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Donnerstag, 5. Januar 2017

Unbegleitete Minderjährige in Zeltstädten und Hotspots. Die Fälle von Pozzallo, Augusta, Catania und Messina

2016 endet mit weiteren Ankünften, Toten, Vermissten. 2017 beginnt mit dem Vorschlag für neue Haftzentren und weitere Eingrenzung der Bewegungsfreiheit der Migrant*innen. Die kriminelle Politik der Festung Europa verursacht immer mehr Auseinandersetzungen und aktive Gedenk- und Solidaritätsmaßnahmen. Am 24. Dezember kamen in Pozzallo 111 Migrant*innen an Land, aber die Berichterstattung konzentriert sich nur auf die unmittelbaren Festnahmen der zwei mutmaßlichen Schleuser. Hiermit sind es 200 Festnahmen im Jahr 2016 in der Provinz von Ragusa, Sizilien. 
Der Hotspot von Pozzallo - Foto: Lucia Borghi


In denselben Augenblicken sind in Augusta 417 Migrant*innen mit dem Schiff „Echo“ angelandet, nachdem sie durch vier Rettungsaktionen in Sicherheit gebracht worden waren; unter ihnen auch eine Frau aus Guinea mit einem gerade einmal sieben Tage jungen Kind. Wenige Stunden später gelangten auch die 39 Iraker*innen, unter ihnen 10 Frauen und 6 unbegleitete Minderjährige, in die Zeltstädte. Die 39 Menschen wurden in der Nacht zuvor auf der kleinen Insel des Naturparks von Vendicari gefunden worden und kamen mit großer Wahrscheinlichkeit von der Türkei. In der Zwischenzeit weisen die Zeugenaussagen der Neuankömmlinge immer mehr auf etwa 100 im Meer Vermisste hin, und somit auf den x-ten Schiffbruch im Mittelmeer.
Eine Nachricht, die viel zu schnell durch die Medien ging, in denen die xenophoben und rassistischen Diskurse derer toben, die auf neue Sicherheitspolitik, konsequentere Rückführungen und die Wiedereröffnung der CIE* drängen, die diejenigen betreffen, die das libysche Inferno und die Meeresüberquerungen überleben. Migrant*innen, die als verschwommene, homogene Masse dargestellt werden, nicht als einzelne Individuen; Geflüchtete, die nach ihrer Staatsangehörigkeit etikettiert werden, deren Zukunft unauflösbar an die Machtbeziehung zwischen unserem und ihrem Land gebunden zu sein scheint. Herkunfts- oder Durchreiseländer, über die man mit Vorbedacht entscheidet, nicht zu reden, wie  beispielsweise Libyen, wo das Kriegs-, Terror- und Gewaltklima selbst diejenigen zu Flucht zwingt, die dort geboren wurden oder Jahrzehnte lang gelebt haben. Die Körper und Seelen der Ankommenden sind laufend vom libyschen Horror gezeichnet, den wir nicht länger ignorieren dürfen.
Wir sprechen hier von tausenden von Männern, Frauen und Kindern, unter ihnen viele unbegleitete Minderjährige.
2016 waren es circa 24.000 unbegleitete Minderjährige, die nach Italien gelangt sind und oftmals auch in unserem Land, das sich demokratisch und gastfreundlich nennt, weiterhin illegitimen, entwürdigenden Praxen ausgeliefert sind. Das ist keine Rhetorik, sondern Praktiken, die wir täglich beobachten.
Die Minderjährigen, die in Augusta anlanden, werden tage- und wochenlang in der prekären Zeltstadt im Hafen zurückgelassen. Ein strukturell unangemessener Ort, wenige Schritte von einer Müllverbrennungsanlage entfernt, in dem es an angemessener medizinischer, materieller, psychologischer und rechtlicher Betreuung fehlt. Selbst im Winter sind sie in den Zelten zusammengedrängt, in gemischter Belegung mit Männern, Frauen und Kindern, oftmals ohne Decken und genügend Bekleidung. 
