Der bereits vor mehreren Jahren ausgerufene und immer noch fortdauernde „Notstand“ wird für sehr viele Migranten zu einer viel zu langen und unausgefüllten Wartezeit.
In den Erstaufnahmezentren wird die Verweildauer bei weitem überschritten, bevor das Verfahren für den Asylauftrag aufgenommen werden kann. Die Migranten bleiben zwei, drei, vier Monate, oft auch ein halbes Jahr, mit wenig mehr als ihrem Schlafplatz und den Mahlzeiten. Ihre ganze Hoffnung und ihr Streben ist der Erhalt der ersten Dokumente und der Beginn eines autonomen Lebens am Ort ihrer Landung in Europa.
Wer sein Leben aufs Spiel gesetzt hat um zu überleben, ist jetzt daran, neue Strategien für jene Zukunft zu entwickeln, die er entschlossen ist zu verwirklichen. Im Getöse der Medien und der Gemeinplätze ist es nicht möglich sich wirklich damit zu beschäftigen, wie die Aufnahme der Flüchtlinge über die Frage von Kost und Logis hinaus gestaltet sein könnte und müsste. Diese Personen werden behandelt wie Nummern und unerwünschte Existenzen, mit denen man sich lediglich beschäftigt, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen.
Zum Glück erweisen sich einige der Begegnungen als Lichtblick und erhellen das Bewusstsein für die Schicksale, die hinter den bloßen Zahlen stehen.
Das sagen uns auch die Jugendlichen aus den Erstaufnahmezentren von Vittoria, die wir an einem strahlenden Dezembernachmittag besuchen. Sie beschreiben uns die täglichen Anstrengungen und Befriedigungen, die sie im Kontakt mit den Bewohnern des Ortes erleben. Wir beginnen unsere Besuche in zwei der vier Empfangszentren, die von der Cooperativa Sociale Area (seit fast einem Jahr im Gebiet von Vittoria tätig) geführt werden. Zuerst lernen wir die 7 Migranten kennen, die aus Scoglitti (denn dieses Aufnahmezentrum wurde kürzlich geschlossen) hierher transferiert wurden und die jetzt in einer Wohnung im Stadtzentrum untergebracht sind. Hier leben Migranten aus Senegal, Gambia, Nigeria und Libyen, die am 30. Oktober 2014 in Pozzallo an Land gingen und die darauf warten, den Antrag für internationalen Schutz von Flüchtlingen einreichen zu können. Von den sechs anwesenden Jugendlichen schenkt uns am Anfang nur einer seine Aufmerksamkeit. In perfektem Französisch lobt er die Lebensumstände in Italien: „Ich bin glücklich hier zu sein. Es geht mir gut und ich schätze mich glücklich“ wiederholt C. während die andern ausdruckslos vor dem Fernseher verharren. Die Situation verändert sich, als R. sich zu uns gesellt, der offensichtlich zum Übersetzer für die Gruppe geworden ist.
“Nachdem ich von Ihrem Besuch erfahren habe, bin ich gleich hierhergeeilt, denn die Sozialarbeiterin hat mich angerufen. Ich bin mir meiner Aufgabe als Übersetzer sehr wohl bewusst. Ohne mich sind Gespräche zwischen Frankophonen, Anglophonen und den Jugendlichen, die nur Bambara sprechen nicht möglich und meine Mediation ist wichtig für das Zusammenleben in dieser Gruppe.“
Tatsächlich ermöglicht es die Mediation von R. allen Anwesenden an der Konversation teilzunehmen. Wir hören die Stimmen und Geschichten von M., der vor wenigen Monaten nach zwei Attentaten aus Nigeria geflohen ist; von G. aus Gambia und von R. selbst, der neun Sprachen spricht. Jetzt verbringt er seine Tage zwischen diesem Zentrum und dem SPRAR-Zentrum (Sistema Protezione Richiedenti Asilo), das von der Waldenser Gemeinde von Vittoria geführt wird. Die SPRARs sind soziale Einrichtungen für den Schutz der Flüchtlinge. Hier haben sie Internetzugang und Kontakt zu andern afrikanischen Jugendlichen.
“Ich lebe hier als Migrant. Was für mich nicht nur überleben bedeutet, sondern ein Bewusstsein zu haben, für die nötige Anstrengung, sich das Vertrauen der Bevölkerung zu erarbeiten um sich einen würdigen Lebensstandard zu garantieren. Ich weiss, dass ich in einer benachteiligten Stellung bin, aber ich kenne auch meine Stärken und zu diesen zähle ich mein Vertrauen in die menschliche Solidarität. Ich glaube, dass das Kennenlernen von Menschen und anderen Realitäten die beste Möglichkeit ist, sich in eine Gesellschaft zu integrieren, so wie es mir geschieht in dieser kleinen Stadt.“
Im Gegensatz zu R., gesteht uns ein anderer Jugendlicher aus Gambia sein absolutes Misstrauen in Bezug auf die italienischen Behörden, auf den Erhalt der nötigen Dokumente, auf die Möglichkeit italienisch zu lernen und Arbeit zu finden: „Ich verlasse das Zentrum nie, weil ich Angst habe. Ich habe noch keine Dokumente und weiss nicht, was mir geschehen würde, wenn die Polizei mich festnimmt.“ Unterschiedliche Wege und Gedanken, pessimistisch sehr wahrscheinlich auch wegen der wenigen und unklaren Informationen, die die Jugendlichen erreichen, und was dringend verändert werden sollte.
Die Zeit vergeht und als letzter kommt M. aus Libyen mit einem Freund aus Tunesien, der aktiv zu sein scheint in der Moschee dieses Bezirkes.
„Ich habe in den Treibhäusern gearbeitet“ erzählt M. „zum, Glück, denn so verdiene ich etwas und bleibe aktiv. Arbeit tut immer gut.“
Ein Gedanke, den wir nicht teilen auf dem Hintergrund der ausbeuterischen Arbeitsbedingungen für Flüchtlinge. Aber M. fährt fort in seiner Erzählung, wie um seine Situation zu rechtfertigen und um seinen Entscheidungen Gewicht zu verleihen: „In meinem bisherigen Leben habe ich immer gearbeitet, meist als Maurer. Aber die letzten Monate in Libyen wurden unerträglich. Wie viele andere habe ich mir die Zeiten Ghadaffis zurückgewünscht. Wegen Strafen, Fehlurteilen oder Rachen verbringt man Monate im Gefängnis – das sind die Spuren, die das Gefängnis auf mir hinterlassen hat“, sagt er und zeigt mir die Narben auf seinem Rücken und den Armen, „nun, da ich hier bin, will ich einfach nur arbeiten, weil ich weiss, dass ich sonst verrückt werde und nur durch Arbeit kann ich etwas erreichen. Ich kann nicht mehr warten. Die Begegnung mit meinen Freunden in der Moschee, die mir bei der Arbeitssuche halfen, hat mein Leben verändert.“
Träume, Hoffnungen und den Zugang zu einer Gesellschaft, die einen nicht mit offenen Armen empfängt, aber auch Verzweiflung und Furcht sind Teil ihrer endlos langen Tage. Viele von ihnen machen den Eindruck, sich selbst überlassen zu sein, ohne Rückhalt in ihrem Bemühen um Integration, ausgenommen von den unregelmässig stattfindenden Italienischstunden, die das Zentrum organisiert.
Das zweite Empfangszentrum ist eine gemietete Liegenschaft, die neben dem herrschaftlichen Privathaus, des Vermieters liegt. Hier lernen wir 10 Jugendliche kennen. „Sie sind seit anfangs Oktober hier und schon weiter fortgeschritten im Aufnahmeverfahren. Einige von ihnen haben ihre Anhörung vor der Kommission schon hinter sich“, erklärt uns die Sozialarbeiterin.
