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Dienstag, 1. Dezember 2015

Newsletter SICILIAMIGRANTI November 2015


  • Hotspot, Zurückweisungen und Abschiebungen: Weitere Zuwiderhandlungen und widerrechtliche Verfahren in Italien
  • Sorgen um die, die ankommen und Andenken an die, die es nicht geschafft haben
  • Existenzaufbau in Italien: die bewährten Praktiken einiger Zentren in der Provinz Ragusa
  • Die Ausbeutung der Migranten ist ein offenes Geheimnis. Der Fall des Lagers in der Gemeinde  Campobello di Mazara
  • News und Events: die Roadmap kommt und das Recht auf Asyl wird zur Utopie

HOTSPOT, ZURÜCKWEISUNGEN UND ABSCHIEBUNGEN: WEITERE ZUWIDERHANDLUNGEN UND WIDERRECHTLICHE VERFAHREN IN ITALIEN

Italien vernachlässigt das Asylrecht, um die europäischen Anforderungen zu erfüllen.
In Pozzallo prangert Ärzte ohne Grenze öffentlich das an, was während und nach der Ankunft der Migranten passiert und berichtet darüber in der Parlamentarischen Enquetekommission, die sich mit dem Thema Aufnahme beschäftigt. Mangelnde Informationsvermittlung und keine angemessene Unterstützung für die Asylsuchenden, Anwendung von Täuschungen, um an die Fingerabdrücke zu gelangen: Das sind nur einige der Indizien, die den Verdacht erregen, dass hier schleichend eine vorläufige Festnahme eingeführt wird, ohne richterliche Kontrolle und unter Missachtung der Grundrechte der Migranten, die nicht sofort abgeschoben, sondern in einem unwürdigen Ort festgehalten werden. Auch der Zustand des Zentrums in Pozzallo ist weit entfernt von den Mindeststandards: Es handelt sich um einen inakzeptablen Zustand, der eines dringenden und strukturierten Einschreitens bedarf.

Die Widerrechtlichkeit einiger Verfahrensweisen betrifft teilweise auch besonders schutzbedürftige unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die bei der Ankunft fälschlicherweise als volljährig registriert und demnach zu einem späteren Zeitpunkt abgewiesen werden. Auch in den Anprangerungen durch den UNHCR und Save The Children wird über den Mangel an Informationsvermittlung vor dem polizeilichen screening gesprochen und das Schicksal von Jugendlichen, die schwere Gewalttaten erlitten haben, ruht in den Händen von wenigen hartnäckigen Rechtsanwälten und Aktivisten.

Aber die Unverschämtheit geht noch weiter: Die italienische Regierung stellt die europäischen Interessen vor die Beachtung der Menschenrechte und beteiligt sich stillschweigend an der Abwicklung einer Erstaufnahme, die wirtschaftliche Faktoren in den Vordergrund stellt. Immer mehr Asylsuchende bekommen einen Abschiebungsverweis im Anschluss an die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz durch die Präfektur von Agrigent. Ein rechtswidriges Verfahren den Migranten gegenüber, denen das Recht zusteht, Einspruch gegen die Ablehnung einzulegen und denen, weil sie noch als Asylsuchende zu betrachten wären,  auch ein Obdach zustünde und die hingegen auf die Straße geschickt werden, wo sie komplett schutzlos der Ausbeutung ausgeliefert sind. In einer Pressemitteilung fordert Borderline Sicilia ein Treffen mit den zuständigen Präfekturen bezüglich der neuen Verfahren, die ihren Ursprung in den Richtlinien der neuen Road Map des Innenministeriums finden.
http://siciliamigrants.blogspot.de/2015/11/die-fabrik-der-irregularen.html 

SORGEN UM DIE, DIE ANKOMMEN UND ANDENKEN AN DIE, DIE ES NICHT GESCHAFFT HABEN

Weitere hunderte Migranten kommen auf Sizilien an und jedesmal kommt die Befürchtung wieder auf, dass ihnen gegenüber rechtswidrige Verfahren angewandt werden und das neben der Angst, dass die Unterbringung menschenunwürdig sein könnte. Es geht sogar so weit, dass bezweifelt wird, ob überhaupt die Möglichkeit des Antrags auf Schutz, der Rechtsauskunft und der Hilfeleistung besteht. Es herrscht außerdem weiterhin Unsicherheit bezüglich der Behandlung der Migranten, die auf andere Länder aufgeteilt werden sollen.

Bei jeder Ankunft werden vermeintliche Schlepper festgenommen und über diese Tatsache wird in den Medien ganz groß berichtet, viel mehr als über die katastrophale Lage in den Herkunftsländern der Migranten. Diese Menschen werden nur als eine Zahl in der Statistik geführt und nicht als Menschen mit einer Geschichte wahrgenommen. Von ihnen erzählen uns die Flüchtlinge, die als Zeugen darüber befragt werden, wer denn das Boot gesteuert hat, in dem sie angekommen sind. Diese „Schleuser“ sind Männer und Jugendliche, die gemeinsam mit den anderen Migranten Gewalt und Willkür erlebt haben.

