siciliamigranti.blogspot.com ist ein italienischsprachiges Monitoringprojekt zur Situation der Flüchtlinge in Sizilien, dort finden Sie die Original-Berichte, hier finden Sie die deutschen Übersetzungen. Klicken Sie auf die auf die Namen der Schlagworte (keywords), wenn Sie bestimmte Themen suchen.

Mittwoch, 2. Dezember 2015

Das Schweigen über Lampedusa. Die Schande von Agrigent

Allwöchentlich landen auf Lampedusa kleinere Boote an mit 15-20 Personen an Bord. Sie kommen aus Libyen oder Tunesien. Am 23. November sind in Lampedusa 130 Migranten von Bord gegangen. Weder die Zeitungen noch das Fernsehen berichten darüber. Warum?
Den Grund dafür vermuten wir (nach dem neuerlichen Durchlesen der «Road Map», den Strategien für die Migrationspolitik) im Druck, den die Europäische Union auf die italienische Regierung ausübt. Die Politiker überlassen die Umsetzung und Durchführung der Aufnahmeverfahren dem Ermessen der jeweiligen italienischen oder europäischen Polizeiorgane und das ohne juristische Rechtmässigkeit und Zuständigkeit. Dieses Vorgehen ist unrechtmässig und ungesetzlich, denn es hat unmenschliche und entwürdigende Behandlung der Person zur Folge.

Wir beginnen auf Lampedusa: im dortigen «Hotspot» werden «Voridentifizierungen» durchgeführt durch die Polizei und das in Zusammenarbeit mit den Funktionären von Frontex, die nunmehr fest auf der Insel stationiert sind. Die Migrant*innen, mit denen wir in Palermo, Agrigent und Catania gesprochen haben, berichten, dass sie lediglich nach ihrem Namen, ihrem Geburtsdatum und ihrer Nationalität gefragt wurden. Über den Grund ihrer Flucht nach Italien, ob sie Asyl beantragen, ob sie in ihr Heimatland zurückkehren können, wurden sie nicht befragt. Aber, vor allem wurden sie nicht, wie gesetzlich vorgeschrieben, über ihre Rechte in Kenntnis gesetzt.

Unmittelbar nach ihrer Ankunft werden die Migrant*innen aufgeteilt: auf der einen Seite die möglichen Asylbewerber*innen (wir vermuten auf Grund ihrer Nationalität) und auf der andern die, welche als «Kanonenfutter» betrachtet werden. Die ersteren werden im Empfangszentrum der Insel zur rechtmässigen Identifikation mit Foto registriert. Die anderen werden sofort weiter transferiert: mit der Fähre nach Porto Empedocle, mit dem Flugzeug nach Rom, Palermo und Catania und das aufgrund ihrer Nationalität. Die Menschen aus Nigeria werden nach Rom ins das CIE** Ponte Galeria (solange dort Platz ist) gebracht. Die aus dem Maghreb, vor allem die aus Tunesien, werden nach Palermo geflogen. Vom Flugplatz Falcone Borsellino werden sie direkt in ihre Heimatländer zurückgeführt. Die Migranten aus Ägypten werden für ihre Repatriierung nach Catania gebracht.

Wenn die Asylbewerber*innen sich weigern, sich ihre Fingerabdrücke abnehmen zu lassen, geraten sie in einen Machtkampf mit den Ordnungskräften, der in den letzten Monaten während der Experimentierphasen in den neu eröffneten «Hotspots» immer wieder zu Hungerstreiks unter den Asylbewerber*innen geführt hat.

Aber es geht um mehr. Diejenigen Asylbewerber*innen, die seit letztem Monat auf Anordnung der Territorialkommission in Agrigent festgehalten werden, weil sie als nicht schutzwürdig befunden wurden, haben eine Ausweisungsverfügung erhalten. Das ist ungesetzlich und im Fall eines minderjährigen Nigerianers absurd. Denn die Motivation für seine Ausweisungsverfügung war, dass er in kürze volljährig wird und als solcher ausgewiesen werden wird. Wir schliessen daraus, dass dieses Vorgehen gegenüber der Minderjährigen systematisch angewendet wird.
Zudem sind Migrant*innen verschiedener Nationen, aus dem Senegal, aus Mali, Nigeria, Gambia, Pakistan und Afghanistan in den letzten Wochen mit einem Ablehnungsentscheid der Territorialkommission konfrontiert worden. Das wäre nichts Aussergewöhnliches. Aber -  laut der italienischen Verfassung – muss jemand, dessen oder deren Antrag auf internationalen Schutz als Flüchtling noch nicht abgelehnt worden ist, als Asylbewerber*in mit all den damit verbundenen Rechten (auch seinem/ihrem Recht auf Klage gegen den negativen Entscheid) behandelt werden.
Aber weil der menschlichen Phantasie keine Grenzen gesetzt sind (und in der Provinz Agrigent machen sie wahrlich davon Gebrauch) stellt die Polizeibehörde der «Stadt der Tempel» die Ausweisungsverfügungen aus, bevor der Ausgang der Anhörung vor der Kommission bekannt ist.

Wer also weder in einem CIE** noch in einem Flugzeug Platz findet, jedoch auch keine Möglichkeit hat, sich frei zu bewegen, landet auf der Strasse. Von den gesetzeswidrigen Kollektiventscheiden sind auch Schwangere, Minderjährige, potenzielle Asylbewerber und besonders Schutzbedürftige (in ihrer Gesundheit gefährdete Personen) betroffen.  
Italien ist in erster Linie damit beschäftigt, den Terrorismus zu bekämpfen. Darüber hinaus begegnet das Land der Migration mit illegalen und schadenverursachenden Vorkehrungen, die sich auf das öffentliche Leben auswirken: Hunderte von Personen werden auf die Strasse gesetzt, ohne einen Schlafplatz, ohne Verpflegung, ohne einen Euro in der Tasche um Grundbedürfnisse zu stillen, ohne Kenntnis der italienischen Sprache und ihrer Rechte und Pflichten in diesem Land und ausgeschlossen vom legitimen Recht ihrer Verteidigung.
Es sind hunderte von Menschen aus Nigeria, Gambia, Pakistan, Mali, Senegal. Sie kommen aus kriegsbetroffenen, benachteiligten Ländern, wo diktatorische Regierungen oder Krieg und Chaos herrschen. Diese blutigen Regime werden aus ökonomischem Interesse vom O gestützt, denn aus dem Fortdauern der Instabilität in jenen Teilen der Welt zieht der Westen Gewinn.
Etwas stimmt da nicht. Dann ist es also nicht unsere Absicht, die Menschen zu empfangen, die Lebensgeschichte jeder einzelnen Person, die in Freiheit Leben will in Betracht zu ziehen. Stattdessen mauern wir uns ein in Stereotype, die in Italien und Europa Initiativen schüren, die von faschistischem und neonazistischem Gedankengut inspiriert sind. Die Folge davon ist, dass Menschenhändler und skrupellosen Arbeitgeber genau davon profitieren.

Vor ein paar Tagen haben wir mit A. gesprochen, ein früh gealtert scheinender Mann, der uns mit Feingefühl und Bescheidenheit über seine Erfahrungen berichtet: «Ich bin ein Mensch, der alle Hoffnung verloren hat. Ich bin zerstört. Man hat mir berichtet, dass ich in Italien frei sein, dass ich Arbeit suchen könne um meine fünf Kinder zu ernähren, die ich zuhause zurückgelassen habe. Stattdessen bin ich hier mit der Polizei konfrontiert, die mich nicht anhört. Es wird mir nur gesagt, dass ich kein Asyl beantragen kann, dass ich nach Rom muss, um in mein Land zurückzukehren. Warum helft ihr Menschen in Schwierigkeiten nicht? Ich bin nicht schlecht, ich bin 56 Jahre alt und kann meine Familie nicht ernähren, weil mein Land zerstört und voller Gewalt ist und weil es keine Arbeit gibt. Was würdest du an meiner Stelle tun? Wenn du Kinder hast, was wärest du bereit zu tun, wenn dein Kind dich um ein Stück Brot bittet, weil es Hunger hat? Ich habe mehrmals mein Leben und das meiner Familie riskiert, die auf mich zählt als Ernährer. Ich bin ein zerstörter Mann. Italien ist viel schlimmer als das, was ich auf meiner Reise erlebt habe, schlimmer als die erlittene Gewalt. Denn als sie mich geschlagen und bestohlen haben, blieb mir die Hoffnung auf Italien, die mir Kraft gab. Stattdessen sagt ihr mir, dass ich nach Hause muss. Wie kann ich nun meinen Kindern begegnen?»

A. ein 56 Jahre alter Mann, der uns wie ein 80 Jähriger erscheint, der vom Schmerz zerstört ist, das lesen wir in seinen Augen. Seine zerbrechlichen Glieder stecken in einem Trainingsanzug unter einer Decke. Wir sind ihm vor dem Polizeipräsidium in Palermo begegnet zusammen mit anderen Leidensgefährten, mit dem Bescheid der Zurückweisung in der Hand und der Hoffnungslosigkeit im Herzen.

A. wird (wie viele seiner Leidensgenossen auch von den anderen Polizeiquästuren Siziliens) zurückgewiesen. Die Migranten aus Lampedusa bekommen in Agrigent oder sogar schon auf der Fähre nach Porto Empedocle den verzögerten Abschiebungsverweis, wie wir schon in früheren Artikeln dargelegt haben. Sie werden oft in ländlichen unbewohnten Gebieten zurückgelassen, von wo aus sie sich alleine durchschlagen müssen «um dem inneren und äusseren Tod zu entrinnen und wegen seiner Kinder», wie A. erzählt.
Bevor wir uns verabschieden bittet uns A. seine Familie benachrichtigen zu können, dass er heil in Italien angekommen sei, weil ihm das bis jetzt nicht ermöglicht wurde.
Auch zum Tode Verurteilte haben das Anrecht auf ein Telefongespräch. Aber hier handelt es sich um Pakistaner, Nigerianer*innen, um Personen der Kategorie B, die offenbar noch weniger wert sind!

Das gleiche Schicksal ist auch drei jungen Männern aus Gambia widerfahren, denen wir letzte Woche begegnet sind. Auch sie sind in Lampedusa gelandet, wo sie sofort von den Mitreisenden aus Somalia getrennt wurden. Mit andern 15 Migranten erhielten sie auf der Fähre nach Porto Empedocle die Rückweisungsverfügung. Auch sie wurden nicht befragt zu ihren Migrationsgründen, sie mussten nur den Namen und vor allem ihre Nationalität angeben. In Porto Empedocle wurden sie ihrem Schicksal überlassen. Einige von ihnen haben sich über die Numero Verde mit dem ARCI* in Verbindung gesetzt, andere mit Organisationen, die vor Ort erreichbar waren, um eine Unterkunft zu finden. Andere sind sofort weitergereist.

Diese Leute aus Gambia werden von einem ehrenamtlichen Anwalt betreut, der bei der Polizeibehörde von Agrigent für sie den Antrag auf internationalen Schutz einreichen wird. Aber zuvor brauchen sie eine Erstversorgung – in Palermo angekommen in vom Regen durchnässten Kleidern und nach rauhen Nächten auf der Strasse. Die Stadt Palermo hat keine Einrichtungen für die Aufnahme der unsichtbaren und gar nicht existierenden Abgeschobenen im Aufnahmesystem des italienischen Staates.
Und das Schweigen über Lampedusa wird immer ohrenbetäubender – voller Schmerz und rechtswidrig!

Alberto Biondo 
Borderline Sicilia Onlus 

*L'ARCI – Associazione Ricreativa e Culturale Italiana: Vereinigung zur Förderung von Kultur, Bildung, Frieden, Menschenrechte, und Wohlfahrt
**CIE – Centro di Identificazione ed Espulsione: Abschiebungshaft

Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne