Das Schiff von SOS Mediterranee im Hafen von Palermo |
Es handelt sich um eines der wenigen NGO-Schiffe die noch im Meer unterwegs sind. Nach der schäbigen Kriminalisierungskampagne hat es einen Rückzug aus dem Mittelmeer der ungemütlichen Zeug*innen der Abschiebepolitik in Richtung Libyen gegeben.
Es reicht dabei einen Blick auf die Titelseiten der Zeitungen zu werfen, die mit Zahlen prahlen, ohne sich um Präzision bei der Angabe der Anzahl unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter zu bemühen.
Am Ende sind in Palermo 114 unbegleitete Minderjährige verschiedener Nationalitäten angekommen, Jungen und Mädchen, welche in den Zentren der Stadt und den umliegenden Provinzen untergebracht werden. Damit füllen sich die Einrichtungen erstmals wieder, nachdem sie kürzlich rückläufige Zahlen vermeldeten, da viele unbegleitete Minderjährige die Volljährigkeit erreicht haben und entsprechend in Aufnahmezentren für Erwachsene umgesiedelt wurden. Insofern war für viele Einrichtungen und Kommunen die Ankunft dieser Menschen ein richtiger Segen. Ein Beispiel ist das berühmte Zentrum Casa Asante, welches nun wieder 180 Minderjährige beherbergt.
Auch viele Familien mit Kindern sind angekommen, die eine schreckliche Reise hinter sich haben. Viele von ihnen haben lange Zeit in Libyen gelebt, nachdem sie aus Syrien, Ägypten oder Eritrea geflohen waren. Viele Menschen, die in Libyen gearbeitet haben, mussten von hier noch einmal fliehen, weil der Krieg hier wahnsinnig macht, weil die Milizen außer Kontrolle sind und der Weg in das Schleusernetz oftmals der einzige Ausweg ist. Und so nehmen sie ihre Koffer in die Hand um erneut ein weiteres Ziel anzusteuern, ein Zustand verursacht von einer blinden und mörderischen Politik.
Viele der Neuankömmlinge sind Opfer von Folter, Genitalverstümmlung, Machetenschlägen, Verbrennungen, physischen und psychischen Verletzungen. All dies ist das Ergebnis von politischen Verantwortlichkeiten und von gezielten Entscheidungen, die von medialer Aufmerksamkeit leben. Genauso geschieht es in Palermo, wo sich sobald die Scheinwerfer der Ergriffenheit ausgehen, alles verwandelt: der Übergang von den Aussichtsstegen zu den Identifizierungsprozeduren verläuft schnell, ohne jegliche Rücksicht auf besondere Schutzbedürftigkeit. Ein Junge mit schlimmen Verbrennungen und einer Pistolenkugel im Bein musste Stunden im Hafen verharren, weil die Quästur ihm keinen Vortritt bei der Identifizierungsprozedur geben wollte. Ein weiterer Junge mit stressbedingten post-traumatischen Symptomen durfte stundenlang eine technischen Einrichtung ohne medizinischen Beistand nicht verlassen.
Wiedermal packen nach der Ausschiffung alle Akteure ihre Sachen zusammen und verlassen die Anlegestege, angefangen bei der lokalen Gesundheitsbehörde, bis zum Roten Kreuz, den Mediator*innen, den Freiwilligen und lassen dabei nur die Polizeibehörden zurück, welche ausschließlich die Aufgabe haben, die Identifizierungen durchzuführen: es handelt sich dabei nicht um Ärzt*innen oder humanitären Akteur*innen und sie folgen dabei strikt den vorgegebenen Regeln. Regeln, welche die Sicherheit als oberste Priorität haben und nicht davor zurückschrecken, Familien auseinander zu reißen, wie es auch dieses Mal wieder geschehen ist.
Wir sind nach wie vor der Auffassung, dass die Ausschiffungen in Palermo deutlich besser ablaufen als jene in den stark militarisierten Häfen, was vor allem der Anwesenheit von Organisationen aus dem dritten Sektor geschuldet ist. Jedoch sollte deren Anwesenheit auch nach der Ausschiffung gewährleistet sein, bis der letzte Ankömmling die Einrichtungen wieder verlassen hat. Mediator*innen und Ärzt*innen sollten bleiben um sich den Problemen zu widmen, die Stunde um Stunde zunehmen, gleichzeitig mit der Anstrengung, dem Stress und der Angst vor den Kontrollen von Beamt*innen, die wie in Libyen Pistolen und Schlagstöcke bei sich tragen.
Dieses Mal waren junge Libyer*innen mit Koffern dabei, was die Notwendigkeit aus diesem Land fliehen zu müssen noch einmal verdeutlicht. Die Libyer*innen wurden dabei in den Bereich der Aufnahme vorgelassen, während den Tunesier*innen, Marokkaner*innen und Ägypter*innen das zeitversetzte Zurückweisungsdekret blüht.
Seit Samstag ist der Bahnhof voll mit Männern und Frauen, die um Hilfe bitten, sie wollen essen und sich duschen. Unterstützung kommt jedoch nur von den Vereinen, auch wenn der Bürgermeister der Stadt nicht aufhört in Interviews zu betonen, dass es in Palermo nur Einheimische und keine Fremden gäbe. Im Bahnhof befinden sich außerdem Menschen, die aus anderen Städten hinzukommen, insbesondere aus Trapani und Agrigent. Auch dort sind viele Neuankömmlinge zu vermelden, insbesondere Tunesier*innen. Der Hotspot von Lampedusa ist wieder mal gefüllt mit 600 Tunesier*innen, welche in dieser unangemessenen Unterkunft zusammengedrängt werden. Im Hotspot von Trapani wurden 250 Personen, zusätzlich zu den Tunesier*innen die an der sizilianischen Küste angekommen waren, untergebracht. Ein Junge war nach Palermo gelaufen, immer an der Autobahn entlang und war schließlich im Moment seiner Ankunft ohnmächtig geworden.
Auch Palermo wird einen Hotspot bekommen und die Kasernen der Stadt werden erneuert. Mit Nachdruck wurden die Arbeiten einer Firma aus Rom mittels der Agentur Invitalia anvertraut, mit welcher das Innenministerium ein Abkommen in Bezug auf alle Regierungseinrichtungen geschlossen hat. Wir fragen uns, ob sich Bürgermeister Orlando erkundigen wird, ob diejenigen, die die menschliche Komponente bei den Ausschiffungen garantieren, dies auch im Hotspot tun werden oder ob es, wie immer, nur bei politischen Slogans bleiben wird. So wäre es auch in Palermo, wie in anderen Städten, möglich, die Missbräuche und illegalen Praktiken an den Wehrlosesten und Schutzbedürftigsten zu militarisieren und vor indiskreten Augen auszuüben.
Und das Chaos regiert auch aufgrund des Endes der Relocation-Programme: sogar ganze syrische Familien werden in die Erstaufnahmezentren gebracht und wenn dort keine Plätze für Familien zur Verfügung stehen werden sie getrennt: was der Krieg nicht geschafft hat, schafft die Politik. Leider hätten diese Menschen zwei Wochen früher aufbrechen müssen, als die Möglichkeit umgesiedelt zu werden eine Option war, zwar langwierig und verworren, aber es war immerhin eine Option, die heute nicht mehr existiert.
Am Bahnhof haben wir einige Jugendliche getroffen, die in den Einrichtungen für Minderjährige in Palermo untergebracht sind. Sie betonen, dass auch dort das Chaos unter ihnen regiert, weil sie von niemandem unterstützt werden, wenn nicht von einem Angestellten oder Freiwilligen mit einem guten Willen. Diese Leute empfehlen den Neuankömmlingen weiterzuziehen, weil „ihr sonst in ein abgelegenes Zentrum geschickt werdet und dort werdet ihr allein gelassen“ A., ein 16-jähriger aus Gambia, lässt seiner Wut freien Lauf: „Meine Einrichtung ist eineinhalb Stunden zu Fuß vom Dorf entfernt. Wir sind den ganzen Tag dort, weil man uns nie von dort weg holt. Es gibt kein Geld für ein Auto seit mehr als einem Jahr.“
In diesem ganzen Chaos sind immer sie diejenigen welche die Konsequenzen tragen müssen, die Frauen und Männer die aufgrund unseres Wirtschaftssystems verarmt sind, die auf der Reise sterben oder die wir in unseren Ländern verlieren, indem wir sie in Sklaven unserer Habgier und gleichzeitig unserer Ängste verwandeln.
Die Präfektur von Palermo sucht zur Zeit über eine Anzeige nach wirtschaftlichen Anbietern, die daran interessiert sind, Reisetickets und Transporte für ausreisepflichtige ausländische Bürger zu übernehmen, um so deren Entfernung aus unserer Städten zu vereinfachen. Die Voraussetzungen dafür sind geschaffen sich nichts Gutes von der Zukunft erwarten zu dürfen.
Redaktion Borderline Sicilia
Aus dem Italienischen von Giulia Coda