Von
Oxfamitalia.org
Die
Zahl von Kindern und unbegleiteten Minderjährigen auf der Flucht,
die dieses Jahr auf dem Weg über Italien Europa erreicht haben, hat
sich verdoppelt.
Sie treffen hier jedoch auf ein Aufnahmesystem, dem es nicht
gelingt, ihnen die nötige Hilfe zu geben. Diesen Zustand will der
neue, heute veröffentlichte Rapport
von Oxfam „Große Hoffnungen die ins Leere laufen“
, aufdecken.
Man
braucht sich nur einmal vorstellen, dass
Tag
für Tag 28 unbegleitete Kinder infolge eines wirkungslosen und
ungeeigneten Aufnahmesystems schlichtweg „verschwinden“.
Viele
von ihnen werden auf
unbegrenzte Zeit in Lagern eingesperrt, die sie nicht verlassen
dürfen.
Sie sind gezwungen, an ungeeigneten und unsicheren Orten zu leben,
bekommen keine Informationen über ihre Rechte.
Andere
haben Familienangehörige in anderen europäischen Ländern und
wollen nicht in Italien dauerhaft bleiben. Die Folgen davon sind
unvermeidlich. Manche
verlassen heimlich die Aufnahmelager und leben ab da auf der Straße,
wo sie noch größeren Risiken ausgesetzt sind. Ein
Szenario, das die Unfähigkeit des europäischen und italienischen
Umgangs mit dem Phänomen der Migration deutlich macht.
Italien
- das Tor zu Europa: 15% der Ankommenden sind minderjährige
unbegleitete Geflüchtete
Nach
der Schließung der West - Balkanroute und dem Abkommen zwischen der
EU und der Türkei, wurde Italien noch einmal Ankunftsstelle für die
nach Europa fliehenden Migrant*innen. Viele
unter ihnen sind Minderjährige, die alleine gekommen sind. Nach
den neuesten Zahlen, die das UNHCR herausgegeben hat, ist die Zahl
der unbegleiteten, in Europa angekommenen Kinder 2016
deutlich gestiegen, so dass
sie inzwischen 15% aller angekommenen Menschen ausmachen.
Ende
Juli kamen laut UNHCR schon circa 13.705 unbegleitete Minderjährige in Italien an: eine größere Zahl als die Gesamtheit aller im Jahr
2015 Angekommenen (12.360 Kinder).
Trotz
des Engagements der Zivilgesellschaft und vieler Gemeinden und
Regionen scheint
das italienische Aufnahmesystem immer noch ungeeignet, die
unbegleiteten Kinder und ihre Rechte zu schützen.
Zum
Beispiel sind die Hotspots, die von der EU und der italienischen
Regierung eingerichtet wurden, um die Neuankommenden zu registrieren
und die Zurückweisungs- und Abschiebungsvorgänge zu beschleunigen,
chronisch überfüllt und bieten keine angemessenen Strukturen an -
nicht einmal unter hygiene-
und gesundheitstechnischen
Aspekten.
Dies
auch schon allein deshalb, weil viele
Kids wochenlang dort festgesetzt sind, obwohl die maximale
Höchstaufenthaltsdauer auf 48 - 72 Stunden festgelegt wurde,
und sie nicht ihre Kleider wechseln (auch nicht die Unterwäsche) und
ihre Eltern zu Hause oder Familienangehörige in Europa anrufen
können.
Dringend
nötig: Ein gemeinsames Handeln von Italien und Europa
Oxfam
bittet deshalb die italienische Regierung und die europäischen
Partner sofort zu intervenieren, um den unbegleiteten Minderjährigen
angemessene und sichere Wohnplätze und
die Hilfeleistungen zu
garantieren,
die sie benötigen, um unter würdigen Umständen leben zu können.
„Die
dramatische Situation, der die unbegleiteten Minderjährigen in
Italien ausgesetzt sind, zeigt deutlich die Unfähigkeit der
europäischen und der italienischen Regierung, die Kinder zu
schützen, die auf der Suche nach Hilfe und einem Leben in Würde
hierherkommen“ - erklärt
die Leiterin der Kampagne
von Oxfam Italia, Elisa Bacciotti.
Sie zeigt so ein weiteres Mal das Versagen des europäischen Umgangs
mit diesem Thema auf, weil die Verantwortung für die gemeinsame
Außengrenze nur einigen wenigen Ländern zugewiesen wird. „Europa
muss gemeinsam handeln, wenn es um die Aufnahme der Menschen geht,
die aus Krisengebieten, vor Verfolgung und wegen unerträglicher
Lebensumstände geflohen sind.“
Die
Schilderungen der Jugendlichen, die alleine über das Mittelmeer
gekommen sind
Größtenteils
stammen die Kinder und Jugendlichen, die auf dem Weg übers Meer an
der italienischen Küste ankommen,
aus Ägypten, Gambia, Eritrea, Nigeria und Somalia. Sie fliehen aus
dramatischen, von kriegerischen Konflikten, Unsicherheit und Armut
geprägten Lebensumständen.
„Ich
habe Gambia zusammen mit meinem Bruder vor einem Jahr verlassen -
erzählt
O., 16 Jahre, aus Gambia -
In meinem Land war ich nicht mehr sicher, die Polizei hat uns
bedroht. Ein paar unserer Nachbarn wurden in bewaffneten
Auseinandersetzungen umgebracht (…) Wir sind in einem Schlauchboot
mit 118 anderen Personen losgefahren. Nach ein paar Stunden gab es so
etwas wie eine Explosion, einen Brand: In diesem Chaos rutschte mein
Bruder ins Wasser, Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Er hatte seine
Schwimmweste mir gegeben.“
Die
Lage in den Erst- und Folgeaufnahmelagern, in die die Minderjährigen
nach der Registrierung gebracht werden, ist häufig nicht viel
besser als die in den Hotspots: oft
haben die Jugendlichen keine Möglichkeit, das Lager zu verlassen.
Oxfam hat auch Aussagen
gesammelt, die von Bedrohungen und Gewalttätigkeiten berichten,
die von der Lagerleitung ignoriert wurden.
„Im
Lager von Pozzallo gibt es auch eine Gruppe von erwachsene Somali,
die uns Eritreer*innen
schlecht behandeln, die uns schlagen und beschimpfen, - erzählt
D., ein eritreischer 17jähriger Jugendlicher - „Trotz
unserer wiederholter Hinweise bei der Polizei und den
Mitarbeiter*innen
im Zentrum machen die Somali weiter und keine*r
unternimmt etwas dagegen.“
„Schätzungsweise
40% der unbegleiteten Minderjährigen sitzt faktisch in Sizilien
fest, oft in den kleinen Gemeinden der Ankunftsorte: das ist die
Auswirkung einer nationalen Vorgabe, die stark die Möglichkeit
einschränkt, dass
andere Regionen Italiens für die Aufnahme dieser Kinder und
Jugendlichen mitverantwortlich sein könnten, und verunmöglicht,
dass
sie in geeigneteren und würdigeren Strukturen und Einrichtungen
aufgenommen werden könnten“, führt
Bacciotti weiter aus, „Dieser
Zustand der Dinge muss
überwunden werden: Italien muss
ein landesweites System schaffen, das wirklich fähig ist, den
unbegleiteten Kindern hohe Standards bei der Aufnahme zu
gewährleisten. Die anderen europäischen Regierungen müssten mit
unserem Land kooperieren, um dieses Ziel zu erreichen. Dabei ist
es außerdem vorrangig, dass
alle Mitgliedstaaten der europäischen Union jegliche Form der Haft
für Minderjährige abschaffen und verhindern.
Es gibt wirklich keine Situation, in der die Haft von Minderjährigen
vertretbar wäre, weil sie immer eine Verletzung der Rechte zum
Schutz von Kindern ist.
Oxfam
und die Partnerorganisationen in Sizilien, wie
AccoglieRete
und Borderline
Sicilia,
begegnen regelmäßig Jugendlichen, die erzählen, dass
sie nicht informiert wurden über die Möglichkeit, Asyl zu
beantragen oder ihr Recht, einen gesetzlichen Vormund zu bekommen.
Ebensowenig eine Person, die zu ihrem Bestmöglichen handeln oder
ihre Rechte schützen könnte. Die
Zuteilung eines Vormunds kann jedoch auch bis zu mehreren Monaten
dauern, und somit die Möglichkeit einer normalen Zukunft für diese
Jugendlichen gefährden,
weil sie den Prozess der Regularisierung und der Integration des
einzelnen Jugendlichen stark verzögert.
„Es
ist wesentlich, den Vorgang zu beschleunigen, wenn eine Vormundschaft
eingerichtet wird, so dass
der/die Minderjährige sofort nach der Ankunft persönlich begleitet
werden kann“ sagt Iolanda
Genovese
von AccoglieRete
- einer Organisation, die seit Jahren sich dafür einsetzt, dass
im Umgang mit minderjährigen unbegleiteten Geflüchteten
eine Praxis des guten Schutzes propagiert wird. Dies hat in der
Gegend von Syrakus z.B. schon zu einer beachtlichen Verringerung der
Fälle von verschwundenen Jugendlichen geführt.
Über
5 000 „verschwundene“ Minderjährige in den ersten
6 Monaten dieses Jahres
In
den ersten 6 Monaten im
Jahr 2016
wurden 5.222 unbegleitete Minderjährige für „verschwunden“
erklärt, weil sie aus den Aufnahmezentren weggelaufen waren, um
ihren Weg fortzusetzen und in andere europäische Länder zu
gelangen. Es
sind Jugendliche, die auf diese Weise unsichtbar werden, aus dem
Radar des Gesetzes verschwinden und sich infolgedessen noch mehr der
Gewalt und Ausbeutung aussetzen.
Die
Lage der Kinder ist schon besonders schwierig, aber die der
Jugendlichen über 18 nicht minder. Viele von ihnen
werden einfach aus
den
Zentren,
in
denen sie sich aufgehalten haben,
verjagt und
landen wie die anderen auch auf der Straße.
In
zehn Tagen treffen sich die Regierungen aller Länder bei den
Vereinten Nationen in New York. Sie wollen ihr konkretes Engagement
für die Menschen, die zur Flucht gezwungen sind, festlegen: dies ist
der Augenblick, in dem wir sie auffordern müssen, das Los dieser
Menschen zu ändern.
Fordere
die Italienische Regierung auf,
dass
sie sich dafür einsetzt, den Menschen, die zur Flucht gezwungen
wurden, Sicherheit, Würde und Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu
gewährleisten.
Unterzeichne
die Petition: Stand as One. Gemeinsam mit den Menschen, die flüchten
Übersetzung aus dem Italienischen von Petra Schneider