Die Lage in vielen Aufnahmezentren ist für die Migranten unerträglich, auch weil sie sich nicht verständigen können. In vielen Zentren sind die Leistungen auf ein Minimum reduziert und die Migranten sind sich selbst überlassen: In so einer Situation ist das Warten auf die Papiere nicht auszuhalten. Eine neue Herangehensweise, gekennzeichnet von Respekt und dem Wunsch den Gegenüber kennenzulernen, könnte den Unterschied machen, obwohl die bürokratischen Hürden das zentrale Problem bleiben. Siehe hierzu die Beispiele des Zentrums in Canicattini und S. Giuseppe Iato unweit von Palermo.

Auch die aus Christen, Juden und Muslime bestehende Gruppe, die sich an dem palermitanischen Friedhof Rotoli trifft, um die gestorbenen Migranten mit einem Gebet zu ehren, bekräftigt wie wichtig es sei, die Gleichgültigkeit zu bekämpfen und über die einzelne Schicksale zu berichten. Der Respekt dem Leben gegenüber und die Rechte jedes Menschen lassen die Forderungen nach humanitären Kanälen stärker werden und der Anspruch auf menschenwürdige Unterbringung in den Ankunftshäfen und im Angesicht des Todes wird immer lauter eingeklagt.

EXISTENZAUFBAU IN ITALIEN: DIE BEWÄHRTEN PRAKTIKEN EINIGER ZENTREN IN DER PROVINZ RAGUSA

Die Tatsache, dass die Flüchtlingsaufnahme wie ein Notfall gehandhabt wird, hat dazu geführt, dass das Wort Aufnahme seinen Sinn verloren hat. Jene Menschen, die Italien erreichen, haben nicht nur das Recht auf eine würdevolle Unterstützung, sondern sie haben auch das Recht an ihre eigene Zukunft als freie und autonome Bürger des neuen Auffangstaates zu denken. Glücklicherweise gibt es einige Zentren, in denen das Konzept der Aufnahme im besten Sinne realisiert wird und nicht nur ein niedergeschriebenes Ziel bleibt. So zum Beispiel im hochspezialisierten Zentrum für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Ragusa. Dort versuchen die Mitarbeiter die vorgeschriebenen Dienste zu optimieren und vor allem den künftigen Wohlstand ihrer Bewohner im Auge zu haben ohne diese, im empfindlichen Moment nach der Ankunft allein zu lassen. Auch im außerordentlichen Aufnahmezentrum für Frauen und Männer, Villa Tedeschi in Modica muss den unzähligen Schwierigkeiten, verursacht durch die Schwerfälligkeit der Bürokratie, die Erwartungen und das Unverständnis getrotzt werden. In der Villa Tedeschi versucht man viel Aufmerksamkeit auf den Aufbau von Netzwerke vor Ort, die Momente der Anteilnahme sowie auf das Zusammenleben zu lenken. Dies hilft den Migranten ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen; Zwar in kleinen Schritten, aber dennoch wichtige Beziehungen zu knüpfen, die die Integration erleichtern.

DIE AUSBEUTUNG IST EIN OFFENES GEHEIMNIS. DER FALL DES LAGERS IN DER GEMEINDE CAMPOBELLO DI MAZARA

Wie es scheint sind Migranten in Italien nur dann willkommen, wenn sie ihre Arme zum Arbeiten einsetzen. Für den wirtschaftlichen Profit so mancher, sind sie als Arbeitskräfte unentbehrlich. So auch in der kleinen Gemeinde Campobello di Mazara, wo ihre Mithilfe bei der Olivenernte seit mittlerweile mehr als zehn Jahren von den Einrichtungen, den Politikern und den Landbesitzern stillschweigend hingenommen wird. Sie alle tolerieren die Ausbeutung hunderter Migranten, die keine andere Arbeit kriegen können und die zudem erpressbar und verzweifelt sind. Im Lager neben den Feldern treffen wir auf solidarische Bürgerinnen und Bürger, die sich unter großen Mühen dafür einsetzten, dass die Bedingungen angemessen bleiben. Sie sensibilisieren die Arbeiter in Bezug auf die Ausbeutung und ihre Vertragskraft. Außerdem treffen wir auf Migranten, von denen wir nie geglaubt hätten, sie hier anzutreffen.

NEWS UND EVENTS: DIE ROADMAP KOMMT UND DAS RECHT AUF ASYL WIRD ZUR UTOPIE

Mit der Unterzeichnung der Roadmap beginnt Italien die Einwanderungsvereinbarungen, die es mit Europa geschlossen hat, auszuführen: der Ausbau der Abkommen mit afrikanischen Staaten, darunter Nigeria und Gambia; die Anwesenheit von Konsulatsmitarbeiter während der Identifizierungsphase; die Rückführungen in die Heimatländer und die Übersiedelungen in die Identifikations- und Abschiebezentren. Das sind nur einige Punkte der Vereinbarung, doch sie lassen den blinden Anstieg der Abschiebungen und Zurückführungen bereits erahnen. Im Gegensatz dazu vervielfacht sich die Zahl der Asyl-Ablehnungen und die Anhörungen bei der Kommission werden für jene, die es schaffen auf italienischem Territorium zu bleiben und um Asyl anzufragen, immer unsorgfältiger.
Mehr Infos in italiensicher Sprache zur neuen Road Map finden Sie unter: http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/resources/ministry_of_interior_roadmap_for_relocation.pdf

Veröffentlicht von Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von Antonella Monteggia und Elisa Tappeiner