Viele verlassen spontan das Zeltlager, unter dem teilnahmslosen Blick derer, die genau wissen, welche Risiken auf unbegleitete Minderjährige zukommen könnten, es aber vorziehen, an die übliche Ausrede von zu wenig angemessenen Unterbringungsplätzen zu glauben, wo doch das Zeltlager der erste unangemessene Ort ist, und ohne die Missstände zu beklagen oder Probleme zu machen, ihr Gehalt nach Hause bringen, denn der „Notstand Migration“ wird ein immer rentableres Geschäft. Die Situation in Augusta ist selbst für Erwachsene oft dramatisch: Dass viele von ihnen nach ihrer Ankunft umgehend ins Krankenhaus verfrachtet und nach ihrer Entlassung in die Zeltlager zurückgebracht werden, ist ein weiterer Fakt, der bestätigt, dass nicht einmal den Schutzbedürftigsten minimale Rechte garantiert werden. Illegitime Praktiken, die sich an den Orten wiederholen, in die die Migrant*innen dann umgesiedelt werden. Eines der vielen Beispiele in der Provinz von Syrakus ist das CAS* in Rosolini, in das ohne jegliche Betreuungslogik Familien, besonders Schutzbedürftige und Zeug*innen, die mutmaßliche Schlepper in Haft gebracht haben, geschickt werden. In diesem Zentrum verweilen sie für sehr lange Zeit, von unterschiedlicher Dauer, ohne angemessenen Beistand und immer noch Opfer von eingeschränkter Bewegungsfreiheit, die auf eine absurde Entscheidung der Träger basiert, die es den Migrant*innen nicht erlaubt, sich innerhalb des Ortes zu bewegen.
Auch die Situation viele*r Minderjährige*r, die im Hafen von Catania anlanden, ist kritisch: nach ihrer Anlandung, die nicht nach dem Kriterium des Schutzes der Menschen organisiert ist, sondern einer zeitlich und logistisch optimalen Durchführung der Kontrollprozesse entsprechend, finden sich die Minderjährigen häufig in überfüllten und sehr abseits gelegenen Zentren wieder, wie die vielen kürzlich eröffneten CPA*, in denen es nicht nur an rechtlicher und sozialer, sondern auch an materieller Unterstützung mangelt. In mehreren Zentren, in denen teils bis zu 70 Minderjährige gleichzeitig untergebracht sin, fehlen Kleidung und Decken, aber auch warmes Wasser und Heizungen. Die Jugendlichen laufen wie Zahlen an Mitarbeiter*innen vorbei, die ausschließlich auf Italienisch kommunizieren und das Lösen von Konflikten immer häufiger an die Polizei delegieren. Der Zeitrahmen der Umsiedlungen scheinen vom Zufall diktiert: Jugendliche bleiben weitaus länger als für die festgelegten Monate in den Erstaufnahmezentren, während andere sich dort wenige Tage zur Durchreise aufhalten. Dies erzeugt Unverständnis, das wiederum das Misstrauen gegenüber den Mitarbeiter*innen nährt, schädigt die Möglichkeiten der sozialen Integration und fördert die Desorientierung derjenigen, die wie Postpäckchen versetzt werden, um im Endeffekt nur das Erhalten der Aufenthaltserlaubnis hinauszuzögern. Die Träger sehen es als Luxus und nicht als Notwendigkeit an, dass die Migrant*innen die Logik dieser Manöver nachvollziehen. Das CARA* von Mineo* in der Provinz von Catania ist weiterhin überfüllt: bei 3700 Anwesenden werden weiterhin im Südosten Siziliens ankommende Migrant*innen dorthin gebracht. In den letzten Wochen ist zum Vorschein gekommen, dass im CARA* ein Hotspot eingerichtet werden soll, „durch die neuen Anpassungsmaßnahmen von 90 Wohneinheiten für circa 900 Plätze, die physisch vom Rest des CARA abgesetzt sein sollen, damit in diesem die ursprüngliche Arbeit parallel fortgesetzt werden kann“. Die Entscheidung wurde von der parlamentarischen Kommission und von dortigen Aktivist*innen stark kritisiert, da ihnen klar war, welche weiteren Rechtsverletzungen derartige Änderung mit sich bringen würde.
Das CARA von Mineo soll, nach jahrelanger Ermittlung trotzdem noch weit von der endgültigen Schließung entfernt, zu einem „Vorbild"-Modell gemacht werden. Anfang des Sommers wurde bekanntgegeben, dass die Ex-Kaserne „Gasparro“ in Messina zu einem der größten Semi-Inhaftierungs- und Verteilungszentrum für Migrant*innen umfunktioniert werden soll, obwohl der Bewilligungsprozess noch nicht abgeschlossen ist. Der Ausbau der ehemaligen Kaserne wird allerdings schon vorbereitet, diese könnte somit zwischen 500 und 1000 Personen „aufnehmen“ und würde daher ein neuer Hub/ Hotspot* werden, in dem, ohne jeglichen rechtlichen Rahmen, festhaltende, selektierende und abschiebende Maßnahmen durchgeführt werden würden. Obwohl sich gezeigt hat, dass das „Projekt Hotspot“ komplett versagt hat, wird es immer wiederholt, als wäre es eine „Ausnahme“, in der die an den Migrant*innen experimentierten Kontroll- und Repressionspraktiken zu Modellen weiterentwickelt werden, die in Zukunft als Teile der staatlichen Politik eingesetzt werden können. Währenddessen sind unter schlimmen, besorgniserregenden Umständen, hunderte unbegleitete Minderjährige in der Ex-Kaserne „Gasparro“ und in der Zeltstadt PalaNebiolo untergebracht. Auch hier, wie in den vorher benannten Erstaufnahmezentren in anderen Provinzen, summieren sich die strukturelle Unangemessenheit und Überfüllung mit nicht vorhandener Privatsphäre, fehlender individueller Unterstützung und Inobhutnahme der besonders Schutzbedürftigen; die „Aufnahme“ reduziert sich auf minimale Betreuung, die der unpersönlichen Logik der großen Zahlen folgt. Seit dem 1. Dezember werden beide Einrichtungen von der Kooperative Senis Hospes und der Kooperative Domus Caritatis betrieben, die auch  für den Betrieb des Hotspots in Pozzallo verantwortlich sind.
Auch in einer Einrichtung in der Provinz von Ragusa treffen wir auf unzählige unbegleitete Minderjährige: zu hunderten bleiben sie wochen- oder monatelang in den Containern. Sie fallen uns nur wegen ihrer kurzen Ausgänge in die Stadt auf oder weil die Lokalpresse auf sie aufmerksam macht, nur um umgehend Platz für unverdiente Lobgesänge auf die Mitarbeiter*innen der Organisationen, die Polizei und die Freiwilligen einzuräumen, die in den Hotspots arbeiten. Der perversen Logik der Desinformation nach, soll den Leuten die Nachricht über das Können der Italiener*innen, die die Migrant*innen aufnehmen, übermittelt werden. Nicht ein Wort über die Machtverhältnisse, die sich im Kontext von humanitärer Hilfe und Unterstützung etablieren, nicht ein Hinweis auf die geschichtlichen Hintergründe, die viele Migrant*innen dazu gebracht haben, Zuflucht in Italien zu suchen, und die wiederum direkt oder indirekt auf die politischen und ökonomischen Entscheidungen unserer Regierung zurückführen. Sowie auch in Bezug auf unser aktuelles „Aufnahme“-system, das offensichtlich nicht funktioniert, weil es diskriminierende, kontrollierende und selektierende politische Praxen begünstigt, die nicht mit der Förderung der Rechte und der Inklusion der Migrant*innen übereinstimmen können. Die verschiedenen Interessen, Möglichkeiten und Verantwortungen der beteiligten Akteure zu kennen, erlaubt es, nicht in die Falle der Perspektive eines Notfalls zu laufen, die nur zu sterilen Beschwerden oder zur Akzeptanz einer illegalen Situation führt, die uns aber nicht direkt betrifft. Eine klare Sichtweise der aktuellen Situation sollte jeden alarmieren und dazu treiben, sich für die Wiederherstellung eines Rechtsstaats einzusetzen, die dauernden Rechtsverletzungen anzuprangern und an alternative Lösungen zu denken. Dies wäre auch für die Mitarbeiter*innen, Verantwortlichen und all diejenigen wünschenswert, die vor diesem menschlichen Versagen keinen anderen Ausweg finden, als sich in das „kleinere Übel“ oder in die paralysierende Impotenz zu flüchten. Aber man weiß, dass das Spiel nicht mit uns gespielt wird und dass unser Leben nicht auf dem Spiel steht und dass es nicht unsere Zukunft beeinträchtigt, und oft überwiegt die Indifferenz mit ihrem entmenschlichenden Gewicht, durch die ein Massenmord unbeobachtet vor unseren Augen passiert. Erwachsene und Minderjährige, die noch heute wochen-, monate- und jahrelang in Diskriminierung und physischer Ausgrenzung leben müssen, von Hotspots zu Zeltstädten und Inhaftierungszentren wechselnd. Für sie ist es unmöglich, sich in den neuen Kontext einzufügen und eine Stimme zu ergattern, die nicht nur Narrative ist, sondern sich auch als politischer Diskurs entwickeln kann.
Diese von der Mehrheit der in Sizilien angekommenen Migrant*innen erlebten Ereignisse wirken sich auf beunruhigende Weise auf die Möglichkeit aus, sich in unserem Land eine Zukunft aufzubauen. Glücklicherweise ist es nicht für alle so und das lässt auf eine mögliche Veränderung hoffen. In einem kleinen Dorf in der Provinz von Mailand treffen wir auf G. , einen jungen Ägypter den wir vor Jahren in Sizilien kennen gelernt haben, wo er 2011 angelandet war. G. war ein Besatzungsmitglied des ägyptischen Fischerboots, auf dem einige Migrant*innen reisten, die dann in Sizilien anlandeten. Deswegen wurde er wegen Zusammenarbeit mit dem mutmaßlichen Schlepper des Boots angezeigt. Sein neues Leben in Italien fing also mit Haft und dann mit einer Strafaussetzung zur Bewährung an, mit gerademal 16 Jahren. Während 18 Monaten hat G. in einem kleinen Dorf im Hinterlande von Ragusa gelernt und gearbeitet und war dabei gezwungen, eine Verantwortung zu akzeptieren, die er nie hatte, aber auch nie hatte bestreiten können: „Der Kapitän war derjenige, der die Entscheidungen traf. Ich habe nur Anweisungen ausgeführt, ich wusste nicht, was passierte und vor allem wollte ich nie nach Italien kommen.“ Nun hat G. sich entschlossen, weiter nach Norden zu gehen, er hat Arbeit in einer Pizzeria gefunden und versucht, eine Vergangenheit hinter sich zu lassen, die trotz seiner jungen Jahre  sehr belastend ist: „Hier arbeite ich, es geht mir gut und vor allem habe ich ein neues Leben anfangen können, ohne dass jemand schon meine Vorgeschichte kannte und mich so automatisch als Kriminellen abstempeln konnte. Es ist schwer, aber so zu sein wie die anderen, gibt mir dir Hoffnung, es schaffen zu können.“ Einfach mit den Rechten und der Würde eines Menschen als Person anerkannt zu werden. Der Mehrheit der Migrant*innen, die heute in Italien ankommen, ist das noch nicht erlaubt, egal ob diese Erwachsene, Frauen, Kinder oder unbegleitete Minderjährige sind.
Lucia Borghi
Borderline Sicilia

*CIE: Centro di Identificazione ed Espulsione- Abschiebehaft
*CAS: Centro di Accoglienza Straordinaria – außerordentliches Aufnahmezentrum 
*CPA: Centro di Prima Accoglienza – Erstaufnahmezentrum
*CARA: Centro di Accoglienza per Richiedenti Asilo – Aufnahmezentrum für Asylsuchende
*Mineo: ist eine Stadt in der Provinz von Catania in der Region Sizilien in Italien. Hier befindet sich das größte europäische Flüchtlingszentrum für Asylsuchende (ca. 2000 Plätze). Es wurde im März 2011 eröffnet.
*HUB: aus dem Englischen für „Sammelplatz“, so sollen die neuen Verteilzentren für Asylsuchende heißen 

Übersetzt von Antonia Cinquegrani