siciliamigranti.blogspot.com ist ein italienischsprachiges Monitoringprojekt zur Situation der Flüchtlinge in Sizilien, dort finden Sie die Original-Berichte, hier finden Sie die deutschen Übersetzungen. Klicken Sie auf die auf die Namen der Schlagworte (keywords), wenn Sie bestimmte Themen suchen.

Freitag, 9. September 2016

Mehr besonders Schutzbedürftige, weniger Schutz. Verlängertes Zurückbehalten in Pozzallo und Augusta

15 tote Migrant*innen auf dem Meer, unter ihnen Frauen und Kinder.
Die Nachrichten über den Tod im Mittelmeer werden immer häufiger und lapidarer. Sie lassen den Bildern von Rettungen und Anlandungen nur geringsten funktionalen Raum, die europäische Verantwortung mit einzubeziehen und die italienischen Operationen zu rühmen. Gesichter und Körper, die schnell verschwinden, oft verurteilt zu einer Beerdigung weit entfernt von den Blicken der Freunde, oder zu einem mühsamen Überleben in einem Land, das sich als immer weniger demokratisch und aufnahmewillig entpuppt.


Montagnacht sind in Palermo in einer hektischen Anlandung bei Regen mehr als tausend Migrant*innen angekommen, unter ihnen ungefähr vierzig Minderjährige. Die Anlandung wurde während der Nacht unverständlicher Weise unterbrochen. Am Vormittag sind in Augusta 355 Migrant*innen an Bord des Schiffes Topaz Responder der MOAS* angekommen. Mit ihnen sind auch sieben Leichen eingetroffen, darunter die zweier Minderjähriger, von denen eine*r nur drei Jahre alt war. Ein Massensterben mit Vorankündigung und ohne Ende, das sowohl widerwärtig ist wie auch fortlaufend ignoriert wird. Auf die Worte der Entrüstung und den Versprechen des Einsatzes folgen keine konkreten Aktionen, das Sterben zu beenden.

Die Migrant*innen werden weiterhin sterben, wenn die Festung Europa weiterhin Mauern baut und die Möglichkeit der sicheren und legalen Einreise nicht zugesteht. Alles Übrige ist nur der Versuch, das Migrationsphänomen funktional zu verwalten, zum ökonomischen und politischen Vorteil weniger, die sich entschieden haben, den Status Quo auf Kosten vieler Menschenleben aufrecht zu erhalten.

Die Heuchelei des europäischen und italienischen Systems wird auch deutlich sichtbar in den versprochenen Schutzgarantien für die Migrant*innen auf dem Festland. In Augusta verbleiben dutzende von unbegleiteten Minderjährigen, Überlebende der Massensterben wie in diesen Tagen, und andere besonders Schutzbedürftige für Wochen in der Zeltstadt im Hafen. Eine absolut ungesetzliche Praxis, die aber hier jetzt seit drei Monaten zur Gewohnheit geworden ist; eine Situation des „Notstands“ und der „Ausnahme“, in der die Kontrollen und die Untersuchungen der Polizei viel schneller und effizienter zu sein scheinen als die Hilfestellung für die Migrant*innen und ihr individuelle Schutz. Entgegen allem zuvor Gesagten rechtfertigen die Institutionen das ungesetzliche Festhalten der Personen, die ein Recht auf besonderen Schutz haben, an einem ungeeigneten Ort mit dem Fehlen anderer verfügbarer Plätze. Regierungen erlauben sich, von ihnen erlassene Gesetze nicht zu respektieren; die Migrant*innen zahlen die Zeche, gemeinsam mit allen Bürger*Innen, die an eine demokratische Gesellschaft glauben.

Eine gleichermaßen schwerwiegende und besorgniserregende Situation finden wir in Pozzallo: Im Hotspot hat man bis Sonntag mehr als 500 Anwesende gezählt; er ist aber nur für 180/200 ausgelegt. Die Zahl der unbegleiteten Minderjährigen, männliche und weibliche, liegt bei etwa 200. Auch sie leben schon über eine Woche im Zentrum, zusammen mit vielen besonders Schutzbedürftigen, wie schwangeren Frauen, alleinstehenden Frauen mit Kindern, kranken oder psychisch instabilen Personen. Sie sind es, die immer länger festgehalten werden, mit der gewöhnlichen Entschuldigung der schwierigen Suche nach einem geeigneten Platz. Wir fragen uns, wie dies nach Jahren und Monaten der Anprangerungen immer weiter geschehen kann? Warum waren diese letzten nicht immer entschiedener und häufiger? Sie spielen der komplizenhaften Gleichgültigkeit derer in die Händen, die es wagen zu behaupten, sie hätten keine andere Wahl. Die Situation der in Pozzallo Zurückgehaltenen scheint sich nur zu verschlechtern.

Wir wissen, dass einige Migrant*innen auch die Nacht im Hof des Zentrums verbringen mussten, in vom Zivilschutz organisierten Zelten oder einfach mit Decken. Im einzigen großen Raum des Hangars kann man nur in einem Bett schlafen, wenn die Anzahl der Anwesenden dem Fassungsvermögen entspricht; im Fall der Überbelegung erstreitet man sich eine Matratze auf der Erde oder man endet geradewegs draußen. Wir können die hygienischen Bedingungen und die übrigen strukturellen Einschränkungen im Zentrum nur erahnen; trotz des alle zwei Tage von der neuen Kooperative verteilten Kits und des entschieden kompetenteren Personals bleibt die Situation gleichwohl dramatisch und nicht händelbar.

Heute Morgen haben wir einige junge Leute getroffen, die im Hotspot untergebracht sind; wenige Worte, die Eile, wieder hineinzugehen wegen der bevorstehenden Verlegungen, die seit Tagen erwartet werden: „Auch hier zählt das Glück: Wenn es regnet und du nicht raus kannst, können sich nicht mal alle gemeinsam in einem Zimmer aufhalten; heute scheint die Sonne und wir können draußen spielen. Ich bin froh, dass ich hier angekommen bin, ich bin mit einem Freund aufgebrochen, der in Libyen gestorben ist. Ich habe aber nicht geglaubt, dass es auch in Italien solche Lager gibt. Für mich muss Europa noch kommen.“

Die Herangehensweise Hotspot ist Ausdruck des Unwillens der Festung Europa zur Aufnahme, ein Kontrollpunkt, ein Ort der Identifikation und der „Selektion“ der Migrant*innen: Beweis dafür sind die kontinuierlichen Abschiebungen ägyptischer, libyscher und tunesischer Staatsangehöriger sowohl aus Pozzallo und wie auch aus Augusta; von ihnen bleibt leider nur eine Spur in den Akten der Quästur und der Präfektur. Die zugestandene Aufenthaltsdauer an solchen Orten beläuft sich auf maximal drei Tage. Die Entscheidung, Minderjährige und besonders Schützenswerte in ungesetzlicher Weise über Wochen und Monate mit anderen Personen zusammen in einer Einrichtung festzuhalten, kann auf jede erdenkliche Weise gerechtfertigt werden, aber nicht mit der Suche nach einem besseren Schutz für sie.

Lucia Borghi
Borderline Sicilia

*MOAS - Migrant Offshore Aid Station


Übersetzung aus dem Italienischen von Rainer Grüber