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Montag, 5. Oktober 2015

In Catania um nicht zu vergessen und gemeinsam für die Rechte aller zu kämpfen

Organisiert vom Antirassistischen Netzwerk Catanias, von Borderline Sicilia, von Catania Città Felice und vom Netzwerk der Befreundeten Städte fand letztes Wochenende in Catania eine Veranstaltung zum Gedenken an die 366 Opfer der Katastrophe zur See am 3. Oktober 2013 statt. 
Zu diesem Anlass haben sich auch einige der 32 Migranten eingefunden, die am 30. September 2015 im Hafen von Catania nicht mehr weiterkamen, weil sie sofort eine unrechtmässige Verweisung des Landes erhalten hatten. Sie waren darum ohne Aufenthaltserlaubnis und absolut recht- und mittellos.

Alfonso Di Stefano vom Antirassistischen Netzwerk Catania moderierte die Diskussion. Mit dabei waren Fulvio Vassallo Paleologo von der Vereinigung Rechte und Grenzen und Abubakar Soumahoro von der internationalen Vereinigung der Sans Papiers, Migranten, Flüchtlinge und Asylbewerber (CISPM- Coalition Internationale des Sans Papiers et Migrants). Bedauerlicherweise war der Bürgermeister von Riace aus persönlichen Gründen verhindert an der Veranstaltung teilzunehmen.
Eröffnet wurde der Abend mit einem Beitrag von Fulvio Vassallo Paleologo. Er erläuterte, dass die Hotspots die aktuelle Misere in der Flüchtlingsaufnahme noch verschlimmern würden. Europa plant 700 Agenten von Frontex zur Verstärkung innerhalb der Hotspots zu entsenden – für die Identifikation und die Verteilung der Flüchtlinge.
Wie es bereits jetzt geschieht, wird diese Praxis die Anzahl der Rückweisungen erhöhen. Zudem haben die abgewiesenen Asylbewerber nicht die nötigen finanziellen Mittel, um das Land zu verlassen, was bedeutet, dass die Zahl der sich illegal im Land aufhaltenden Personen weiter ansteigen wird. Die Illegalität wiederum verhindert, dass diese Migranten eine vertraglich geregelte Arbeitsstelle suchen können, um ein menschenwürdiges Leben mit dem Anspruch auf die ihnen zustehenden Rechte zu führen. All das ist das Resultat der absurden Unterscheidung zwischen einem sogenannten Wirtschaftsflüchtling und einem «richtigen» Flüchtling.
Der Beitrag Abubakars beginnt mit der Betonung des Wandels der Haltung Europas, der in den Medien klar ersichtlich ist: hin zu einer Entmenschlichung des Phänomens der Migration.
Eines der grossen bleibenden Probleme aller Interventionen bzgl. des aktuellen Phänomens der Migration, ist die Tatsache, dass nur über die Notfallmassnahmen gegen die Migrationströme diskutiert wird und nicht über deren Ursachen.
Das Vorgehen im «Notfallmodus» bedeutet aber gleichzeitig ein Vorgehen gegen die Regeln – im Ausnahmezustand – und nur ans hier und jetzt denkend. Es ist nicht auf die Zukunft ausgerichtet und ohne den Anspruch auf nachhaltige Wirksamkeit. Diese Situation mit aufs Minimum reduzierten Kontrollinstanzen und unlauteren Absichten ist der ideale Nährboden für Spekulanten und Geschäftemacher. Die Besorgnis darüber wird noch grösser, wenn die, welche diesen Machenschaften Einhalt gebieten sollten, sich der herrschenden Mentalität anschliessen.
Auch er hat über die Hotspots gesprochen. Er hat sie als Selektionsorte bezeichnet, in denen eine Art erste «selektive Ernte» stattfindet. Es wird das Brauchbare und Wiederverwertbare vom Nutzlosen getrennt, das dann entfernt wird. Auch das ist ein Rückschritt im Vergleich zum Vorgehen vor Jahrzehnten, als noch die qualifizierte Arbeitsmigration unterstützt wurde. In der aktuellen Krise ist diese Art der Migrationspolitik nicht mehr erwünscht. Ausgewählt werden vor allem junge Leute – als Mittel gegen die drohende Überalterung der zukünftigen Gesellschaft.
Eine der Ursachen für die Migrationsströme ist die Politik des internationalen Währungsfonds und der europäischen Zentralbank: diese Institutionen machen mit den afrikanischen Staaten seit jeher das, was Europa heute mit Griechenland tut. Eine andere Ursache ist der Erwerb von afrikanischem Agrarland durch China. Das hat zur Folge, dass viele Bauern ihre Subsistenz verlieren, weggehen und dass diese Gebiete verarmen.
Frontex wurde allein im Jahr 2015 mit 114 Millionen Euro finanziert. Eine unverhältnismässige Summe – währenddie Zahl der Toten im Mittelmeer weiter steigt. Aber es wäre eine qualitative Analyse der Ziffern nötig und nicht eine quantitative; genauso wie eine tatsächliche soziale Gerechtigkeit und nicht nur solche auf dem Papier. Reisen ist ein Privileg, aber nur für jene, die die finanziellen Mittel dafür haben, die andern sind davon ausgeschlossen. Erinnern wir uns daran, dass in Calais 6000 Personen (manche seit Jahren) im Wald leben und dass dort jeden Tag Menschen sterben, beim Versuch die Grenze zu überqueren.
