Ph. L' Espresso |
Die Verfügung, die unter anderem die Akten aufgrund der territorialen Zuständigkeit an die Staatsanwaltschaft in Rom überträgt, wurde am Freitag, den 12. Mai unterzeichnet, vier Tage nach der Veröffentlichung der Videoaufnahme auf der Seite des „Espresso“. Diese Aufnahme enthüllt mit den Telefonaten der Hauptpersonen, warum es zu der Katastrophe gekommen ist, bei der 268 syrische Geflüchtete ertrunken sind, darunter 60 Kinder. Diese Katastrophe hat, eine Woche nach den 366 Toten auf Lampedusa, den damaligen Premierminister Enrico Letta davon überzeugt, umgehend die Operation „Mare Nostrum“ einzuleiten.
EXKLUSIV DIE TELEFONATE DES SCHIFFBRUCHS
Das Gericht weist den Vorwurf der Staatsanwaltschaft von Agrigent von Anfang an zurück. Der Richter leugnet: es sei nicht wahr, dass das Fischerboot mit mindestens 480 Geflüchteten sich in den maltesischen Territorialgewässern befunden hätte. Es sei mehr als 100 Meilen von der Insel entfernt gewesen. Stattdessen soll es sich in der SAR-Zone (das englische Akronym für „Suche und Rettung“) Maltas befunden haben. Zwischen Rom und La Valletta ist es nie zu einem beidseitigen Abkommen über eine Zusammenarbeit auf dem Meer gekommen, wie es zum Beispiel mit Slowenien, Kroatien, Albanien und Griechenland existiert.
Um 13.15 Uhr, vier Stunden vor dem Schiffbruch und eine Stunde nach dem ersten Hilfegesuch, befand sich das Schiff Libra etwa 20 Seemeilen von dem untergehenden Fischerboot entfernt. Von diesem trafen die verzweifelten Anrufe des Doktors Mohamad Jammo ein, dem syrischen Arzt, der auf dem Meer zwei Kinder verloren hat, eines sechs Jahre und das andere neun Monate alt. Der Richter beruft sich, in Sinne der nationalen und internationalen Bestimmungen, auf den Artikel 98 des Abkommens der Vereinten Nationen zum Seerecht: „Jeder Staat muss verlangen, dass der Kommandant eines Schiffes, das dessen Flagge trägt, in dem ihm möglichen Maße ... jedem Hilfe anbietet, der sich auf dem Meer in Gefahr befindet, und schnellstmöglich den Menschen in Gefahr zur Hilfe eilt, sobald er von ihrem Bedürfnis nach Hilfe erfahren hat.“
„Das Schiff Libra“, beobachtet der Ermittlungsrichter Francesco Provenzano, „befand sich in der Nähe des sich in Gefahr befindlichen Bootes, es war in der Lage, rechtzeitig einzugreifen und das Ertrinken von 300 Menschen zu verhindern, aber der Rettungseinsatz wurde nicht durchgeführt.“ Die Kommandozentrale der Küstenwache in Rom „war sich der Tatsache bewusst, dass zwischen Malta und Italien keine Übereinkunft nach der Hamburger Vereinbarung bestand, die das genaue Gebiet der SAR-Zone und dessen Zuständigkeit regelt. Man wusste aber sehr genau, dass Malta schon bei anderen Anlässen nicht eingegriffen hatte, aufgrund des riesigen Umfangs der erteilten zugehörigen SAR-Zone … Der tragische Vorfall war also eindeutig vorhersehbar, aber man ist nicht dementsprechend tätig geworden, und hat so akzeptiert, dass sich dieses tragische Nachspiel ereignen könnte, wie es dann auch geschehen ist. Dieser Umstand lässt die Vermutung eines eventuellen Tatvorsatzes entstehen, der zur Untersuchung des Vorfalls im Sinne des Artikels 40 zweiter Absatz des Strafgesetzbuches führt.“ Dieser Artikel besagt: „ein Ereignis nicht zu verhindern, obwohl man die juristische Verpflichtung hat dies zu tun, hat den gleichen Wert, wie ein solches herbeizuführen.“
Besonders die Kapitänleutnants Torturo und Miniero „hätten im richtigen Augenblick die sich in dem entsprechenden Gebiet befindlichen Seeeinheiten über deren sofortige Verpflichtung zum Eingreifen informieren müssen. Sie hätten tätig werden müssen, auch aber nicht nur unter Beihilfe von Malta, um unverzüglich die Ankunft der italienischen Rettungsgefährte zu garantieren, die sich deutlich näher an dem sich in Schwierigkeiten befindlichen Boot befanden... Dies haben sie nicht getan, sie haben sich darauf beschränkt, wiederholt die Koordinaten zur Ortung des Kahns anzufragen, während sie die Notwendigkeit eines schnellen Eingreifens ignoriert und den verzweifelten Migrant*innen die Notrufnummer Maltas durchgegeben haben. Dabei haben sie es unterlassen, die tatsächlichen Hilfsmaßnahmen einzuleiten, zu denen sie laut Gesetz verpflichtet waren... (abgesehen von der Inanspruchnahme der zusätzlichen Unterstützung Maltas, die von der Hamburger Vereinbarung vorgesehen ist, und die sie nicht angefragt haben), damit haben sie willentlich zum Schiffbruch und dem daraus folgenden Tod von dreihundert Migrant*innen beigetragen.“
Laut dem Gericht von Agrigent muss außerdem auch die eventuelle Verantwortung des Kommandanten des Cincnav der Marine untersucht werden, „der am 11. Oktober 2013 um 13.15 Uhr von der aktuellen “warning” benachrichtigt wurde. Es geht nicht hervor, dass er tätig geworden sei, den Aufruf an das Militärschiff Libra weiterzugeben, das sich nur 17 Meilen vom Einsatzort entfernt befand, sodass dieses Schiff sich selbst dorthin hätte begeben können, um die dringende Hilfe auf dem Meer zu leisten.“
Dem Richter zufolge muss auch im Falle der Kommandantin der Libra, Catia Pellegrino, wegen Mordes ermittelt werden, “weil diese entweder nicht informiert wurde, oder aber die Anordnung des vorgesetzten Militärkommandanten nicht erhalten hat, sodass sie das Schiff, über das sie das Kommando hatte, nicht zum Gefahrenort gefahren hat, wie es der Paragraph 2 der Vereinbarung der Vereinten Nationen zum Seerecht und der Artikel 1158 des Gesetzbuches der Seefahrt vorschreibt... Etwa gegen 13.30 Uhr hat sie den Alarm aus der Kommandozentrale der Küstenwache erhalten, und war somit in der Lage, die Tragödie zu verhindern, die sich dann um 17.07, also dreieinhalb Stunden später ereignet hat. Diese Zeit reichte zweifellos aus, um die 17 Meilen zurückzulegen, die sie von dem sich in Gefahr befindenden Boot trennten.”
Fabrizio Gatti
Übersetzung aus dem Italienischen von Moira-Lou Kröll