“New
guys arrive but their problems are not over”, so der Kommentar
einiger Personen zu der Ankunft weiterer Migrant*innen vor
dem Hotspot
von Pozzallo. „Es sind weitere Leute
angekommen, aber ihre Probleme sind noch nicht zu Ende“. Gestern
sind nochmals 286 Migrant*innen am Hafen angekommen, unter ihnen ca.
20 unbegleitete Minderjährige. Kids
im
Alter von
15, 16, 17 Jahren
aber auch jüngere 13jährige sind dabei, wie die jungen
Migrant*innen mit denen wir gerade sprechen wollen. Letzten
Donnerstag hat eine Delegation der OSZE (Organisation für die
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) den Hotspot
von Pozzallo besucht, nachdem sie das
Aufnahmezentrum
in Mineo besucht hatte. In den Tagen zuvor hatten wir eine große
Anzahl Verlegungen vom Hotspot
in die umliegenden Zentren beobachtet. Unter den verlegten
Migrant*innen waren auch etliche unbegleitete Minderjährige, die
demzufolge während
des
offiziellen Besuchs
nicht im Hotspot
waren.
Einige
Minderjährige, die wir heute getroffen haben, haben uns eben
erzählt, dass sie vor 5 Tagen in das neue Erstaufnahmezentrum
verlegt wurden, eines
der CAS* für Minderjährige, das die Präfektur Ragusa eröffnet
hat. Das Zentrum befindet sich in Pozzallo und wird von der
Genossenschaft Azione
Sociale
geführt, die auch bis Ende Juli den Hotspot
geführt hatte. „Wir sind 25 Jugendliche dort, auf Zimmern mit
3-4 Schlafplätzen verteilt. Das neue Zentrum ist viel besser als das
alte am Hafen, obwohl wir immer noch nicht verstanden haben, worauf
wir warten und wie lange wir dort bleiben werden. Dort gibt es
Mediator*innen, die Englisch, Französisch und Arabisch sprechen. Bis
heute haben wir keine neue Kleidung,
oder irgendetwas Neues bekommen, wir warten nur“. An der
Bushaltestelle treffen die Gäste des neuen Zentrums diejenigen, die
noch im Hotspot
leben. „Wir sind nicht nach Italien gekommen, um auf den Parkbänken
zu sitzen, wir wollen in die Schule gehen, arbeiten, irgendwas tun“,
erzählen uns die jungen
Menschen.
Sie wollen wissen, wann die Sprachkurse anfangen, ob es in der Stadt
eine Moschee gibt, oder einen Fußballplatz neben dem Strand. „In
Zentrum gibt es keine italienische Sprachkurse, sie
haben
uns gesagt, dass wir später die Schule besuchen werden. Wollen wir
es hoffen!!“. A. ist im neuen CAS* untergebracht, zusammen mit
weiteren Jungs wie er aus Gambia und anderen aus Guinea Conakry,
Nigeria und Mali. Viele von ihnen sind vor einer Woche in Italien
angekommen, zehn Tage später sind
die
französischsprechenden Jungs immer noch im hotspot und fragen sich
warum. „Wir leben seit ca. 3 Wochen im Zentrum am Hafen. Sie haben
unsere Fingerabdrücke genommen, die Polizei und Frontex haben uns
Fragen gestellt in Bezug auf unsere Reise und dann haben sie uns
gesagt, dass wir warten müssen, weil alle Plätze für Minderjährige
belegt
sind. Aber wir sind sehr müde!“ Keiner von ihnen weiß, dass ihr
verlängerter Aufenthalt im Hotspot
unrechtmäßig ist. Die im Zentrum befindlichen NGOs
geben Auskunft bezüglich der Prozedur um Papiere zu bekommen,
bezüglich der Möglichkeit der Familienzusammenführung und des
Schutzes. Aber
anscheinend erklärt niemand den Migrant*innen wie das sogenannte
italienische Aufnahmesystem funktioniert und der Grund dafür ist
ziemlich offenkundig.
