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Sonntag, 31. Juli 2016

Die Aufnahme von Minderjährigen, genannt „Die Hölle“

Wir blicken den Maßnahmen, die hier in Sizilien von institutioneller Seite ergriffen werden, mit starkem Kummer entgegen. Die Institutionen haben die Pflicht alle Menschen und vor allem Minderjährige zu schützen, unter Einhaltung der nationalen und internationalen Normen.


Es vergeht kein Tag an dem wir nicht dutzende Hilferufe von Jugendlichen erhalten, die im Stich gelassen und psychisch misshandelt wurden. Die Umstände, unter welchen diese Jugendlichen, Opfer von völligem Desinteresse, „aufgenommen“ werden, führen dazu, dass diese sich als minderwertig und Menschen zweiter Klasse betrachten, was sie zu leichten Opfern von Ausbeutern macht.

Diesem nicht zu tolerierenden italienischen Aufnahmesystem fehlt es weiterhin konstant an Tutor*innen, Sprach- und Kulturmediator*innen sowie einer psychologischen Unterstützung, welche das Leiden während des unendlich erscheinenden bürokratischen Entscheidungsprozesses zur Aufenthaltserlaubnis lindert. Zusätzlich fehlt es an organisierten Tätigkeiten im Rahmen eines Unterstützungsprojektes, welches den langen Aufenthalt in Einrichtungen ersten und zweiten Grades (betreute Wohngemeinschaften und SPRAR-Zentren*) erträglich machen soll. Zu oft haben die Bewohner*innen von der „Hölle“ ohne Ausweg gesprochen, als sie von ihrem Aufenthalt in den verschiedenen Einrichtungen berichtet haben.

Den Hinweisen einiger Jugendlichen folgend, haben wir uns in den vergangenen Tagen in die Gegend um Trapani begeben. In Salemi haben wir Einrichtungen besucht, die von der Kooperative Esopo verwaltet werden, welche sich seit kurzem um minderjährige Migrant*innen kümmert. Seit 2013 verwaltet sie die Einrichtung „Il Gabbiano“, später sind noch zwei weitere „Il Faro“ und „L’Albatros“ hinzugekommen, wobei vor allem in ersterer sehr kritische Zustände herrschen. Innerhalb der Einrichtung „Il Faro“ scheint der Verwaltung die Situation aus den Händen geglitten zu sein. Die Bewohner*innen haben mit Nachdruck protestiert und haben für vier Tage Besitz von der Anlage ergriffen. Schließlich wurde Borderline Sizilien gerufen (mit Erlaubnis der Verantwortlichen) und hat gemeinsam mit den Jugendlichen vermittelt, um auf diese Weise eine vermeintliche Normalität einkehren zu lassen.

Photo: A. Biondo

Die Klagen sind immer die selben, zu welchen auch die der besonders glücklosen Jugendlichen hinzukommen. So zum Beispiel M. der eine Rechtsüberschreitung durch das Gericht von Marsala beklagt, welches ein außergewöhnliches Verfahren eingeleitet habe, das den Jugendlichen praktisch schutzlos zurückgelassen hat. Den Preis zahlen am Ende immer die Migrant*innen: diese bekommen an der Schwelle zur Volljährigkeit keine*n Tutor*in zur Seite gestellt und riskieren so im Alter von 18 Jahren auf die Straße gesetzt zu werden, ohne dass irgendein Prozess zur sozialen Eingliederung angestoßen ist oder dass man eine neue Unterkunft für Erwachsene für sie organisiert. M. protestiert lebhaft und hat kein Vertrauen mehr in die Angestellten, die er als Feinde betrachtet.

Aber die Geschichten der glücklosen Jugendlichen sind zahlreich: J. und S. kommen aus dem berüchtigten Notzentrum von Palermo in Via Monfenera, welches allgemein (von den Bewohner*innen und den Angestellten, von denen es die meisten nur wenige Wochen aushalten) als Hölle bezeichnet wird. Es handelt sich um ein sechsstöckiges altes Hotel, in welchem die Angestellten ohne jegliche Erfahrung und ohne Kommunikationsmittel (Mediator*innen) die Aufsicht über jeweils ein ganzes Stockwerk führt. Hier herrscht das Gesetz des Stärkeren. Es gibt keine Kommoden um die persönlichen Gegenstände zu verstauen. So muss alles systematisch und akkurat aufbewahrt werden, denn andernfalls können die konstant aufeinanderfolgen Diebstähle „auch Dich treffen“. Die Einrichtung, wenngleich sie unter Beobachtung von Save the Children steht, ist Schauplatz von kontinuierlichen Misshandlungen zahlreicher Bewohner*innen. Und wenn man mehrere Monate in Via Monfenera überstanden hat und man dann in eine kleinere Einrichtung gebracht wird, wo sich herausstellt, dass man noch viele Monate auf die Zuweisung der Tutor*innen warten muss, bedeutet die Reaktion entweder Gewalt oder Depression und Verschlossenheit. In beiden Fällen wäre eine psychologische Unterstützung ratsam wenn nicht gar notwendig, aber zu oft fehlt auch diese.

