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– Die Untersuchung der parlamentarischen Antimafia-Kommission des
sizilianischen Regionalparlaments wurde am 6.Februar 2014 beschlossen, noch
bevor das nationale Parlament den Untersuchungsausschuss über das System der
Aufnahme und Identifikation eingesetzt hat (17. November 2014) und vor der
gerichtlichen Untersuchung, die als Mafia
Capitale bezeichnet wird (Juni 2015).
Das Material der
Untersuchung
In einer Einvernahme sind
acht Bürgermeister angehört worden (Castel di Ludica, Licodia Eubea, Mineo,
Palagonia, Ramacca, San Michele di Ganzeria, Raddusa, Vizzini) und der Direktor
des Konsortiums der Gemeinden „Calatino1 - Land der Aufnahme“,
Giovanni Ferrera, der für die Verwaltung des Cara2 von Mineo
verantwortlich ist. Für eine allgemeine Rekonstruktion des Phänomens hat die
Kommission zwischen Januar und Mai 2015 den Innenminister Angelino Alfano
vorgeladen; des Weiteren den Chef der Abteilung des Innenministeriums für
bürgerliche Freiheit und Immigration, Präfekt Mario Morcone, den Präfekten von
Palermo, Francesco Cannizzo und den Präsidenten des Anci3-Sicilia,
Leoluca Orlando.
Die Kommission hat ferner
von den Präfekturen und in den betreffenden Arbeitsagenturen die Verzeichnisse
der in jeder Provinz bestehenden Einrichtungen und der unter Vertrag stehenden
Beschäftigten an sich genommen, die von den in die Aufnahme und die Versorgung
der Migranten involvierten Unternehmen genutzt werden.
Um die Rekonstruktion zu
vervollständigen, wurde auch die Einvernahme des Untersekretärs Giuseppe
Castiglione vor der aus beiden Kammern bestehende Kommission für die Aufnahme
und Identifikation angeordnet.
Die Ziele
Durch den Beschluss für die Untersuchungen
hat sich die Kommission folgende Ziele gesetzt:
·
den Vorgang der
Entstehung des Konsortiums der Kommunen und die Übertragung der Leitung und der
Direktion des Konsortiums zu rekonstruieren;
·
die Gründe für
die Entscheidung, Luca Odevaine als Berater der Betreibergesellschaft des Cara
hinzuzuziehen, für seine verhinderte Ernennung zum Generaldirektor des
Konsortiums und für seine anschließende Einstellung zu ermessen;
·
Informationen zu
sammeln über die Auftragsvergabe für die dreijährige Leitung des
Aufnahmezentrums;
·
die Methoden
kennenzulernen, mit denen die Einstellungen im Cara und in den Sprar4
durchgeführt wurden;
·
die
Lebensbedingungen der beherbergten Migranten und die ökonomischen und sozialen
Auswirkungen auf die Gegend zu bewerten.
**********
Die Aktivitäten, die von der
Kommission durchgeführt wurden, um Erkenntnisse zu gewinnen, haben die Existenz
„eines roten Fadens“ bestätigt; der verbindet die Vorfälle im Cara und in den
Sprar der Gegend von Catania mit dem politischen Milieu und den
Hauptstadtinstitutionen.
Die Region Sizilien
Die Kommission prangert die
unverantwortliche Entscheidung an, dass sich die Region in der schwierigen
Phase des Notstandes geweigert hat, die Leitung des Cara durch den regionalen
Zivilschutz zu übernehmen. Eine Region, die die politische Autonomie für sich
beansprucht, hätte die Hauptakteurin sein müssen; stattdessen hat sie sich
geweigert, überhaupt irgendeine Rolle zu spielen.
Der Untersekretär
Castiglione
Castiglione hat
offensichtlich eine rein politische Rolle gespielt, sowohl in der Anbahnung und
in der Leitung des Cara in der Notfall-Phase wie auch im Übergang zur
nachfolgenden Phase.
Die Entscheidung, für die Einsetzung
eines Konsortiums der Kommunen zu stimmen, obwohl wahrscheinlich angeraten von
Luca Odevaine (jedoch zu einer Zeit, in der diesem keine strafrechtlichen
Verfolgungen drohten und er für einen tüchtigen „Technokraten“ im Umfeld der PD5
gehalten wurde) scheint in Castiglione einen überzeugten Unterstützer gefunden
zu haben. Der Generaldirektor des Konsortiums hat berichtet: „Als die
öffentliche Auswahl für den Posten des Generaldirektors getroffen wurde, hat er
selbst (Castiglione) mir gesagt, dass er Odevaine sponsere, weil er der PD nahesteht
– so hat er mir gesagt – um eine bessere Beziehung innerhalb seiner … zu
haben“.
Luca Odevaine - der „Kopf“
Er hat die Bildung des
Konsortiums der Kommunen angeregt und er blieb von 2011 bis 2014 die
Schlüsselfigur des Cara von Mineo; er hatte Zugang zur zentralen Verwaltung,
und er war die Bezugsperson sowohl in den Beziehungen zu den politischen
Kräften, die sich in der Regierung des Landes abwechseln, wie auch zu den
großen Dienstleistungsunternehmen.
Unter diesem Gesichtspunkt
hält die Kommission fest: Die Entscheidung Odevaines, der erste Generaldirektor
zu werden und, gescheitertes Ziel, Angestellter der Einrichtung, sei direkt
verbunden gewesen mit seiner Absicht, in die Kommission für die Ausschreibung
der Maxi-Auftragsvergabe berufen zu werden, um die Ausschreibung und ihr
Ergebnis zu steuern. Mit diesem Sachverhalt hat sich auch die römische
Richterschaft beschäftigt und die Anac6 von Raffaele Cantone.
Paolo Ragusa - der „Arm“
Paolo Ragusa, Unternehmer
der Gemeinschaftsarbeit, war der „ausführende Arm“ des Cara.
Klarsichtiger Unternehmer,
geschickt, politische Beziehungen zu pflegen, fähig, sich die
Dienstleistungsversorgung im ersten Sprar zu sichern, das in der Provinz
Catania entstand (Vizzini); zwei Jahre später, während des Notstandes durch die
hohe Zahl an Anlandungen, war er der erste, der eine Akkreditierung im Cara von
Mineo erhielt.
In kurzer Zeit hat Ragusa dank
politischer Absprachen in der Gegend von Catania die Bedingungen für ein
absolutes Monopol in der Versorgung der Migranten mit den unterschiedlichsten
Dienstleistungen geschaffen.
Um sich weiterhin die nötige
politische Deckung an der Spitze des Konsortiums zu sichern, das das Cara
verwaltet, hat er sich dafür eingesetzt, dass seine eigene Beraterin Bürgermeisterin
von Mineo wurde und Präsidentin des Gemeinschaftsunternehmens.
Giovanni Ferrera - der
„Techniker“
Ferrera ist „der Techniker“,
dessen sich Castiglione in der ersten Phase der Verwaltung des Cara bedient
hat; er war durch die vom vorherigen Präsidenten Raffaele Lombardo getroffene Entscheidung
seit 2004 externe Führungskraft der Provinz. Mit seiner Vergangenheit als
Assessor der Kommune von Catania wusste Ferrara seine Fachkompetenzen mit der
Flexibilität, die die Politik verlangt, auszubalancieren. Und doch hat er die
„Dummheit“ begangen, (mit Erfolg) für den Posten des Generaldirektors im
Konsortium, das das Cara verwaltet, zu kandidieren. Dennoch hat sich das
Verhalten Ferraras in der Rolle des Direktors bei mehreren Gelegenheiten nicht
als gradlinig und konsequent erwiesen. Er hat zugegeben, dass er die
Beanstandungen des Verwaltungsrates übergangen und die Einstellung Odevaines eingeleitet
hat, ohne den Rat noch einmal einzubeziehen. Gleichfalls hat er,- nach Ansicht
der Anac - es nicht für nötig gehalten, irgendeine administrative Vorkehrung für
den Wettbewerb um die Leitung des Cara zu treffen.
Die Bürgermeister des
Konsortiums - das „Räderwerk“
In diesem komplexen Bild
erscheinen die Bürgermeister der Gegend von Catania, die dem Konsortium
angehörten, zum Großteil als Randfiguren. Sie wurden berufen, an einem System
der Aufnahme mitzuwirken, in dem sie nur kleine Rädchen sind; im Tausch dafür
erhielten sie kleine Zuwendungen durch das Konsortium; die bestanden in der
Einstellung der Arbeiter der entsprechenden Kommunen und in der Auszahlung
bescheidener finanzieller Zuwendungen; Geldbeträge, die darüber hinaus nur
scheinbar bestimmt waren, nicht näher definierte „Projekte zur Integration“ zu
unterstützen, die aber tatsächlich überhaupt nichts mit Integrationsmethoden zu
tun hatten. Im Klartext: Es sind tatsächlich nur kleine Schlückchen Sauerstoff,
um auf erbärmliche Weise die schon leblosen Bilanzen der Kommunen zu stützen.
Die zweihundert verstreuten
Migranten
Nach dem Urteil der
Kommission war die fehlende innere und äußere Überwachung im Cara ebenfalls
allarmierend. Beunruhigend die Episode, die in der Anhörung des leitenden
Staatsanwalts der Republik am Gericht von Caltagirone, Giuseppe Verzera, vor
der parlamentarischen Kommission bekannt wurde (Mai 2015): „…vor einigen Wochen
sind in Messina 400 Migranten angelandet, von denen 200 in das Cara von Mineo
geschickt wurden, ohne identifiziert worden zu sein. Und am anderen Morgen sind
sie verschwunden. Dass also viele dieser Subjekte unterwegs sind, ist sicher;
dass sie von anderen Organisationen geführt werden, scheint äußerst begründet. Der
Staatsanwalt hat bei dieser Gelegenheit außerdem hervorgehoben, dass „die
Schwierigkeiten, die die Leitung des Cara habe, sich auf dem Niveau der
öffentlichen Ordnung zu verhalten, nicht gleichgültig seien.“
Die Einstellungen
Zwei verschiedenartige
Phasen haben die Rekrutierung des Personals für das Cara von Mineo charakterisiert:
Die erste ist die zu Beginn und der unbefristeten Verträge; die zweite ist die des
Konsortiums der Kommunen, mit einem fast kompletten Personalbestand und Einstellungen
mit oft befristeten Verträgen, weil die Zahl der Mitarbeiter abhängig ist von den
schwankenden Zahlen der Gäste in der Einrichtung.
Aus den Anhörungen geht der
Versuch lokaler Politiker hervor – vor allem in der zweiten Phase –, wieder
eine Rolle bei den Einstellungen spielen zu wollen, indem sie auf Personal
(sogar aus der Familie) aufmerksam gemacht haben; dieses verfügte aber oft
nicht über die nötige professionelle Voraussetzungen, um den schweren Aufgaben nachzukommen,
zu denen sie berufen sind.
Der Bluff der Integration
Die Initiativen, die das
Ziel der Integration der Migrant*innen haben, haben diese als Trick benutzt, um
Zugang zu Zuschüssen zu bekommen: 10.000€ für jede Initiative, höchstens
20.000€ pro Jahr für jede Kommune.
Ferrara hat erklärt, dass
der Zuschuss gegeben wurde, „weil die Migranten entweder am Krippenspiel teilgenommen
haben oder Sachen in der Küche gemacht haben oder sie haben sich um an einen
Stand gekümmert: Eine Reihe von Integrationsmaßnahmen, die vorgesehen waren und
über die Rechenschaft abgelegt wurde.“
Um eine Vorstellung davon zu
bekommen, was das Projekt der „Integration“ der Migrant*innen in der Gegend von
Catania ist und worin es besteht, reicht es, den Bürgermeistern der Kommunen zuzuhören,
die in den Genuss der Zuschüsse gekommen sind.
Verga (Licodia Eubea): „Wir
haben mit dem Reisebus hundert Migranten aus dem Cara von Mineo in meine
Kommune gebracht. Wir haben ihnen das Abendessen spendiert. Es war eine
Modenschau vorgesehen: Fünf oder sechs Jungs und Mädchen sind in dieser
Modenschau aufgetreten. Wir haben ein Turnier mit drei Mannschaften gemacht,
darunter auch eine Mannschaft des Cara; es sind ganz viele Leute gekommen, die
an dieser Veranstaltung teilgenommen haben.“
In San Michele di Ganzaria
sind die Zuschüsse für das Projekt „Sport und Integration“ (10.000€) und für
„Unser Meer: Gerüche und Geschmäcker des Mittelmeeres“ (10.000€) angekommen.
Auch Raddusa hat einen
Zuschuss von 10.000€ für jedes der zwei Projekte bekommen. Der Bürgermeister
hat referiert: „Ich habe die Migranten, die sie mir geschickt haben, an allen
Aktivitäten rund um das Fest des Weizens teilnehmen lassen und habe auch Initiativen für sie gemacht.“ (Marotta, S.32)
Sinatra (Vizzini): „Dieses
Jahr (2015) habe ich die Finanzierung einiger Initiativen meiner Stadt
beantragt, die mit musikalischen Veranstaltungen verbunden sind. Und die Leute
aus dem Cara haben applaudiert! Weil ich Integration mache! Ich trickse nicht
mit der Anwesenheit von nur einigen und sage: Da gibt es einen Farbigen, und
das bedeutet dann Integration. Nein!“ (S.13)
Die Aloisi7
beeilt sich zu versichern, dass „bei uns (in Mineo) die Integration rundum bei
jeder Gelegenheit geschieht. Bei jeder Gelegenheit – unabhängig von der
Finanzierung durch das Konsortium – vollzieht sich Integration durchgängig.“
Man hat dann erfahren, dass die Integration, von der die Bürgermeisterin
spricht, in der Teilnahme einer Gruppe der Migrant*innen am Karneval besteht,
an dem Fest „Natale nei vicoli“ und am Patronatsfest.
Manchmal wird nicht einmal
der Augenschein gewahrt: Ferrara hat zugegeben, dass er die Kostenzusage zugunsten
von drei Gemeinden in der Region Catania wiederrufen habe, als sie nicht nachweisen
konnten, dass sie Integration machen. „Ich habe ihnen die Gelder nicht gegeben;
sie hätten die Gelder vergeudet.“ Nur der erste Bürger von Ramacca, Zappalà,
hat zugegeben, dass „diese Ressourcen (ein Betrag von 10.000€) für uns ganz
wichtig geworden sind; das heißt, es ist nicht mehr ein Problem des Gebrauchs.
Wir haben kein Geld mehr, wir wissen nicht, wo wir uns festhalten können.“
Schlussfolgerungen
In der Region Catania hat
sich eine Art Vereinigung gebildet zwischen einem allesfressenden
Unternehmersystem und einem Teil der politisch-institutionellen Vertretung. Mit
einer besonderen Charakteristik: Während es für gewöhnlich die Methode der
Unternehmen ist, sich der Dienste der Politik zu bedienen, ist es hier geschehen,
dass die Politik (oder zumindest ein Teil dieser Klasse) sich unterwürfig als
Stütze angeboten hat, auf der sich dieses perverse Monopolsystem in der Versorgung
mit Dienstleistungen in Bewegung setzt.
Die Kommission hat
unterschiedliche Ebenen an politischer Verantwortung festgestellt, die in
Mitleidenschaft gezogen sind:
1.) Die Region Sizilien, die
sich geweigert hat, mit Hilfe des Zivilschutzes eine aktive Rolle zu spielen;
2.) Die Entscheidung, Odevaine
miteinzubeziehen in das Gefüge des Cara;
3.) Die Entscheidung, nicht
einzugreifen, nachdem die Fakten der Mafia
Capitale und die Ansicht der Anac zum Wettbewerb für die Verwaltung des
Cara bekannt waren;
4.) Die Bürgermeister, die dem
Konsortium angehörten, die auf jedes Recht als Mitglieder verzichtet haben, um
sich der politischen Logik zu beugen und um die Beeinflussung durch das
Unternehmer- und Genossenschaftssystem mitzumachen;
5.) Die Bürgermeisterin von
Mineo, die der gleichen Beeinflussung durch Paolo Ragusa erlegen zu sein
scheint, leibhaftiger „Co-Bürgermeister“ der Bürgerin und unangefochtener
Regisseur in der Verwaltung menschlicher Ressourcen. Erschwerend kommt noch
hinzu, dass sie die Präsidentin der Einrichtung ist.
1Die Gegend um Catania
2CARA – Aufnahmezentrum für Asylsuchende
3ANCI – Zusammenschluss der Kommunen Siziliens
4SPRAR – Sistema di protezione
richiedenti asilo e rifugiati
Im Gegensatz zu den Cara Einrichtungen
zum Schutz Asylsuchender und Flüchtlinge, die auf lokaler Ebene organisiert
werden
5PD-Partito democratico – Demokratische Partei,
Mitte-Links-Partei mit Matteo Renzi an der Spitze
6ANAC – Nationale Antikorruptionsbehörde
7Anna Aloisi, Bürgermeisterin von Mineo
Aus dem Italienischen von Rainer Grüber
Aus dem Italienischen von Rainer Grüber