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Mittwoch, 14. Oktober 2015

Den Migranten werden in den zukünftigen Hotspots bereits hunderte von «verzögerten» Abweisungen ausgestellt

«Die Zunahme der «verzögerten» Abschiebungen, respingimento differito*, ist besorgniserregend. Wir betreuen bis zu 50 Personen pro Tag, die alle mit dem gleichen Dokument in der Hand, bei uns um Hilfe bitten».  Elvira Iovino ist langjährige freiwillige Mitarbeiterin am Informationsschalter des Centro Astalli in Catania. Sie senkt das Türgitter vor ihrem Büro und spürt einen Kloss im Hals. Ihre Besorgnis und die der Anwälte, der humanitären Organisationen und der Zivilgesellschaft in Sizilien, gilt der enormen Zunahme von sofortigen Abweisungen in den letzten Wochen. Diese werden den Flüchtlingen unmittelbar nach der Ankunft in Italien ausgehändigt. Betroffen sind junge Leute, oft Jugendliche, die innerhalb von 7 Tagen das italienische Territorium verlassen müssen, ohne die nötigen Mittel und ohne, wie vom Gesetz vorgeschrieben, jeden Fall einzeln zu untersuchen. Damit wird gemäss der Schutzverbände das gültige Recht missachtet, einen Asylantrag zu stellen. « Das ist eine Missachtung der Menschenrechte, aber auch eine soziale Zeitbombe. Bis jetzt haben nur die Freiwilligen mit ihren beschränkten Mitteln versucht, dagegen etwas zu unternehmen. Ganz im Gegensatz zu den Verbrechern, Menschenhändlern und Uniformierten, für die diese Menschen ideale Beute sind.»

Hunderte von Rückweisungen 
Seit dem 26. September bis heute hat Carla Trommino, Anwältin aus Syrakus und Präsidentin von AccoglieRete*, 105 Fälle entgegengenommen. Das sind mehr als im ganzen Jahr 2014, damals waren es 60. Es betrifft Migranten aus Westafrika, aus Burkina Faso, Mali, Gambia, dem Senegal, aus Nigeria, Togo, aus der Elfenbeinküste und aus Guinea, die mittellos auf die Strasse gestellt wurden mit der Auflage, das italienische Territorium über den Grenzposten Fiumicino fristgerecht zu verlassen.
35 von ihnen wurden nach ihrer Ankunft zunächst  in einem Erstaufnahmezentrum (CSPA*) in Augusta beherbergt. Von dort sind sie auf der Nationalstrasse zu Fuss nach Syrakus gelaufen. Gemäss Paola Ottaviano, Rechtsbeauftragte und Referentin von Borderline Sicilia, betreffen die Rückweisungen hauptsächlich die Ankommenden in Pozzallo, einer der 5 Hotspots in Sizilien, die im November offiziell ihren Betrieb aufnehmen sollen. Borderline Sicilia hat etwa 80 unter ihnen registriert, von denen einige in Syrakus Aufnahme gefunden haben. Weitere 32 sind bei dem Antirassistischen Netzwerk Catania gemeldet, während es 20 der Flüchtlinge gelungen ist von Lampedusa nach Caltanisetta zu gelangen, wo sie von den Freiwilligen des Sportello Immigrati* betreut werden. Zurzeit ist es schwierig, genauere Daten darüber zu erhalten. Es scheint aber wahrscheinlich, dass es sich um mehrere hundert Betroffene handelt. Eine Schätzung, die nur die Spitze eines Eisberges sein könnte, wenn wir die Aktivitäten der Schleuser in Betracht ziehen. Denn Bewohner aus Pozzallo machen uns darauf aufmerksam, dass die Schlepper die Migranten sofort abfangen, sobald sie sich vom Erstaufnahmezentrum entfernen.

Eine beunruhigende Vorwegnahme der Hotspots
« Wir wissen nicht, welcher Logik diese Praxis folgt» erklärt Carla Trommino, « hier haben wir es mit kollektiven Rückweisungspraktiken zu tun, die den europäischen Normen widersprechen und wofür Italien bereits mehrere Male vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt wurde.»
Die Juristin bezeichnet die Praxis als kollektive Rückweisungen, weil individuelle Gründe dafür absolut nicht vorhanden sind. Der Massnahme liegen keinerlei Informationen zu Grunde, außer den Personalien. Trommino berichtet von kurzen Interviews während der Identifikation der Migranten bei ihrer Ausschiffung. Dabei fragen die Polizisten, ob der Asylbewerber zu arbeiten gewillt sei. Natürlich ist die Antwort ja, weil ja alle arbeiten wollen, auch wenn sie aus Verfolgung und Gewalt geflüchtet sind.
Neben der hypothetischen Unterscheidung von Wirtschaftsflüchtlingen und Asylbewerbern scheint auch eine andere Vorstellung zu herrschen: die europäische Kommission präsentierte im September eine Liste der «sicheren Drittländern», deren Bürger keinen Asylantrag mehr stellen können.
Paola Ottaviano berichtet: «Das ist eine beunruhigende Vorwegnahme der Hotspots und die Opfer davon sind auch verschiedene unbegleitete Minderjährige. Bis 8 von ihnen wurden bei der Ankunft in Syrakus als Erwachsene identifiziert. Aber laut der Hilfswerke sind sie minderjährig, unter ihnen ein schwangeres Mädchen».

Mittellos hinausgeworfen  
Elvira Iovino berichtet : «Im Zentrum Astalli kommen schlecht gekleidete Menschen an, die unter fortgeschrittener Krätze leiden, mit unbehandelten Knochenbrüchen, unterernährt und ohne einen Platz zum Schlafen… Alle, mit Ausnahme der Eritreer und der Syrer, haben das Rückweisungsdokument erhalten und wissen nicht wie weiter. Zuerst müssen wir Rekurse einreichen gegen die Rückweisungen, um all jenen, die es wollen (und es sind praktisch alle) Gelegenheit zu geben, einen Asylantrag zu stellen». Die Langsamkeit der Bürokratie und die Überfüllung der Aufnahmezentren zwingen viele der Zurückgewiesenen zu einem Leben auf der Strasse. Manchmal finden sie zeitlich begrenzte Unterkünfte, wie jene der Kirchgemeinde Bosco Minniti, einem Vorort von Syrakus. Auch die Gemeinde Pozzallo hat ein Zelt aufgestellt und das Caffé Letterario koordiniert die Sammlung von Nahrungsmitteln und Kleidern.

«Für diejenigen, welchen es gelingt, einen Asylantrag zu stellen, sucht die Quästur einen Platz im CIE* in Caltanissetta, der nächstgelegenen Aufnahmestruktur. Wenn dort kein Patz ist, suchen die Behörden Platz in den Empfangszentren. Ein Paradox, denn oft werden Personen jenen Zentren zugewiesen, aus denen sie zuvor weggewiesen wurden».
Für die Anwältin von Asgi*, der Vereinigung für die juristischen Studien zur Migration, ist es unvorstellbar, dass jemand, der flüchten musste vor Verfolgung, der schwerste Reisen überlebt hat, ebenso Minderjährige und Opfer von Menschenhandel, dass diese Menschen ohne Alternative auf die Strasse gestellt werden und dort zu Gespenstern werden.

Das ausgehöhlte Asylrecht
Der letzte Sommer war gezeichnet: von der Rückweisung von 69 Frauen aus Nigeria, die meisten von ihnen Opfer von Menschenhandel und im CIE Ponte Galeria in Rom festgehalten; von der Flucht von 110 Nordafrikanern aus dem CIE von Trapani (die bereits angekündigte Einrichtung eines Hotspots wurde verschoben); von den Rückweisungen der letzten Wochen. Paola Ottaviano, die mit Borderline Sicilia die Aufnahmesituation auf der Insel überwacht, meint: « Es sind neue illegitime Praktiken, die von den Institutionen gegenüber den Asylbewerbern angewendet werden, die aber das Recht haben, einen Asylantrag  zu  stellen, angehört zu werden, damit ihr Antrag gründlich geprüft werden kann. Was wir sehen sind oberflächliche Interviews, die mehr einem Quiz gleichen, deren Zweck es ist, die Statistiken der Europäischen Union zu untermauern. Damit wird das in der Genfer Konvention, in der italienischen Verfassung und den europäischen Normen verankerte Recht auf Asyl missachtet.»
Einige Sozialarbeiter vermuten, dass diese Rückweisungen von einem ministerialen Rundschreiben angeordnet werden, dessen Ursprung zurzeit nicht klar ist.

(Giacomo Zandonini)

Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne

*Respingimento differito: Dokument der «verzögerten» Abschiebung (mit der Frist von 7 Tagen, das italienische Territorium zu verlassen)
*AccoglieRete: Empfangsnetz, NGO in Syrakus, die sich um unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge kümmert
*CSPA – Centro Soccorso e Prima Accoglienza: Erstaufnahmestruktur nach der Ankunft, für 72 Stunden Aufenthalt vorgesehen
*CIE – Centro di Identificazione ed Espulsione: Zentrum für Identifikation und Ausweisung, Abschiebehaft
*ASGI – Associazione per gli Studi Giuridici sull’Immigrazione: Vereinigung für die juristischen Studien zur Migration