Ganz zu Schweigen von den Angestellten, welche ebenfalls eine Unterstützung benötigen, im Angesicht der Tatsache, dass es oft schwer ist zu akzeptieren, dass sich die Jugendlichen trotz der Mühe und Anstrengungen gegen sie wenden. Viel Frustration und Mühe auf der einen Seite und viel Verzweiflung und Wut au der anderen: so fühlt man sich im Stich gelassen sowohl auf der einen Seite (die Angestellten halten sich für Opfer des Staates der sich der Verantwortungen entzieht) als auch auf der anderen (die Bewohner*innen sind Opfer eines Systems, das sie zu Sklaven und Unsichtbaren macht).

Photo: A. Biondo

Auch in Salemi, wie in viele anderen Einrichtungen, müssten die gerade volljährig Gewordenen in Einrichtungen für Erwachsene umgesiedelt werden. Jedoch reagieren weder die Präfektur noch die Zentrale (servizio centrale) auf die Anfrage des Betreibers, welcher sich in einer unliebsamen Lage befindet: er müsste den Volljährigen vor die Tür setzen, auch nach Jahren des Aufenthaltes in der Einrichtung, da der Staat keine Gelder mehr für die frisch-Volljährigen zur Verfügung stellt, auch wenn diese unter verlängerter Obhut stehen. Aber der Betreiber der Einrichtung von Salemi hat beschlossen auf eigene Kosten weiter gerade volljährig gewordenen aufzunehmen (aufgrund fehlender Alternativlösungen), um auf diese Weise zu verhindern, dass die Jugendlichen auf der Straße landen, wie es in den meisten anderen sizilianischen Einrichtungen der Fall ist. Aufgrund dessen kann den Jugendlichen kein Taschengeld mehr ausgezahlt werden, was diese nur schwer verstehen, da es kaum zu erklären ist, weshalb der Staat noch keine Antwort auf diesen stagnierenden Zustand gefunden hat.

Aber die Geschichte geht weiter mit 23 Jugendlichen, Bewohner*innen einer Einrichtung für Minderjährige in Palermo (in Via Marinuzzi und Via Juvara), die vor die Tür gesetzt wurden (um genau zu sein vor die Tür der Kommune) nachdem die Betreiberkooperative Porta Felice wegen finanzieller Schwierigkeiten aufgrund eines einjährigen Zahlungsrückstands der Tagegelder hatte schließen müssen. Die Kommune wiederum, die sich nicht anders zu helfen wusste, hat diese Jugendlichen in das Zentrum von Via Monfenera gebracht. Ein fataler Schritt: diesen 23 Jugendlichen hat das Schicksal die üble Überraschung bereit gehalten, „in die Hölle zurückkehren zu müssen“.

Horrorgeschichten aus denen der einzige Ausweg die Flucht ist. Eine Massenflucht, wie jene die vor einigen Tagen im Noterstaufnahmezentrum von Monreale stattgefunden hat. Hier hatte die Präfektur beschlossen, 70 Jugendliche vorrangig aus Eritrea, in einer heruntergekommenen Caritas-Einrichtung unterzubringen, angesichts der Tatsache, dass die Kommune von Palermo keine angemessenen Plätze zur Verfügung stellt. Die Jugendlichen wurden somit in die Obhut des Roten Kreuzes gegeben, welches trotz guten Willens offenbar nicht über die angemessenen, spezifischen Kompetenzen verfügt. Die 70 Minderjährigen sind alle in der Gegend um den Hauptbahnhof von Palermo und den angrenzenden Straßen verschwunden, in Richtung anderer Ziele, in der Hoffnung dass nur wenige von Menschenhändlern aufgespürt werden. Lediglich 10 Jugendliche wurden von den Ordnungskräften gefunden und wieder dem Roten Kreuz übergeben. In der selben Einrichtung sind seit mehr als einem Monat 8 junge Nigerianerinnen untergebracht, die sich, trotz ihrer Verletzlichkeit, in einem Zustand totaler Vernachlässigung durch die Institutionen befinden.

Zuletzt ist das Verschwinden von 8 minderjährigen Somalier*innen in einer weiteren Noteinrichtung der Caritas von Palermo gemeldet worden, wo sich schon seit langer Zeit ein achtjähriger Junge aufhält, der in solch einer Einrichtung nicht einen einzigen Tag bleiben sollte.

Ein System das jenen in die Hände spielt, die mit Menschen spekulieren und das Minderjährige im Stich lässt und sie auf diese Weise zu einem leichten Fang für Ausbeuter macht. Das ist die Situation von Palermo bis Trapani, von Agrigent bis Catania. Die Bahnhöfe und die Parks der sizilianischen Städte sind voll mit unbegleiteten Minderjährigen, welche wir kontinuierlich ignorieren und misshandeln. Das ist für sie die Hölle.

Alberto Biondo

Borderline Sicilia 


*SPRAR - Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Geflüchtete, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 - 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Geflüchtete dienen.

Übersetzung aus dem Italienischen von Giulia Coda