Die Atmosphäre hier, in der Villa Alba, so heisst das Gebäude, ist weniger bedrückend. Eine Gruppe diskutiert, andere sind damit beschäftigt, ihr Zimmer in Ordnung zu bringen und das Abendessen vorzubereiten. Auch hier ist die Lingua franca das Französische, denn die meisten Flüchtlinge sind aus Gambia und dem Senegal. Einer übernimmt die Gesprächsführung der angeregten Unterhaltung, die sich nach der Vorstellungsrunde ergibt. “Heute hat F. eine Anhörung gehabt vor der Kommission, aber er ist nicht erleichtert. Es war ihm unmöglich, seine Situation wirklich zu erklären. Wie sollte er auch in wenigen Minuten beschreiben können, welche Furcht ihn zur Flucht veranlasst hat? Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum viele von uns sich mit einer Arbeitserlaubnis begnügen. Denn schlussendlich brauchen wir einfach ein legalisierendes Dokument, und dann können wir beginnen, die Zukunft zu planen.“ A. ist der gleichen Meinung, er ist der älteste der Gruppe: „Ich bin geflüchtet, um meine Haut zu retten und hier möchte ich nichts weiter, als die Erlaubnis zu arbeiten. Und das ist nicht alles: ich habe auch viele Ideen, was meine Freizeit betrifft und wie ich leben kann in dieser Stadt, denn ich will in Italien bleiben.“ Zu diesem Thema haben auch die andern einiges zu sagen: „Weisst Du, dieses Land ist nicht klein und es gibt hier viel zu tun. An Weihnachten, zum Beispiel, sind wir alle zum Essen bei freiwilligen Helfern eingeladen. Und sobald ich meine Dokumente beisammen habe, will ich auch wieder Fußball spielen, eine Mannschaft gründen und ein Turnier veranstalten – eben – leben wie ein freier Mann“, erklärt C.Es gibt aber auch solche, die jeden Tag Fussßball spielen und es nicht erwarten können in einer großen Stadt zu leben.
Mit M. treffe ich mich außerhalb des Zentrums. Wir haben uns am Telefon verabredet. M. lebt in einem anderen Aufnahmeszentrum, weit außerhalb des Stadtzentrums von Vittoria. Dort habe ich ihn Anfang Oktober kennengelernt.
Damals hat er mir von seiner Flucht aus Sierra Leone nach Gambia erzählt, wo er als Wächter in einem Trainingslager für Rekruten arbeitete, um sich sein Studium zu verdienen und um Geld an seine Familie zu überweisen, die das Land nicht verlassen konnte. Aber um in Gambia der Zwangsrekrutierung zu entgehen, musste er fliehen. Sein Weg führte ihn über Senegal und Burkina nach Libyen, wo er zwar Arbeit im Baugewerbe fand, aber unter Bedingungen der Sklaverei: „Die Vorarbeiter holten uns am Morgen ab und brachten uns am Abend in unsere Unterkunft zurück und brachten uns zu essen. Wenn sich Schwarze auf der Straße zeigen, werden sie leicht das Ziel von Überfällen und kriminellen Banden“, berichtet M. Der Aufenthalt in Libyen wurde zum Anfang der letzten Reiseetappe, diesmal nach Italien, wo M. sich als minderjährig ausgab, aufgrund von Ratschlägen seiner Kameraden und aus Angst wegen fehlender Dokumente repatriiert zu werden. Nach der Besprechung mit einer Sozialarbeiterin beschliesst M. sein wahres Alter bekannt zu geben, befindet sich aber bis heute in einem permanenten Zustand der Angst: „Ich habe Angst, sehr große Angst, die nötigen Dokumente nicht, oder falsche Dokumente zu bekommen aufgrund meiner ursprünglichen falschen Angaben. Aber ich wusste nichts von diesen Gesetzen und ich darf keine Abschiebung riskieren. Man würde mich umbringen.” Bis heute ruft M. keine Verwandten und Freunde an, aus Angst, diese in Gefahr zu bringen. Er versucht, nicht zu verzweifeln, wartet auf den Aufruf der Kommission und lernt Italienisch. “Denn, wer besser Italienisch spricht, der findet Arbeit. Aber auch ich habe schon einige Wochen gearbeitet: von 5 Uhr morgens bis 5 Uhr abends, ich habe Broccoli und Tomaten in den Treibhäusern geerntet. Aber ich habe damit aufgehört. Denn oft haben sie mir am Ende der Woche nicht einmal die versprochenen Tageslöhne von 10 – 15 Euro ausbezahlt. Und ich kann mich nicht wehren, weil ich ohne Dokumente bin.“
Der Versuch, sich in einem Land eine Zukunft aufzubauen, in dem diejenigen ohne Stimme zu allein sind und leicht zum Opfer jeder Art von Ausbeutung werden, indem die Warteliste für die Dokumente der Anerkennung der Flüchtlingsrechte Monate und Jahre dauern kann.
Man muss sich fragen mit welchem Recht hier von Aufnahme und Integration gesprochen wird.
Lucia Borghi
Borderline Sicilia Onlus
Aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne