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Freitag, 16. September 2016

Newsletter SICILIAMIGRANTI – August 2016

Militarisierung und Desorganisation: Mängel und Verzögerungen bei den Ankünften zu Lasten der Migrant*innen
Aufnahme der Toten, Zurückweisung der Lebenden
Isolation, Misstrauen und Gewalt: Erhebliche Mängel bei der Aufnahme minderjähriger Geflüchteter
Asylsuchende und minderjährige Geflüchtete in der Falle zwischen neuen und alten außerordentlichen Aufnahmezentren
Infos und Kontakt


MILITARISIERUNG UND DESORGANISATION: MÄNGEL UND VERZÖGERUNGEN BEI DEN ANKÜNFTEN ZU LASTEN DER MIGRANT*INNEN

120 Migrant*innen haben Lampedusa erreicht, während 655 weitere in Palermo mit dem Militärschiff Diciotti ankamen. Wie es immer öfter der Fall ist werden sie alle von einer Bürokratie empfangen, dessen Ziel nicht die Achtung der Würde der Menschen ist. Während die Geflüchteten auf den Rettungsschiffen darauf warten, im Hafen identifiziert zu werden und im Polizeipräsidium ihre digitalen Fingerabdrücke abzugeben, sitzen sie auf dem Boden und werden von oben bis unten gemustert. Es sind die Blicke der Personen, die über ihre Zukunft entscheiden werden.



1169 Personen kommen am Hafen von Palermo an, nachdem sie vom Militärschiff Garibaldi gerettet wurden. Die Rettung beginnt bereits mit einer Verzögerung und geht nur sehr langsam voran, sodass sie für viele Geflüchtetezusätzlich zermürbend ist. Die Atmosphäre ist nicht zuletzt bedrückend und angespannt aufgrund der feindseligen Gesten und Worte der Polizei sowie des Militärs. Das Vorgehen bei der Ankunft des Schiffes ist sowohl auf institutioneller sowie auch auf operativer Ebene extrem schlecht organisiert. Um 2 Uhr nachts wird die Operation unterbrochen und 400 Migrant*innen sind gezwungen die gesamte Nacht im Laderaum des Schiffes zu verbringen.


Zu einer weitaus dramatischeren Situation kam es am Hafen von Messina, wo die Anlandung von Geflüchtete vom Spätnachmittag des 30. August bis um 21 Uhr des 1. September andauerte, gut 48 Stunden nachdem die Anlandungsoperationen begonnen hatten. Nun besteht die Gefahr, dass die Aufnahmezentren unter dem Ansturm der Migrant*innen kollabieren und daher die „verzögerten“ Anlandungen in Wirklichkeit dazu dienen, die Schiffe zu „schwimmenden Hotspots“ umzufunktionieren. Bereits dort könnten die Geflüchteten nun, je nach Nationalität, in verschiedene Gruppen eingeteilt werden, um daraufhin wieder in ihre Heimat zurück geschickt zu werden, ohne dass sie jemals ins Scheinwerferlicht gerückt werden.



AUFNAHME DER TOTEN, ZURÜCKWEISUNG DER LEBENDEN

Fünf weitere Leichen erreichen Trapani, unter ihnen auch zwei Leichen syrischer Kinder. Die Leiche eines weiteren Mädchens fehlt noch. Sie starb in den Armen ihres Vaters, der sie gehen lassen musste, da er seinen anderen Sohn und weitere Kinder vor dem Ertrinken retten musste. Es ist eine weitere Geschichte, die von Schmerz und Großzügigkeit, von Tränen und Rettung erzählt. Eine weitere Geschichte, die uns die Medien verschweigen, so wie die vielen weiteren Geschichten derjenigen, die die Flucht überlebt haben und nun zwischen Resignation, Hoffnung und Protesten nur darauf warten, dem Limbus zu entkommen, den die Zukunft für sie bereit hält.


In Pozzallo, wo innerhalb von zwei Tagen zwei Boote mit jeweils 473 Personen und 692 Personen ankamen, kam es zu einer totalen Überlastung des Hotspots. Seit Wochen bereits befinden sich in der Einrichtung Dutzende unbegleitete minderjährige Geflüchtete, Mädchen wie Jungen, die nicht rechtens alle zusammen mit weiteren Männern und Frauen, Erwachsenen und Kindern untergebracht sind. Währenddessen äußert die Europäische Union gemäß den Worten des stellvertretenden EU-Kommissars Timmermans erneut ihre politischen Absicht, vermehrt Abschiebungen durchzuführen und die Grenzen zu schließen. Damit wird den Geflüchteten der Rücken zugewandt, ohne deren Geschichten anzuhören. Es sind Menschen, die vor Krieg und Elend geflohen sind, die die Wüste durchquert haben, Schleuser hinter sich gelassen und die Gefahren des Meeres überlebt haben. Sie sollen nun einfach in ein Flugzeug verfrachtet werden und in ihre Heimatländer zurückgebracht werden, wo es für sie schlichtweg keine Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft gibt.



ISOLATION, MISSTRAUEN UND GEWALT: ERHEBLICHE MÄNGEL BEI DER AUFNAHME MINDERJÄHRIGER GEFLÜCHTETER

Immer wieder kommt es zu Situationen, in denen sich die soziale Eingliederung der minderjährigen Geflüchteter sowie der Kontakt zur lokalen Bevölkerung als sehr schwierig erweisen. Dies liegt nicht zuletzt an dem Ausbleiben jeglicher ernsthafter Planung sowie systematischer Organisation bei der Aufnahme und Unterbringung der Menschen in außerordentlichen Aufnahmezentren. Hinzu kommt, dass die Zentren oft weit entfernt der bewohnten Städte sind. Oftmals leiden die jungen Migrant*innen daher unter Isolation, worauf sie mit Protesten reagieren oder einfach fliehen, "um nicht verrückt zu werden". Es herrscht ein Klima des Misstrauens und der Intoleranz, das in der Vergangenheit bereits zu Fällen schwerwiegender Gewalt geführt hat, so wurden vier minderjährige ägyptische Jungen kürzlich Opfer von Gewalt durch einige junge Männer aus dem Dorf San Cono.



ASYLSUCHENDE UND MINDERJÄHRIGE GEFLÜCHTETE IN DER FALLE ZWISCHEN NEUEN UND ALTEN AUSSERORDENTLICHEN AUFNAHMEZENTREN

Außerordentliche Aufnahmezentren entstanden ursprünglich aus dem Mangel an Plätzen in bereits bestehenden Einrichtungen, bevor sie regulär zu einem Teil des bestehenden Aufnahmesystems wurden. Borderline Sicilia hat vor Kurzem eine Analyse von gesammelten Daten zu außerordentlichen Aufnahmezentren in der Hauptstadt sowie in der Region um Palermo durchgeführt. Aus der Analyse geht hervor, dass die Zentren letztlich nichts weiter als Orte der Bürokratie eines blinden Staates sind. Orte, in denen die Asylsuchenden oft Jahre lang dahinsiechen. Ihnen bleibt oftmals nichts anderes übrig, als zu warten, bis ihre Zukunft nach ihrer unterbrochenen Reise mit der Ankunft in Italien wieder eine positive Wende nimmt. Bis dahin treiben sie oft langsam in die Unsichtbarkeit, die sie immer wieder zu leichter Beute für den Schwarzmarkt, mafiöse Hilfsarbeiten, Ausbeutung oder Prostitution macht.



Erneut ist die Antwort auf die Notsituation durch die hohe Zahl ankommender Menschen der Erlass eines Dekrets, das freie Bahn schafft für die Einrichtung neuer außerordentlicher Aufnahmezentren für unbegleitete minderjährige Geflüchtete. So geschieht es die Tage auch in Ragusa. Hierbei besteht die Gefahr, dass eine Verteilung der minderjährigen Geflüchteten auf verschiedene Kommunen in ganz Italien, unabhängig ihres Ankunftsortes und gemäß ihrer eigenen Interessen, nicht möglich sein wird. Stattdessen werden sie dort landen, wo wirtschaftliche Interessen der außerordentlichen Aufnahmezentren sie unterbringen möchten.



INFOS UND KONTAKT

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Aus dem Italienischen von Marlene Berninger