu schützen, Asylsuchende von Wirtschaftsgeflüchteten zu unterscheiden und hart gegen afrikanische Staaten durchgreifen werde, die nicht die Rückführungsabkommen akzeptierten.

Timmermans verteidigte auch das Abkommen das mit der Türkei abgeschlossen wurde. Er lobte mit vielen leeren Worten die Aufnahmebereitschaft der Italiener*innen, erwähnte aber mit keinem konkreten Wort, wie man das Dubliner Abkommen verändern könnte. Das totale Versagen des Hotspot-Verfahrens wurde genauso ignoriert wie die gescheiterte Verteilung der Migrant*innen auf die verschiedenen europäischen Mitgliedstaaten. Timmermans steht für ein Europa, in dem aus Angst, den Rechtspopulisten immer mehr Raum zu überlassen, deren Positionen übernommen werden, auch wenn mit weniger vulgären und offen rassistschen Tönen.

In Pozzallo wurden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zwei Ankünfte verzeichnet. Das englische Schiff „Fast Sentinel“ musste in der Nacht vom 30. August von seinem ursprünglichen Ziel nach Porto Empedocle umgeleitet werden, weil der Hotspot von Pozzallo die 300 Migrant*innen nicht mehr hätte aufnehmen können. Dort warten seit Wochen hunderte von unbegleiteten Minderjährigen, Mädchen und Jungen, darauf, versetzt zu werden. Das Fehlen von geeigneten Unterbringungsmöglichkeiten rechtfertigt weder Rechtsverletzungen noch das willkürliche und illegale Festhalten in ungeeigneten Räumen, die dazu noch nicht nach Geschlechtern und Alter getrennt sind.

Wir wissen, dass in den Aufnahmezentren oft sogar Matratzen und der physische Ort zum Schlafen fehlen, die Überfüllung ist inzwischen aufgrund von vermehrten Ankünften chronisch geworden. Wir trafen junge Geflüchtete, die vergeblich auf einen geeigneten verfügbaren Unterbringungsort warten, der ihnen von Gesetzes wegen zusteht. Ihnen ist nicht bewusst, dass ihr Aufenthalt in den überfüllten Hotspots nicht rechtens ist, insbesondere nicht für so einen langen Zeitraum. „Wir bekommen zwar regelmäßig Sprachunterricht, Kleidung und Essen. Aber das Warten ist hart und macht uns fast krank. Andere werden verteilt, nur wir müssen hier ausharren. Wir sind einfach zu viele,“ sagt A aus Gambia. Er übersetzt spontan auch für seine Freunde aus Mali und Eritrea. „Ich spreche viele Sprachen. Ich möchte studieren. Einige italienische Worte kann ich schon. Meine Freunde hier nicht, sie waren noch nie in einer Schule. Sie können sich nicht ausdrücken, weil sie es nie gelernt haben.“ Die Freunde von A werden wohl noch warten müssen, bis sie an einen Ort kommen, wo sie nicht mehr nur Zahlen sind, sondern Personen. Anders als gleichaltrige Europäer*innen, dürfen sie sich auf dem Kontinent nicht frei bewegen, und so bleiben ihr Träume und Hoffnung ebensolche.


Die 473 Migrant*innen, die gestern in Pozzallo angekommen sind, haben den gleichen bürokratischen Weg beschritten wie die 692, die 24 Stunden vorher dort aufgeschlagen waren. Unter ihnen waren ca. 40 unbegleitete Minderjährige und ca. 20 schwangere Frauen. Mit einer Verspätung von vier Stunden finden die Ankunftsmanöver von dem Handelsschiff Jaguar St. John’s statt, die am Donnerstag um 8 Uhr stattfinden sollten. Die Verzögerung hatte sich aufgrund der nötigen medizinischen Untersuchungen von Seiten der ärztlichen Behörde der Marine an Bord ereignet. Wie es scheint, war auf dem Schiff selbst kein medizinisches Personal vorhanden. Routineuntersuchungen konnten deshalb nicht gleich nach der Rettung durchgeführt werden. Am Hafen warteten Ordnungskräfte zusammen mit Frontex-Beamt*innen und Mitarbeiter*innen vom Humanitären Hilfswerk, des Roten Kreuzes, von Save the Children, von der Internationalen Organisation für Migration (IOM), Terres des Hommes, Emergency und MEDU (Ärzte für Menschenrechte).

Auf dem Schiff waren Menschen vieler Nationalitäten: aus Gambia, Guinea, Mali aber auch aus Bangladesch, Senegal, Ägypten, Syrien, Somalia, Kamerun, Nigeria, Tunesien und Marokko. Sie sind in Libyen abgereist, genau wie die Geflüchteten am Tag zuvor. Vom Hotspot werden sie verlegt nach Kampanien, in die Abruzzen, Molise und Zentral-Norditalien. Die Nacht haben ca. hundert Menschen noch im Zelt verbracht, das die Küstenwacht aufgebaut hatte. Unter ihnen Frauen und Kinder, syrische und eritreische Familien. So ist es auch in Augusta passiert, wo sich seit dem 31. August ca. 70 unbegleitete Minderjährige in Zelten wiederfinden müssen, wo bereits 600 Menschen schlafen. Auch gestern, nachdem die Ärzte ihr OK gegeben hatten, begann der lange Umzug in der heißen Mittagssonne. Einer nach dem anderen wurde unerbittlichen Fragen seitens der Polizei und stets aktiver Frontex-Beamt*innen ausgesetzt und Kontrollen mit Metalldetektoren unterzogen. Zeugen wurden isoliert, Schleuser festgenommen. Die Busse wurden beladen, die sich Richtung Hotspot aufmachten, weit weg von aufmerksamen Blicken. Die Flüchtenden, die gerade noch dem Tod entkommen konnten, erwartet nun die Dunkelheit und Ungewissheit, die noch viel zu oft gemeinsam mit der mangelnden Gewährleistung von Schutz auftritt.


Lucia Borghi

Borderline Sicilia

Übersetzung aus dem Italienischen von Alma Maggiore