Es ist ungefähr 18 Uhr, als das britische Handelsschiff „Aquila“ in seiner ganzen größenbedingten Eindrücklichkeit in die Bucht des Hafens von Pozzallo einläuft. Sofort legen zwei Motorboote mit zwei Ärzten ab, die für die Durchführung der ersten sanitären Kontrollen zuständig sind. Erst nach solchen Kontrollen dürfen Flüchtlinge und die transportierenden Boote am Festland anlanden. Die Migrant*innen sind in der vergangen Nacht von dem Handelsschiff im Kanal von Sizilien gerettet worden. Es ist das hundertste Schiff mit Geflüchteten, das in Pozzallo ankommt, das vierte Schiff in nur fünf Tagen. Die Nachricht der Ankunft des Schiffes hat viele Journalisten, Fotografen und Aktivisten am Kai versammelt, ebenso Polizei, Militär, Zoll, Mitarbeiter*innen von Frontex, Ärzte ohne Grenzen sowie eine große Gruppe Freiwilliger des Roten Kreuzes und des Katastrophenschutzes.
Das CSPA in der Nähe des Hafens wurde tagsüber fast vollständig geräumt, um Platz für die heute Ankommenden zu schaffen. Die Migrant*innen, die am Sonntag angekommen sind, wurden nach Comiso gebracht. Dort befanden sich gestern bereits 188 Personen, hauptsächlich aus Somalia und Eritrea. Solche Abläufe sind in der letzten Zeit tägliche Praxis geworden. Sie führen aber nicht dazu, dass das Interesse für das Schicksal Hunderter unterschiedlicher Menschenleben, die dort durchgeschleust werden, nachlässt. Einige der anwesenden Personen waren zuvor im Hafen von Augusta und berichten die Geschichten der Überlebenden dieses Nachmittags. Erzählungen, die von den Geschehnissen vor der Ankunft berichten und die wir oft geneigt sind, zu vergessen.
Die Stunden verrinnen und erst um 22:30 Uhr kommt das Frachtschiff, auf das die Flüchtlinge übergesetzt wurden, am Kai an. An Bord befinden sich 449 Migrant*innen, 235 Männer, 81 Frauen und gut 133 Minderjährige. Es sind Menschen aus Syrien, Palästina, Ägypten und Tunesien. Die Migrant*innen sitzen erschöpft auf dem Boot. Es lassen sich schnell zahlreiche Familien ausmachen, verschleierte Frauen kümmern sich um schlafende Kinder, Jugendliche spreizen die Finger zum Victory-Zeichen und grüßen. Die ersten, die das Boot verlassen, sind drei schwangere Frauen, gefolgt von einem humpelnden Jungen und einer Frau, die gut 70 Jahre als ist! Es liegen keine besonderen Gesundheitsprobleme vor, sodass die Ankunft relativ schnell voran geht. Währenddessen kommunizieren die Polizei und die Kulturmittler (Übersetzer) schon vom Kai aus mit den Migrant*innen, die noch an Bord sind. Die bereits Gelandeten bekommen ein Armband mit einer Identifikationsnummer, müssen den rechten Arm auf die linke Schulter legen, es wird ein Foto gemacht und in zwei Schritten sind sie im Reisebus, der sie ins Zentrum bringen wird. So ziehen die ersten ca. hundert Personen an uns vorbei. Einem Mann gelingt es, seine Geschichte zu berichten. Er ist Syrer aus Aleppo – einem Ort, an dem es derzeit weder Rechte noch Bewegungsfreiheit gibt.
Ein anderer junger Mann, der ausgibt, Palästinenser zu sein, beginnt alle Sprachen aufzuzählen, die er kennt: Englisch, Französisch, Spanisch, Arabisch und Latein. Einige küssen den Boden, sobald sie das Festland betreten, andere beten Gebetsketten. Fragmente von Menschlichkeit, die wir beobachten können, genauso wie die staunenden Blicke der Kinder, die zu lächeln beginnen, wenn man ihnen Aufmerksamkeit schenkt. Nach einer Weile beginnt sich die Stimmung unter den Migrant*innen, die sich noch an Bord befinden, aufzuheizen. Einige Flüchtlinge drängen sich zum Ausgang des Schiffs und die Polizeikräfte versuchen mit Hilfe von Übersetzer*innen die Migrant*innen zu überzeugen, zu warten, bis sie an der Reihe sind. Wenige Minuten später werden zwei junge Männer, scheinbar nordafrikanischer Herkunft, die relativ nah beieinander stehen, abgeführt und unmittelbar in einem Polizeifahrzeug weggefahren. Keiner der Anwesenden gibt darüber Auskunft, aber es ist offensichtlich, dass es sich um sogenannte Untersuchungen angeblicher Schlepper handelt, was eine Welle von Kommentaren am Kai auslöst. Die langsame Ankunft gerät kurzeitig in den Hintergrund, als eine Katze an Bord entdeckt und zunächst auf einen Tierarzt gewartet wird. Die Flüchtlinge rücken daraufhin weiter schweigend in der Schlange voran und nicken nur auf einige Fragen, mittlerweile total erschöpft vom Warten. „Wir sind aus Libyen aufgebrochen, nicht aus Ägypten!“, „aber sind wir hier in der Nähe von Mailand?“, übersetzen die Freiwilligen vom Roten Kreuz die konfusen Sätze, die sie, wie so oft, während der ersten Hilfe aufschnappen. „Diese Personen haben nichts mehr zu verlieren. Mittlerweile kommen auch Alte, auf der Suche nach einem Platz, der sich wenigstens zum Sterben eignet“. Sie tun es auch, um ihr Recht auf ein Leben in Würde einzufordern, in einem Kampf um Wahlfreiheit, für den wir uns zusammenschließen sollten.
Lucia Borghi
Borderline Sizilien
Aus dem Italienischen von Elias Steinhilper