Die Rückweisungen demonstrieren die Tatsache der Ungleichheit vor dem Gesetz. Vielen wird (zum Beispiel) das Recht auf Verteidigung oder die grundlegende Unschuldsvermutung nicht zugestanden und gewährt.
Abu beendet seine Rede: wenn wir uns für die Rechte der Migranten einsetzen, kämpfen wir für die Rechte aller. Denn die ganze Gesellschaft steuert auf eine Einschränkung ihrer Rechte hin – heute die ihren – morgen die unseren. Die Migranten unter uns zeigen uns das deutlich mit ihrer, wenn auch schweigsamen, Anwesenheit.
Die Veranstaltung ging mit der Projektion des Dokumentarfilmes von Antonino Maggiore “Lampedusa 3 ottobre 2013: i giorni della tragedia” zu Ende. Der Film betont, mithilfe der Bilder über die Tage nach der Katastrophe, die Forderung, dass die gerichtliche Untersuchung über die unterlassene Hilfeleistung beim Schiffbruch und die fragwürdige Verbindung zwischen den staatlichen Migrationsbehörden und der Militarisierung der Operationen neu untersucht werden muss.
Am nächsten Morgen, es ist Sonntag, treffen wir uns vor dem CARA* in Mineo mit einigen Vertretern der antirassistischen Vereinigungen und Abubakar in der Absicht mit den Migranten zu sprechen. Vor dem CARA trafen wir nur wenige von ihnen an. Einige gingen an uns vorbei ohne uns anzuschauen, andere nahmen schnell unsere übersetzten Flugblätter und nur eine kleine Gruppe von zehn Leuten gesellte sich zu uns.
In letzter Zeit scheint es allgemein schwieriger zu sein, die Aufmerksamkeit der Migranten vor dem Eingang des CARA zu gewinnen. In Anbetracht der dort platzierten Ordnungskräfte kann man das Misstrauen der Überwachten verstehen und auch, dass sie ihre Hoffnung in die Solidarität der italienischen Gesellschaft verloren haben. So wie D. aus Pakistan, seit eineinhalb Jahren in Mineo. Er bleibt nicht mehr als 15 Minuten stehen. Er betrachtet das Flugblatt und diskutiert mit Abubakar. Er scheint interessiert – doch mit seinem Mobiltelefon stets in der Hand ist er auf dem Sprung, sich jederzeit zu entfernen. D. vertraut uns an, dass er auf die Ausstellung seiner gewährten Aufenthaltserlaubnis „aus humanitären Gründen“, wartet. Er hat sie nach 18 Monaten Wartezeit erhalten. Sobald er sie in den Händen hält, kann er endlich aus dem CARA wegziehen. „Hier riskiere ich verrückt zu werden, man wird depressiv, es gibt keine Hilfe, um später Arbeit zu finden oder in Italien zu leben, darum habe ich mich entschieden.“
Es geht zudem um die Lebensbedingungen innerhalb des Zentrums in unserer von Abu mit grosser Klarheit und Bereitschaft zum Zuhören geleiteten Unterhaltung.
Wir begegnen einigen der Überlebenden des Schiffbruches vom 18. April diesen Jahres, die ebenfalls eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erhalten haben. Wir können uns auf englisch und französisch unterhalten und hören die Schilderungen ihrer gegenwärtigen Situation. Wir versuchen unsererseits, die aktuelle und zukünftige Politik Europas und die Veränderungen, die sich dadurch für sie auf italienischem Territorium ergeben, darzustellen. Abubakar weist auf die Konferenz zwischen der Europäischen und der Afrikanischen Union auf Malta hin, die im November stattfinden wird. Er erwähnt die zunehmende Menge der Einsprüche gegen die Rückweisungen, er spricht über die Wichtigkeit von denen, die als Landarbeiter in den Feldern arbeiten, zu erfahren was sie an Einschränkungen und Missbräuchen – basierend auf den aktuellen Gesetzen – erleben.
Die Migranten hören zu und stellen Fragen. Sie scheinen wirklich interessiert an der Diskussion und einige von ihnen möchten mit uns Kontaktdaten austauschen.
Sie sind einverstanden mit der Einreichung einer kollektiven Beschwerde über die aktuelle Situation, um wenigstens die rechtliche, gesundheitliche und soziale Unterstützung, die innerhalb der Zentren gesetzlich vorgeschrieben ist, zu erhalten.
Das Schweigen brechen, ein Beispiel geben und Solidaritätsnetze bilden – sie sollen ihre Rechte einfordern und Vorschläge machen. Das legt Abu ihnen nahe. Er erinnert sie daran, dass sie für viele hundert ihrer Kameraden die tödliche Reise übers Meer überlebt haben und dass die grössten Sorgen, jetzt, da sie hier sind, überstanden sind. Die jungen Männer gehen wortlos weg und wir hoffen im Stillen, dass das tatsächlich stimmt.

Giulia Freddi
Lucia Borghi
Borderline Sicilia Onlus

*CARA - Centro di accoglienza per richiedenti asilo: Aufnahmezentrum für Asylsuchende

Übersetzt aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne