15 tote
Migrant*innen auf dem Meer, unter ihnen Frauen und Kinder.
Die Nachrichten über
den Tod im Mittelmeer werden immer häufiger und lapidarer. Sie
lassen den Bildern von Rettungen und Anlandungen nur geringsten
funktionalen Raum, die europäische Verantwortung mit einzubeziehen
und die italienischen Operationen zu rühmen. Gesichter und Körper,
die schnell verschwinden, oft verurteilt zu einer Beerdigung weit
entfernt von den Blicken der Freunde, oder zu einem mühsamen
Überleben in einem Land, das sich als immer weniger demokratisch und
aufnahmewillig entpuppt.
Montagnacht sind in
Palermo in einer hektischen Anlandung bei Regen mehr als tausend
Migrant*innen angekommen, unter ihnen ungefähr vierzig
Minderjährige. Die Anlandung wurde während der Nacht
unverständlicher Weise unterbrochen. Am Vormittag sind in Augusta
355 Migrant*innen an Bord des Schiffes Topaz Responder der MOAS*
angekommen. Mit ihnen sind auch sieben Leichen eingetroffen, darunter
die zweier Minderjähriger, von denen eine*r nur drei Jahre alt war.
Ein Massensterben mit Vorankündigung und ohne Ende, das sowohl
widerwärtig ist wie auch fortlaufend ignoriert wird. Auf die Worte
der Entrüstung und den Versprechen des Einsatzes folgen keine
konkreten Aktionen, das Sterben zu beenden.
Die Migrant*innen
werden weiterhin sterben, wenn die Festung Europa weiterhin Mauern
baut und die Möglichkeit der sicheren und legalen Einreise nicht
zugesteht. Alles Übrige ist nur der Versuch, das Migrationsphänomen
funktional zu verwalten, zum ökonomischen und politischen Vorteil
weniger, die sich entschieden haben, den Status Quo auf Kosten vieler
Menschenleben aufrecht zu erhalten.
Die Heuchelei des
europäischen und italienischen Systems wird auch deutlich sichtbar
in den versprochenen Schutzgarantien für die Migrant*innen auf dem
Festland. In Augusta verbleiben dutzende von unbegleiteten
Minderjährigen, Überlebende der Massensterben wie in diesen Tagen,
und andere besonders Schutzbedürftige für Wochen in der Zeltstadt
im Hafen. Eine absolut ungesetzliche Praxis, die aber hier jetzt seit
drei Monaten zur Gewohnheit geworden ist; eine Situation des
„Notstands“ und der „Ausnahme“, in der die Kontrollen und die
Untersuchungen der Polizei viel schneller und effizienter zu sein
scheinen als die Hilfestellung für die Migrant*innen und ihr
individuelle Schutz. Entgegen allem zuvor Gesagten rechtfertigen die
Institutionen das ungesetzliche Festhalten der Personen, die ein
Recht auf besonderen Schutz haben, an einem ungeeigneten Ort mit dem
Fehlen anderer verfügbarer Plätze. Regierungen erlauben sich, von
ihnen erlassene Gesetze nicht zu respektieren; die Migrant*innen
zahlen die Zeche, gemeinsam mit allen Bürger*Innen, die an eine
demokratische Gesellschaft glauben.
Eine gleichermaßen
schwerwiegende und besorgniserregende Situation finden wir in
Pozzallo: Im Hotspot hat man bis Sonntag mehr als 500 Anwesende
gezählt; er ist aber nur für 180/200 ausgelegt. Die Zahl der
unbegleiteten Minderjährigen, männliche und weibliche, liegt bei
etwa 200. Auch sie leben schon über eine Woche im Zentrum, zusammen
mit vielen besonders Schutzbedürftigen, wie schwangeren Frauen,
alleinstehenden Frauen mit Kindern, kranken oder psychisch instabilen
Personen. Sie sind es, die immer länger festgehalten werden, mit der
gewöhnlichen Entschuldigung der schwierigen Suche nach einem
geeigneten Platz. Wir fragen uns, wie dies nach Jahren und Monaten
der Anprangerungen immer weiter geschehen kann? Warum waren diese letzten
nicht immer entschiedener und häufiger? Sie spielen der komplizenhaften Gleichgültigkeit derer in die Händen, die es wagen zu behaupten, sie hätten keine
andere Wahl. Die Situation der in Pozzallo Zurückgehaltenen
scheint sich nur zu verschlechtern.
Wir wissen, dass
einige Migrant*innen auch die Nacht im Hof des Zentrums verbringen
mussten, in vom Zivilschutz organisierten Zelten oder einfach mit
Decken. Im einzigen großen Raum des Hangars kann man nur in einem
Bett schlafen, wenn die Anzahl der Anwesenden dem Fassungsvermögen
entspricht; im Fall der Überbelegung erstreitet man sich eine
Matratze auf der Erde oder man endet geradewegs draußen. Wir können
die hygienischen Bedingungen und die übrigen strukturellen
Einschränkungen im Zentrum nur erahnen; trotz des alle zwei Tage von
der neuen Kooperative verteilten Kits und des entschieden
kompetenteren Personals bleibt die Situation gleichwohl dramatisch
und nicht händelbar.
Heute Morgen haben
wir einige junge Leute getroffen, die im Hotspot untergebracht sind;
wenige Worte, die Eile, wieder hineinzugehen wegen der bevorstehenden
Verlegungen, die seit Tagen erwartet werden: „Auch hier zählt das
Glück: Wenn es regnet und du nicht raus kannst, können sich nicht
mal alle gemeinsam in einem Zimmer aufhalten; heute scheint die Sonne
und wir können draußen spielen. Ich bin froh, dass ich hier
angekommen bin, ich bin mit einem Freund aufgebrochen, der in Libyen
gestorben ist. Ich habe aber nicht geglaubt, dass es auch in Italien
solche Lager gibt. Für mich muss Europa noch kommen.“
Die Herangehensweise Hotspot ist Ausdruck des Unwillens der Festung
Europa zur Aufnahme, ein Kontrollpunkt, ein Ort der Identifikation
und der „Selektion“ der Migrant*innen: Beweis dafür sind die
kontinuierlichen Abschiebungen ägyptischer, libyscher und
tunesischer Staatsangehöriger sowohl aus Pozzallo und wie auch aus
Augusta; von ihnen bleibt leider nur eine Spur in den Akten der
Quästur und der Präfektur. Die zugestandene Aufenthaltsdauer an
solchen Orten beläuft sich auf maximal drei Tage. Die Entscheidung,
Minderjährige und besonders Schützenswerte in ungesetzlicher Weise
über Wochen und Monate mit anderen Personen zusammen in einer
Einrichtung festzuhalten, kann auf jede erdenkliche Weise
gerechtfertigt werden, aber nicht mit der Suche nach einem besseren
Schutz für sie.
Lucia Borghi
Borderline Sicilia
*MOAS - Migrant
Offshore Aid Station
Übersetzung aus dem
Italienischen von Rainer Grüber