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Mittwoch, 21. Dezember 2016

Geflüchtete werden auf Distanz gehalten – Die Festung Europa fordert durch ihre stille Mittäterschaft neue Opfer

„Europa spricht in Bezug auf Migrant*innen nur dann von Geflüchteten, wenn sie weit weg sind, etwa in Transitländern oder dort wo der Krieg tobt. Wenn wir es aber schaffen die Grenzen zu passieren, dann werden wir schnell zu Zahlen und es wird über uns wie über ein Problem diskutiert.“ L. Anfang 20 stammt aus dem Senegal. Die letzten fünf Jahre war er auf Reisen. Sein Ziel, die Festung Europa, hat er vor drei Jahren erreicht. Als er diese Worte äußert versucht er Anstand und Ruhe zu bewahren, obwohl der aufgeregte Ton die Wut, die Frustration und den Schmerz, die er täglich hinunterschlucken muss, durchblicken lässt.




Wenige Worte beschreiben die reale europäische Politik der Verwaltung des Phänomens Migration: Identifizierung, Selektion, Klassifizierung, Kontrolle, Externalisieren der Grenzen. Kürzlich hat Frontex auch humanitäre Missionen heftig attackiert, die sich auf See für die Rettung von Menschenleben einsetzen. Es gibt keine legalen Fluchtwege. Wer trotzdem flüchtet, dem droht weiterhin der Tod noch bevor das zunehmend abgeschottete Europa erreicht wird. Auf dem Kontinent nehmen Fremdenhass und mehr oder weniger sichtbare Barrieren viel schneller zu, als die Gesten der Solidarität.


Die Politiker*innen beeilen sich bei der Unterzeichnung von Abkommen mit Drittstaaten. Einerseits, um die ankommenden Geflüchteten, die unsere Wirtschaft immer „braucht", noch besser zu sortieren. Andererseits, um die Grenzen nach Außen zu drängen und jene, die sich nach Monaten oder Jahren befreien konnten, zurück in die Hände der Diktatoren und Peiniger zu schicken. Der Weg ist frei für Abkommen mit der libyschen Küstenwache, mit Diktaturen wie dem Sudan und mit korrupten Staatschefs, die bereit sind Bündnisse ohne des Wissens ihrer eigenen Mitbürger*innen einzugehen. Menschenrechte werden beim ohrenbetäubenden Schweigen der Medien zu Altpapier. Wirtschaftsmigrant*innen und nicht Wirtschaftsmigrant*innen, Rückführungen, Schlepper und mutmaßliche Schleuser, darüber wird diskutiert. Kein Wort fällt über das Verschwinden des Rechts auf Bewegungsfreiheit für Millionen von Menschen. Über die Toten, die die Wüste und das Mittelmeer zu Friedhöfen machen, fallen wenige Sätze. Die Zwangsmigration verwandelt sich in einen Strom, die Zahlen weichen vom Thema ab, die unpersönlichen Vergleiche vervielfachen sich und die unterschiedlichsten Fluchtmotive sowie Erfahrungen von Gewalt, die mit ihr einhergehen, bleiben unsichtbar. Die Information kommt als Slogan und über die Verantwortung der unterschiedlichen internationalen, nationalen und lokalen Akteure des Szenarios herrscht niemals Klarheit. All das bleibt unbekannt, um unverständlich zu bleiben. Auf diese Weise bleibt das aktuelle System erhalten und es besteht kein Bedarf, sich ein neues auszudenken.


Auf dem Meer werden weiterhin Leichen eingesammelt. Dabei wird nicht nur dort gestorben, sondern auch entlang der Brenner-Grenze und beim Grenzübergang Ventimiglia. Dort wo Waren frei zirkulieren können, gelten für Geflüchtete Kontrollen und Sicherheitsmaßnahmen. Mittlerweile werden in den sizilianischen Häfen wöchentlich Leichen von Männern, Frauen und Kindern an Land gebracht. So auch am letzten Dienstag der tote Körper eines Babys, das gleich nach seiner Geburt verstarb. Die Überlebenden berichten von Überfahrten auf dem Schauchboot unter schlechtesten Witterungsbedingungen und bei starkem Seegang. In vielen Fällen, so auch bei den letzten beiden Ankünften in Pozzallo und Augusta, berichten die Überlebenden von Vermissten. Diese sind die neuen Opfer, meist haben sie weder Gesicht noch Namen. Die Rettungsaktionen werden mittlerweile zum Großteil von Handelsschiffen oder der Militärmarine durchgeführt. Sie dauern oft sehr lange und erfolgen durch Abschleppboote. Eine Betreuung an Bord, die dem Wort Erstversorgung würdig wäre, gibt es in solchen Fällen nicht. Viele der 600 Menschen die am 14. Dezember 2016 an Bord des Schiffes Aviere in Augusta angekommen sind, wurden trotz der winterlichen Temperaturen erst nach der Vor-Identifikation mit Kleidung ausgestattet. Dann folgte für Männer, Frauen und Kinder, die auf dem Meer den Tod anderer mitansehen mussten und selbst nur durch ein Wunder gerettet wurden, eine Nacht im Zeltlager im Hafen ohne genügend Decken und Lebensmittel. Nie werden wir Fotos und Berichte über solche Szenen zu Gesicht bekommen, sondern rhetorische Unterhaltungen über die „organisierte Aufnahme-Maschinerie“ und die üblichen Bemerkungen über den Notstand hören, der mittlerweile keinen mehr täuscht. Politische und wirtschaftliche Maßnahmen, die auf dem Rücken der Migrant*innen ausgetragen werden, bleiben verborgen im Dunkeln. Die Geflüchteten erleiden unmenschliche Behandlungen, die von unseren Gesetzen in einem Zustand der Erpressbarkeit und des Schweigens festgenagelt sind. Sie sind keine italienischen Staatsbürger und können die Grundrechte privater Personen nicht einklagen.

Im Hotspot von Pozzallo bleibt die Situation nach wie vor besorgniserregend. Auch die Überlebenden der letzten tragischen Ankünfte wurden dorthin gebracht, bevor sie im CARA* von Mineo unterkamen. Ihr Beispiel ist ein Sinnbild für Zustände, die als Business, aber nicht als Aufnahme definiert werden können. Vernachlässigung und Isolation erfahren im CARA* die kürzlich Angekommenen, jene die auf Relocation (Umverteilung auf andere EU-Staaten) warten, die „Zeug*innen“, die zu mutmaßlichen Schleppern befragt werden, und jene, die seit Jahren auf ihre Dokumente warten. Sie leben zu Tausenden in einem „Ghetto“ in gebotener Distanz zur Lokalbevölkerung, mit der Begründung, dass es keine Möglichkeit realer Interaktion und Eingliederung gebe. So leben die Bewohner*innen mit dem ständigen Risiko einfacher Fang im Netz der Ausbeutung und Gewalt zu werden und täglich gegen die Entfremdung ankämpfen zu müssen. „Zu Beginn habe ich noch versucht Papiere zu bekommen, jetzt versuche ich nur nicht wahnsinnig zu werden“, sagt uns ein Geflüchteter der seit 14 Monaten im Zentrum ist. „Es ist nur eine Frage des Glücks ein Leben ohne Angst führen zu können und nicht fürchten zu müssen von einem Moment auf den anderen auf der Straße zu landen.“ Das CARA von Mineo liegt seit mehr als zwei Jahren im Mittelpunkt der Untersuchungen der Staatsanwaltschaft, aber die Medien interessieren sich nur dann für Geflüchtete, wenn sie Meldungen für den Boulevardteil abwerfen. Dabei ist es überflüssig zu erwähnen, dass der Diskurs, der Geflüchtete mit Drohungen und Gewalt verbindet,  nie einer angemessenen Dekonstruktion unterzogen wird, die umfassende Analysen des Zusammenhangs und der Ausgangssituation zulässt, aus denen sich die Fälle entwickeln.

Es ist einfach und bequem die Schuld auf die Migrant*innen zu laden und das unrechtmäßige Handeln unserer Institutionen aus dem kollektiven Gedächtnis zu streichen. Wir sehen dies bei den unzähligen täglichen Interaktionen, die wir in den Zentren beobachten: „Sie (die Migrant*innen) müssen sich beruhigen und sie stellen zu viele Ansprüche“; „Sie sind jung, sie sollten sich nützlich machen, stattdessen profitieren sie nur“; „Sie müssten dankbar für das sein, das sie haben“, so die Beschwerden vieler Mitarbeiter*innen der Zentren. Einfach gesagt! Viele Mitarbeiter*innen räumen jedoch nicht ein, dass eine Asymmetrie in der Beziehung der Geflüchteten mit der Ankunftsgesellschaft herrscht und dass die Mitarbeiter*innen selbst Teil eines sogenannten Aufnahmesystems sind, das offenkundig scheitert, da viel zu oft an Profit und Sozialstaatlichkeit gedacht wird,  und Selbstbestimmung und Schutz zu kurz kommen. Es wird von „Kategorien“ gesprochen, die einzelnen Personen bekommen kein Gehör.
„Ich bin müde, aber glücklich“, sagt uns hingegen der 16-jährige E. aus Kamerun. Drei Wochen war er im Hotspot von Pozzallo untergebracht, seit einigen Monaten lebt er in einem der neuen Zentren für unbegleitete Minderjährige, die im Rahmen des Notstandes der Provinz Ragusa eröffnet wurden. „In Italien zu bleiben ist schwer. Ich bringe mir selbst die Sprache bei, denn im Zentrum habe ich nicht die Möglichkeit die Schule zu besuchen. Ehrlich gesagt, verstehe ich von den Gesetzen und davon was mir noch bevorsteht nur wenig und das macht mich sehr nervös. Es ist mühsam in einem ungeheizten großen Kellerraum zu leben, ohne Busverbindung in eine naheliegende Ortschaft und vor allem ohne mit jemandem ein Paar Worte über das Leben hier austauschen zu können. Aber es geht mir gut. Ich bin bis hierher gekommen und deshalb werde ich mich nicht entmutigen lassen.“ Europa und Italien errichten Mauern, aber die, die keine Wahl haben, werden weiterhin versuchen diese zu überwinden.

Lucia Borghi

Borderline Sicilia 

*CARA - Centro di accoglienza per richiedenti asilo: Aufnahmezentrum für Asylsuchende

Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner