siciliamigranti.blogspot.com ist ein italienischsprachiges Monitoringprojekt zur Situation der Flüchtlinge in Sizilien, dort finden Sie die Original-Berichte, hier finden Sie die deutschen Übersetzungen. Klicken Sie auf die auf die Namen der Schlagworte (keywords), wenn Sie bestimmte Themen suchen.

Donnerstag, 8. September 2016

Täglich verschwinden 28 Kinder aus dem italienischen Aufnahmesystem


Die Zahl von Kindern und unbegleiteten Minderjährigen auf der Flucht, die dieses Jahr auf dem Weg über Italien Europa erreicht haben, hat sich verdoppelt. Sie treffen hier jedoch auf ein Aufnahmesystem, dem es nicht gelingt, ihnen die nötige Hilfe zu geben. Diesen Zustand will der neue, heute veröffentlichte Rapport von Oxfam „Große Hoffnungen die ins Leere laufen“ , aufdecken.




Man braucht sich nur einmal vorstellen, dass Tag für Tag 28 unbegleitete Kinder infolge eines wirkungslosen und ungeeigneten Aufnahmesystems schlichtweg „verschwinden“.

Viele von ihnen werden auf unbegrenzte Zeit in Lagern eingesperrt, die sie nicht verlassen dürfen. Sie sind gezwungen, an ungeeigneten und unsicheren Orten zu leben, bekommen keine Informationen über ihre Rechte. Andere haben Familienangehörige in anderen europäischen Ländern und wollen nicht in Italien dauerhaft bleiben. Die Folgen davon sind unvermeidlich. Manche verlassen heimlich die Aufnahmelager und leben ab da auf der Straße, wo sie noch größeren Risiken ausgesetzt sind. Ein Szenario, das die Unfähigkeit des europäischen und italienischen Umgangs mit dem Phänomen der Migration deutlich macht.

Italien - das Tor zu Europa: 15% der Ankommenden sind minderjährige unbegleitete Geflüchtete

Nach der Schließung der West - Balkanroute und dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei, wurde Italien noch einmal Ankunftsstelle für die nach Europa fliehenden Migrant*innen. Viele unter ihnen sind Minderjährige, die alleine gekommen sind. Nach den neuesten Zahlen, die das UNHCR herausgegeben hat, ist die Zahl der unbegleiteten, in Europa angekommenen Kinder 2016 deutlich gestiegen, so dass sie inzwischen 15% aller angekommenen Menschen ausmachen.

Ende Juli kamen laut UNHCR schon circa 13.705 unbegleitete Minderjährige in Italien an: eine größere Zahl als die Gesamtheit aller im Jahr 2015 Angekommenen (12.360 Kinder).



Trotz des Engagements der Zivilgesellschaft und vieler Gemeinden und Regionen scheint das italienische Aufnahmesystem immer noch ungeeignet, die unbegleiteten Kinder und ihre Rechte zu schützen.
Zum Beispiel sind die Hotspots, die von der EU und der italienischen Regierung eingerichtet wurden, um die Neuankommenden zu registrieren und die Zurückweisungs- und Abschiebungsvorgänge zu beschleunigen, chronisch überfüllt und bieten keine angemessenen Strukturen an - nicht einmal unter hygiene- und gesundheitstechnischen Aspekten.

Dies auch schon allein deshalb, weil viele Kids wochenlang dort festgesetzt sind, obwohl die maximale Höchstaufenthaltsdauer auf 48 - 72 Stunden festgelegt wurde, und sie nicht ihre Kleider wechseln (auch nicht die Unterwäsche) und ihre Eltern zu Hause oder Familienangehörige in Europa anrufen können.

Dringend nötig: Ein gemeinsames Handeln von Italien und Europa

Oxfam bittet deshalb die italienische Regierung und die europäischen Partner sofort zu intervenieren, um den unbegleiteten Minderjährigen angemessene und sichere Wohnplätze und die Hilfeleistungen zu garantieren, die sie benötigen, um unter würdigen Umständen leben zu können.

Die dramatische Situation, der die unbegleiteten Minderjährigen in Italien ausgesetzt sind, zeigt deutlich die Unfähigkeit der europäischen und der italienischen Regierung, die Kinder zu schützen, die auf der Suche nach Hilfe und einem Leben in Würde hierherkommen“ - erklärt die Leiterin der Kampagne von Oxfam Italia, Elisa Bacciotti. Sie zeigt so ein weiteres Mal das Versagen des europäischen Umgangs mit diesem Thema auf, weil die Verantwortung für die gemeinsame Außengrenze nur einigen wenigen Ländern zugewiesen wird. „Europa muss gemeinsam handeln, wenn es um die Aufnahme der Menschen geht, die aus Krisengebieten, vor Verfolgung und wegen unerträglicher Lebensumstände geflohen sind.“

Die Schilderungen der Jugendlichen, die alleine über das Mittelmeer gekommen sind

Größtenteils stammen die Kinder und Jugendlichen, die auf dem Weg übers Meer an der italienischen Küste ankommen, aus Ägypten, Gambia, Eritrea, Nigeria und Somalia. Sie fliehen aus dramatischen, von kriegerischen Konflikten, Unsicherheit und Armut geprägten Lebensumständen.

Ich habe Gambia zusammen mit meinem Bruder vor einem Jahr verlassen - erzählt O., 16 Jahre, aus Gambia - In meinem Land war ich nicht mehr sicher, die Polizei hat uns bedroht. Ein paar unserer Nachbarn wurden in bewaffneten Auseinandersetzungen umgebracht (…) Wir sind in einem Schlauchboot mit 118 anderen Personen losgefahren. Nach ein paar Stunden gab es so etwas wie eine Explosion, einen Brand: In diesem Chaos rutschte mein Bruder ins Wasser, Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Er hatte seine Schwimmweste mir gegeben.“

Die Lage in den Erst- und Folgeaufnahmelagern, in die die Minderjährigen nach der Registrierung gebracht werden, ist häufig nicht viel besser als die in den Hotspots: oft haben die Jugendlichen keine Möglichkeit, das Lager zu verlassen. Oxfam hat auch Aussagen gesammelt, die von Bedrohungen und Gewalttätigkeiten berichten, die von der Lagerleitung ignoriert wurden.

Im Lager von Pozzallo gibt es auch eine Gruppe von erwachsene Somali, die uns Eritreer*innen schlecht behandeln, die uns schlagen und beschimpfen, - erzählt D., ein eritreischer 17jähriger Jugendlicher - „Trotz unserer wiederholter Hinweise bei der Polizei und den Mitarbeiter*innen im Zentrum machen die Somali weiter und keine*r unternimmt etwas dagegen.

Schätzungsweise 40% der unbegleiteten Minderjährigen sitzt faktisch in Sizilien fest, oft in den kleinen Gemeinden der Ankunftsorte: das ist die Auswirkung einer nationalen Vorgabe, die stark die Möglichkeit einschränkt, dass andere Regionen Italiens für die Aufnahme dieser Kinder und Jugendlichen mitverantwortlich sein könnten, und verunmöglicht, dass sie in geeigneteren und würdigeren Strukturen und Einrichtungen aufgenommen werden könnten“, führt Bacciotti weiter aus, „Dieser Zustand der Dinge muss überwunden werden: Italien muss ein landesweites System schaffen, das wirklich fähig ist, den unbegleiteten Kindern hohe Standards bei der Aufnahme zu gewährleisten. Die anderen europäischen Regierungen müssten mit unserem Land kooperieren, um dieses Ziel zu erreichen. Dabei ist es außerdem vorrangig, dass alle Mitgliedstaaten der europäischen Union jegliche Form der Haft für Minderjährige abschaffen und verhindern. Es gibt wirklich keine Situation, in der die Haft von Minderjährigen vertretbar wäre, weil sie immer eine Verletzung der Rechte zum Schutz von Kindern ist.

Oxfam und die Partnerorganisationen in Sizilien, wie AccoglieRete und Borderline Sicilia, begegnen regelmäßig Jugendlichen, die erzählen, dass sie nicht informiert wurden über die Möglichkeit, Asyl zu beantragen oder ihr Recht, einen gesetzlichen Vormund zu bekommen. Ebensowenig eine Person, die zu ihrem Bestmöglichen handeln oder ihre Rechte schützen könnte. Die Zuteilung eines Vormunds kann jedoch auch bis zu mehreren Monaten dauern, und somit die Möglichkeit einer normalen Zukunft für diese Jugendlichen gefährden, weil sie den Prozess der Regularisierung und der Integration des einzelnen Jugendlichen stark verzögert.

Es ist wesentlich, den Vorgang zu beschleunigen, wenn eine Vormundschaft eingerichtet wird, so dass der/die Minderjährige sofort nach der Ankunft persönlich begleitet werden kann“ sagt Iolanda Genovese von AccoglieRete - einer Organisation, die seit Jahren sich dafür einsetzt, dass im Umgang mit minderjährigen unbegleiteten Geflüchteten eine Praxis des guten Schutzes propagiert wird. Dies hat in der Gegend von Syrakus z.B. schon zu einer beachtlichen Verringerung der Fälle von verschwundenen Jugendlichen geführt.

Über 5 000 „verschwundene“ Minderjährige in den ersten 6 Monaten dieses Jahres

In den ersten 6 Monaten im Jahr 2016 wurden 5.222 unbegleitete Minderjährige für „verschwunden“ erklärt, weil sie aus den Aufnahmezentren weggelaufen waren, um ihren Weg fortzusetzen und in andere europäische Länder zu gelangen. Es sind Jugendliche, die auf diese Weise unsichtbar werden, aus dem Radar des Gesetzes verschwinden und sich infolgedessen noch mehr der Gewalt und Ausbeutung aussetzen.

Die Lage der Kinder ist schon besonders schwierig, aber die der Jugendlichen über 18 nicht minder. Viele von ihnen werden einfach aus den Zentren, in denen sie sich aufgehalten haben, verjagt und landen wie die anderen auch auf der Straße.

In zehn Tagen treffen sich die Regierungen aller Länder bei den Vereinten Nationen in New York. Sie wollen ihr konkretes Engagement für die Menschen, die zur Flucht gezwungen sind, festlegen: dies ist der Augenblick, in dem wir sie auffordern müssen, das Los dieser Menschen zu ändern.

Fordere die Italienische Regierung auf, dass sie sich dafür einsetzt, den Menschen, die zur Flucht gezwungen wurden, Sicherheit, Würde und Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu gewährleisten.


Übersetzung aus dem Italienischen von Petra Schneider