Der
neue Betreiber des Hotspots,
die Genossenschaft Domus
Caritatis
aus Rom, händigt den Migrant*innen jeden Tag einen
Einkaufsgutschein über 2,50
€
aus, um Essen und Bedarfsartikel im Dorf kaufen zu können. Jeder hat
das Recht jeden zweiten Tag eine 5 € Telefonkarte zu bekommen, die
jedoch nicht ausreicht, um eine vernünftige Konversation zu führen,
weil nach wenigen Minuten das Guthaben verbraucht ist. „Im Zentrum
(im Hotspot)
sind wir viele, viel zu viele. Sie haben uns Wechselkleidung gegeben,
ein wenig zu warm, und ein paar Schuhe (und sie zeigen uns die
Flip-Flops mit denen sie über die Felsen laufen müssen), wir haben
Shampoo, obwohl das Wasser immer eisig kalt ist und wir bekommen zwei
Mal am Tag Nudeln, aber zum Glück können wir uns mit dem Gutschein
auch etwas Anderes kaufen. Und jeden Tag gibt es
Italienischunterricht. Wir würden aber gerne wissen, wo wir
letztendlich
hinkommen, wann und wo wir endlich unsere Papiere bekommen werden und
somit ein wenig Autonomie erlangen können“.
Die
Bemühungen des Betreibers des Hotspots wird den Minderjährigen
folgendermaßen dargestellt: sie erhalten die minimale
Grundversorgung,
auch nach Ablauf
der gesetzlich vorgeschriebenen maximalen Aufenthaltszeit von
72 Stunden; es
wird ihnen erlaubt, tagsüber
in die Stadt zu laufen; und die eigene Tätigkeit in einem ständigen
„Ausnahmezustand“
auf die bestmögliche Art
weiterzuführen.
Das sind die Errungenschaften des Betreibers, wie sie den
Minderjährigen, die im Hotspot
leben, erklärt
werden.
Die Informationen bezüglich des Systems, in dem sie stecken, sind
rar; genauso
rar sind die Mögichkeiten,
sich der eigenen Pflichten und Rechte bewusst zu werden. Das
alles,
um die unrechtmäßigen Verlegungspraktiken
weiterhin auszuführen
und die Migrant*innen als Zahlen
und
nicht als Menschen kontrollieren
und verwalten
zu können. Der Schutz der Minderjährigen wird immer mehr zu einer
Herausforderung, und
gilt nicht als eine Verantwortung, eine
Pflicht und eine erzieherische Aufgabe.
Am
Mittwoch, 31. August sind wir wieder zum Aufnahmezentrum
für unbegleitete Minderjährige in San Michele di Ganzaria gefahren.
Dort
haben uns die
neue Koordinatorin und Verantwortliche
für
die Aufsicht der Zentren für
unbegleitete
Minderjährige, die von der Genossenschaft San Francesco geführt
werden, von
den Vorfällen
und der
Organisation
der
Einrichtung erzählt.
„Wir geben zu, falsche Entscheidungen in den
ersten Wochen des Zentrums getroffen zu haben, aber seit August haben
wir ein neues Team. Leider haben die Fehler in der Organisation, die
in den ersten Wochen gemacht wurden, zu untragbaren
Verhältnissen geführt, mit Streitereien und Auseinandersetzungen,
innerhalb
und außerhalb des Zentrums, und das hat sich auch noch negativ auf
die Wahrnehmung unserer Gäste
bei der Bevölkerung ausgewirkt“, erzählen sie uns. Ungeeignete
Organisationsentscheidungen und neue zur Verfügung gestellte
Mitteln, die wir in der Zukunft besser analysieren werden und über
die wir später noch berichten werden. Gleich geblieben ist bis heute
der Standort der Einrichtung,
deren Eröffnung von der Region Sizilien autorisiert wurde, und zwar
auf einem kleinen Hügel mitten zwischen Feldern nur durch eine
kurvenreiche, etliche Kilometer
lange Straße mit den nächsten Dörfern San Cono und San Michele di
Ganzaria verbunden.
Ausgerechnet
eine der Verantwortlichen
informiert uns über
die
Festnahme, die einige Stunden zuvor stattgefunden hat, von weiteren
Migrant*innen, die in Zentren für unbegleitete Minderjährige
untergebracht waren. Der Vorfall ereignet sich in dem
Erstaufnahmezentrum für unbegleitete Minderjährige, das bis vor
einigen Tagen als ein „hoch-spezialisiertes“ Zentrum eingestuft
wurde und das von der gleichen Genossenschaft San
Francesco in Caltagirone
geführt wird. Eine Gruppe von
Migrant*innen
hatte zu protestieren angefangen, um
das
Taschengeld
zu
reklamieren.
Der
Protest endete mit der Festnahme zweier
vor Kurzem
volljährig gewordener
Migrant*innen und der Anzeige von
5
weiteren Bewohner*innen
der Einrichtung
seitens der von den Mitarbeiter*innen
gerufenen Polizei. Solche Vorfälle wiederholen sich in letzter Zeit
immer häufiger. Ein
ähnliches Ereignis ist vor einigen Wochen in der Einrichtung
in San Michele vorgekommen. Fehlende Ausgabe des
Taschengelds;
lückenhafte Erklärungen seitens des Personals; wachsende
Unduldsamkeit der Gäste; Proteste der Migrant*innen und
Einsperrung des Personals in die Büros; Ankunft der Polizei;
Festnahme, Anzeigen und Widerruf der Aufnahmegenehmigung für etliche
volljährige Migrant*innen. Das komplette Chaos! Nachdem einige
ägyptische Minderjährige angegriffen wurden, sind all ihre
Landsleute von San Michele nach Caltagirone verlegt worden und haben
somit Platz gemacht für die angezeigten jungen Migrant*innen in San
Michele. Der Konflikt ist sozusagen entfernt worden, ohne ihn zu
analysieren und anzugehen, in der Erwartung des nächsten
Gewaltausbruchs.
Die
wiederholten Eingriffe der Polizei kennzeichnen besorgniserregende
Führungs- und Vermittlungsunfähigkeit und das Fehlen einer
erzieherischen Herangehensweise, die in einem Zentrum für
Minderjährige unabdingbar ist, um so mehr wenn Traumata und
Konflikten zu der Geschichte der Minderjährigen gehören. Leider
scheinen Zwang und kontinuierliche Trotzreaktionen die Merkmale der
Beziehungen zwischen Mitarbeiter*innen
und Minderjährigen in vielen Zentren zu sein; Der Dialog und der
Wille zu
einer
gemeinsamen Erziehungsleistung
kommen gar nicht in den vielen
Zeugenschaften,
gleichermaßen von Migrant*innen und Mitarbeiter*innen,
vor,
die wir gesammelt haben.
“In
diesem Ort ist jede Kommunikation unmöglich. Wer nach Erklärungen
fragt, der bekommt schwammige Antworten und wenn er insistiert,
bekommt er noch Drohungen.
Sie sagen uns, dass wir aus dem Zentrum entlassen werden, oder dass
wir unsere Papiere nicht bekommen werden, oder sie rufen die
Polizei“, erzählen uns Gruppen von Migrant*innen, die
Bewohner*innen
in verschiedenen Erst- und Zweitaufnahmezentren sind und die wir
regelmäßig treffen. Oft sind es nicht die technischen oder
organisatorischen Fragen, die uns beunruhigen, sondern vielmehr das
Klima, das von Spannung und fast komplettem Misstrauen den
Mitarbeiter*innen
gegenüber gekennzeichnet ist. „Falls wir die Regeln nicht befolgen
oder uns beschweren, können die Verantwortlichen Berichte schreiben
und wir werden dann unsere Papiere nicht bekommen. Wir haben deswegen
Angst. Keiner von uns will in diesem Ort bleiben, in der Tat
versuchen manche schon nach ein paar Tagen wegzugehen oder in die
Zentren zurückzukehren, in
denen
sie früher untergebracht waren“, sagen uns andere. Und wiederum
Andere
sagen: „Die Polizei kommt mindestens einmal in der Woche ins
Zentrum, es geht um das Essen, um die Papiere, um das
Taschengeld.
Am Anfang, als
die
Mitarbeiter*innen
uns bezüglich unserer
Papiere nichts sagen wollten, haben wir auch unsererseits die Polizei
um Hilfe gebeten um dann feststellen zu müssen, dass sie nichts
machen kann“. Entgleisung
des Wohlfahrtsstaates, fehlende Professionalität und Kontrolle
ersetzen den Schutz und die Auseinandersetzung, die notwendig wären,
um die unvermeidbare Konfliktsituation positiv zu handeln.
„Es
ist schwierig mit
diesen
Jungs umzugehen.
Sie verstehen nicht ihre Pflichten und sie sehen nicht ein, wie
glücklich sie sein sollten, mit dem was sie haben. Sie sollten uns
dankbar sein, weil sie hier sind“. „Sie sollten italienisch
sprechen, weil wir ja in Italien sind“. “Sie erwarten immer
mehr”. Diese Sätze hören wir immer wieder von den
Mitarbeiter*innen,
die in den Zentren arbeiten, aus denen die Minderjährigen eindeutig
flüchten
wollen. Die Verantwortlichkeit für die Ereignisse wird immer den
Minderjährigen zugeschoben oder dem „System“, das die
Migrationsbewegungen
verwaltet, oder den Institutionen oder den Gerichten oder auch
Europa….Als wenn die Betreiber der Zentren nicht auch einen
wichtigen Teil der Migrationspolitik wären. In den Gesprächen mit
den Mitarbeiter*innen
und den Verantwortlichen stellen wir fest, dass es fast unmöglich
ist, die Schwierigkeiten der jungen Migrant*innen anzusprechen, ohne
dass das Gespräch zu den organisierten Aktivitäten, die in den
jeweiligen Zentren angeboten werden, geführt wird: wie z. B.
Fußballspiele, Ausflüge, Treffen mit Migrant*innen aus anderen
Zentren usw. Diese Aktivitäten sind zweifelsohne lobenswert, aber
sehr oft werden sie nicht durch individuellen Schutz begleitet, der
als Fundament für eine würdige Aufnahme gelten sollte. Die oben
erwähnten Kommentare sollten natürlich nicht aus dem Kontext
genommen werden, jedoch geben sie ein Bild der neuen Ankömmlinge
wieder, als wenn sie undankbare immer konfrontationsbereite junge
Menschen
wären, und offenbaren eine starke Abneigung gegenüber einer
Auseinandersetzung. Wie kann es sein, dass diese Migrant*innen
kaum
aus dem Kindesalter heraus gewachsen sind
und bereits
einen starken Widerstand und ein großes Misstrauen dem System, das
sie nicht kennen, entgegen bringen? Einem System, dem sie sich nicht
zugehörig fühlen und das sie nicht schützt? Warum gestehen wir
einem flüchtenden Heranwachsenden nicht die gleichen Wünsche und
das gleiche Bedürfnis nach Anerkennung und Veränderungen zu, wie
jedem anderen italienischen Jugendlichen? Der Alltag in den Zentren
ist für die Medien
uninteressant, er empört und bewegt nicht wie die Rettungsszenen
oder die Bilder der Ankünfte, aber die Migrant*innen, die die
Hauptrolle spielen, sind die gleichen. Leider werden sie immer öfter
nur als Gesichter, Symbole oder gar Zahlen wahrgenommen, sogar von
denen, die für ihren Schutz zuständig sein sollten.
Lucia
Borghi
Borderline
Sicilia
*CAS
- Centro di accoglienza straordinaria Außerordentliches
Aufnahmezentrum
Aus
dem Italienischen von A. Monteggia übersetzt