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Dienstag, 20. September 2016

Vom Meer auf die Felder, Migrant*innen laufen durch unsere Städte


Was haben eine junge Frau aus Ghana, ein Herr mittleren Alters aus Nigeria und ein starker, großer, junger Mann aus dem Senegal gemeinsam? Die Hautfarbe zweifelsohne zuerst, aber auch die Gewalt und die Ausbeutung, unter denen sie alle gelitten haben und die Tatsache, dass sie von unseren Gesetzen getötet wurden.
Unser System hat sich dafür entschieden, die Migrant*innen zu opfern, um sich selbst zu erhalten; Es hat sich entschieden, die zu ächten, die versuchen, aus der Asche, die wir in ihren Herkunftsländern hinterlassen haben, wiederaufzuerstehen; Jungen und Mädchen zu verdammen, die ständig vom Tod begleitet werden, der oft leider die Oberhand gewinnt.
Ankunft in Palermo - Foto: Alberto Biondo

Wir kennen nicht die Namen der letzten Leichen, die unsere Küsten erreicht haben – mindestens sechs in der letzten Woche von Trapani bis Augusta. Wir kennen nicht den Namen des nigerianischen Mannes, der tot in den Straßen von Palermo aufgefunden wurde, mitten in der Stadt, mitten unter uns und mitten in der Gleichgültigkeit der Institutionen und der ganzen Gesellschaft. Wir kennen nicht den Namen des jungen Mannes aus dem Senegal, der vor etwa sechs Monaten auf den italienischen Feldern aus Erschöpfung und überwältigt von grenzenloser Ausbeutung sein Leben verlor. Nein, wir kennen sie nicht und wir wollen sie nicht sehen. Es sind die „Unsichtbaren“, die vom Meer kommen und in unseren Städten und auf unseren Feldern ausgenutzt werden.

Vom Meer sind in Palermo vorigen Montag 842 Migrant*innen angekommen, deren endlose Anlandung mehr als 36 Stunden angedauert hat. Die Anlandung begann um 8 Uhr in der Früh am 12. September und endete um 12:00 Uhr am Dienstag, 13. September. Die Identifizierungen der letzten Ankömmlinge sind jedoch erst gegen Abend zu Ende gegangen. Laut Anweisungen des Ministeriums die Identifizierungen aller in Palermo ankommenden Migrant*innen in den Büros des Polizeipräsidiums in Palermo stattfinden. In der Tat ist das Polizeipräsidium in einen Hotspot umgewandelt worden und funktioniert wie ein solcher. Die Beamt*innen sind komplett überlastet: Sie müssen die Fingerabdrücke aller ankommenden Migrant*innen nehmen ohne die dafür geeigneten Strukturen zu haben. Diese Aktion blockiert drei Tage lang den normalen Arbeitsablauf und bringt somit unglaubliche Verspätungen mit sich, die wiederum eine Verlängerung der Abarbeitung der Akten der schon in Palermo lebenden Migrant*innen bedingt.
Ankunft in Palermo - Foto: Alberto Biondo

Anhand der Nationalität werden Zurückweisungen bekannt gegeben und/oder direkte Rückführungen angeordnet (meistens gegenüber Migrant*innen aus dem Maghreb). Wer diese Auswahl heil übersteht, der darf seine unendliche Reise in Richtung Mittel- oder Norditalien fortsetzen. Bevor diese neuen Anordnungen in Kraft traten, war der Hafen von Palermo ziemlich gastfreundlich: Die Anlandungsoperationen waren recht zügig und die Busse mit den „vor-identifizierten“ Migrant*innen wurden bis zum Bestimmungsort eskortiert.

Anscheinend haben die neuen Vorschriften nur eine reine wirtschaftliche Ursache: Es fehlen die Gelder für die Eskorte der Busse, Gelder, um die Auswärtseinsätze der Polizisten zu zahlen. Welche sind die Folgen? Die Migrant*innen müssen mehr als 30 Stunden auf dem Schiff, auf dem Kai ober in den Bussen warten. Es ist ganz und gar unwürdig! Und sogar die am Hafen arbeitenden Beamten – wenngleich zähneknirschend – kritisieren das neue System, aber als „gute“ Soldaten gehorchen sie den Befehlen. Es scheint außerdem, dass die Frontex-Mitarbeiter*innen die Ermittlungsarbeit für die Kriminalpolizei von Palermo erledigen wollen: Sie sollen die mutmaßlichen Schleuser als letzte vom Schiff gehen lassen haben, nachdem diese von den Soldaten des Rettungsschiffes identifiziert wurden. Diese Soldaten sollen der Kriminalpolizei von Palermo ein Aktenbündel mit Fotos ausgehändigt haben, anhand dessen sie die Identifizierung der Schleuser vornehmen konnten. Die Fotos sollen den Migrant*innen zur Sichtung während der Anlandung gegeben worden sein.
Ankunft in Palermo - Foto: A. Biondo
Ankunft in Palermo - Foto: A. Biondo
Dieses Verfahren ist unserer Meinung nach recht fragwürdig: Das Benutzten des Aktenbündels mit Fotos direkt auf dem Kai noch vor der Vor-Identifizierung, um weitere mutmaßliche Schleuser herauszufinden bringt Unsicherheit und Unruhe in die Prozedur. Einige Migrant*innen, die als Zeug*innen aussagen sollten, sollten tatsächlich Menschen anschauen, die am Kai warteten, um eine weitere Identifizierung direkt am Hafen vorzunehmen. So standen sie sich, Zeug*innen und mutmaßliche Schleuser, direkt gegenüber; Migrant*innen sollten auf ihre bisherigen Reisegefährten zeigen und das in kompletter Offenheit ohne jeglichen Schutz. Selbstverständlich eine beschämende und angespannte Lage für beide Seiten, aber die Notwendigkeit immer mehr Schleuser ausfindig zu machen erschwert eine rechtmäßige Prozedur. 

Bei dieser Ankunft in Palermo waren 60 Minderjährige dabei, davon sind 46 vom Polizeipräsidium weiter geschickt worden, da die Gemeinde nicht mehr für die Weiterleitung zuständig ist. Sie befinden sich in einem neuen Erstaufnahmezentrum (CPA* für Minderjährige) in Partinico, in der Provinz von Palermo. Dieses Zentrum war früher ein CAS* für Erwachsenen, das von der gleichen Genossenschaft Sviluppo Solidale, die dem Konsortium Sol. Co. angehört, geführt wird.

Eine weitere Ankunft, diesmal in Trapani, erfolgte am letzten Freitag, a einem windigen Tag, an dem das englische Militärschiff Entreprise am Kai Ronciglio 316 Personen brachte, unter ihnen 202 Männer, 94 Frauen und die Leiche einer ghanaischen Frau. Die Anlandungsoperationen liefen gdiesmal anz anders als in Palermo ab: Die aus dem Schiff aussteigenden Migrant*innen wurden zuerst einem schnellen gesundheitlichen Check-up unterzogen, welches von der Geundheitsbehörde Trapani durchgeführt wurde. Die Behörde arbeitet ohne Mediator*innen in zwei verschiedenen Einheiten: Eine für die schwerwiegenden Fälle und eine weitere für die weniger schwerwiegenden Fälle. Anschließend wurden alle zum Hotspot nach Milo gebracht. Fast alle Migrant*innen kamen aus Nigeria und alle waren übel zugerichtet, weil sie lange in Libyen vor der Abfahrt festgehalten und sogar gefesselt wurden. Die Zeichen der Gewaltanwendung und der Folter sind ganz klar zu erkennen, wenn die Migrant*innen auf der Leiter das Schiff verlassen und Schwierigkeiten haben zu laufen. Das Schiff der Royal British Marine, mit seinen Kanonen und Maschinengewehren, die den Hafen von Trapani im Visier haben, macht keinen freundlichen Eindruck. Niemand durfte das Schiff betreten, nicht einmal die Ärzte für die übliche erste Untersuchung. Die Besatzung des Schiffes zeigte sich unzufrieden und missgestimmt, weil sie diese Menschen nach Italien gebracht hatten. Sie hätten sie lieber, wie von Boris Johnson vor einigen Tagen erklärt, zurück nach Libyen gebracht.
Ankunft in Trapani - Foto: A. Biondo

Die nach Milo verlegten Migrant*innen gesellen sich zu den ca. 150 Migrant*innen, die schon vor einer Woche mit der letzten Ankunft im Zentrum angekommen waren. Demzufolge sind im Moment ca. 500 Menschen dort, die anscheinend in Gruppen aufgeteilt werden: diejenigen, die schon identifiziert wurden und die, die noch darauf warten. Leider hören wir immer wieder von Migrant*innen, die in Milo gewesen sind, Nachrichten über Gewaltanwendungen, sogar Kindern und Frauen gegenüber, die sich weigern ihre Fingerabdrücke abzugeben.

Für uns ist dies eine Bankrotterklärung des nationalen Aufnahme- und Schutzsystems. Gerade erst vor einer Woche haben die Organisationen, die die SPRAR*-Zentren in Palermo verwalten, mit einer Pressemitteilung über den anstehenden Zusammenbruch des Systems informiert. Die Gründe sind die fehlenden Zahlungen der von der Gemeinde Palermo zugesicherten Gelder. Die Verantwortung hierfür liegt bei den politischen und administrativen Gremien, die zu gravierenden Schwierigkeiten in der Verwaltung führen. Diese Stellungnahme folgt dem aufsteigenden Protest der Zentren für Minderjährige, die ihre immer kritischere Lage bekannt machen wollten. Unsere Straßen füllen sich mit „Unsichtbaren“: Das freut die Verwalter*innen, die sich von den schwarzen Schafen oder den „Tieren“ (wie die protestierenden Migrant*innen oft genannt werden) belästigt fühlen, sowie die vielen Ausbeuter, die unbehelligt in unseren Städten und auf unseren Feldern weiterhin agieren.

In Alcamo haben wir einige dieser Ausgebeuteten getroffen, die in einer vom Roten Kreuz geführten Turnhalle untergekommen sind. Das Rote Kreuz und weitere 5 Organisationen, die in verschiedener Weise mit dem Roten Kreuz verbunden sind, nehmen die Migrant*innen auf, die in der Weinlese in der Gegend arbeiten. Alcamo ist die erste Etappe der Reise der in der Landwirtschaft arbeitenden Migrant*innen, die dann nach Marsala, Campobello di Mazara und noch weiter weg in andere Gegenden Siziliens oder gar Apuliens führt. Die Migrant*innen - auch die, die eine gültige Aufenthaltsgenehmigung (als Asylsuchende) haben - bekommen ein Dach über dem Kopf und eine Mahlzeit am Tag gegen Zahlung von 2 Euro pro Tag. In der Turnhalle, auf Matten oder gebrauchten Matratzen, können bis zu 70 „reguläre“ Migrant*innen schlafen, Die Gemeinde zahlt 9000 Euro an die Verwalter, die dann zusätzlich noch die 2 Euro von den Migrant*innen kassieren, die zahlen, um einen Platz auf dem Boden zu haben. Das Essen wird auch den nicht „Regulären“ ausgegeben. Sie müssen aber als Schlafplatz die Bogengänge eines Platzes in Alcamo benutzen, weil nur wer eine gültige Genehmigung hat in die Halle hineingehen darf. Das Essen wird allen Migrant*innen, mit und ohne gültigen Papieren, kostenlos von der Caritas ausgegeben. Viele Migrant*innen beschweren sich, weil letztes Jahr die Versorgung durch eine Catering-Firma erfolgte, dieses Jahr gibt es hingegen immer nur Nudeln mit ungekochter Tomatensoße. Die Problematik der in der Landwirtschaft arbeitenden Migrant*innen ist schon 20 Jahre alt, wie uns die Bewohner*innen von Alcamo erzählen, aber die Situation wird immer noch als Ausnahmezustand behandelt und, ungeachtet der vielen dafür verwendeten öffentlichen Mitteln, bleibt eine würdige Aufnahme immer noch unerreicht.

Alle Migrant*innen, mit und ohne Papiere, treffen sich um 5:00 Uhr in der Früh auf dem Marktplatz, um Arbeit für den Tag zu suchen und wer keine Arbeit bekommt, der verbringt den Tag durch den Dorf streunend in der Erwartung, dass um 18:00 Uhr die Turnhalle ihre Türe öffnet. Der Lohn der Migrant*innen variiert zwischen 40 Euro (für die wenigen, die einen Vertrag haben) und 20 Euro am Tag.

Gewalt und Ausbeutung sind der gemeinsame Nenner dieser unseren Zeit, in der die westliche Welt, reich und selbstherrlich, entscheidet, wer das Recht hat, Rechte zu haben und wer hingegen ausgebeutet werden soll, wer für Wahlzwecke instrumentalisiert wird und sogar wer durch die Flugzeuge des Bündnisses ONU oder Nato getötet wird, die „aus Versehen“ zivile Ziele, „befreundete Militärs“, wenn nicht sogar Krankenhäuser bombardieren.

Alberto Biondo

Borderline Sicilia

*CPA - Centro di prima accoglienza - Erstaufnahmezentrum

*CAS - Centro di accoglienza straordinaria - Außerordentliches Aufnahmezentrum
*SPRAR - Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo - Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge

Aus dem Italienischen von A. Monteggia übersetzt