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Mittwoch, 22. Juni 2016

Westsizilien: Eine Höllenwoche


Foto von Alberto Biondo
Das ist die einzige Erklärung für die Tatsache, dass das Ministerium seit dem 25. Mai immer noch nicht die Genehmigung erteilt hat, die mehr als 200 Personen, die sich im Hotspot Milo aufhalten zu verlegen. Diese Migrant*innen, unter ihnen Frauen und ca. 20 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, sind alle identifiziert worden und werden dort unrechtmäßig festgehalten: Und die einzigen Nutznießer dieser Situation sind die Kassen der Badiagrande.  


Unsere Aufmerksamkeit richtete sich in der vergangenen Woche nicht nur auf die Anlandungen in Palermo, Porto Empedocle, Trapani und erneut Porto Empedocle, sondern auch und insbesondere auf die zahlreichen Hilferufe, die uns aus den westlichen Provinzen Siziliens erreichten. Dieses Gebiet kämpft gerade nicht nur mit sehr höhen Temperaturen und den daraus resultierenden Folgen, sondern mit Vernachlässigung, Verwahrlosung und Hoffnungslosigkeit, die den Aufenthalt der Migrant*innen in Italien in eine Hölle verwandeln.
Aber immer der Reihe nach: Zuerst war am 13. Juni die Anlandung in Palermo, bei der 332 Personen, mit dem spanischen Schiff Rio Segura, ankamen. Im Fokus des Polizeipräsidiums, die in Zusammenarbeit mit Frontexa agierten, stand die Jagd nach mutmaßlichen Schleusern: „Ihr müsst mir wenigstens drei bringen!“, sagte wortwörtlich ein diensthabender Beamte! Zum Schluss wurden 7 mutmaßliche Schleuser (6 Ägypter und 1 Äthiopier) und 3 Zeugen identifiziert. Ein weiterer Debütant in dieser Tragikomödie, ein junger Arzt der palermitanischen ASP*, dachte sich, er könne die Justizbehörde ersetzen und sagte: „Dieser Mann ist ein Schleuser, er ist gesund und kann abgeführt werden“. Ferner wollte er die Busfahrer, die die angekommenen Migrant*innen wegfahren sollten, prophylaktische Empfehlungen geben: „diese Menschen sind gefährlich: Sie stehen kurz davor, krank zu werden!“. Kaum zu glauben, dass diese Migrant*innen, die 7 Tage von Ägypten nach Palermo auf dem Meer verbracht hatten, lächelnd und zufrieden angekommen waren, dass sie als das Schiff festmachte, Beifall klatschten. Aber sobald sie die Aufstellung von Polizei, Grenzschutz und Frontex sahen, hörten sie plötzlich auf zu grüßen. Wahrscheinlich haben sie in diesem Moment realisiert, dass ihr Martyrium noch nicht zu Ende war!

Sehr viele junge und sehr junge Geflüchtete pendeln zwischen dem Polizeipräsidium, wo sie identifiziert werden und den Aufnahmezentren für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die aufgrund der Verspätungen bei der Auszahlung der Fördermittel seitens der Gemeinden ständig unter Geldmangel leiden. Genau diese Minderjährigen werden in den meisten Fällen auf die Straße gesetzt, sobald sie die Volljährigkeit erreicht haben, weil die Aufnahmezentren für Minderjährige kein Interesse haben, sie bei sich zu behalten. Es ist für die Zentren in der Tat besser, neue Minderjährige aufzunehmen, weil sie ein fortdauerndes Einkommen garantieren und deswegen werden die Volljährigen vor die Tür gesetzt, ohne dass für sie eine geeignete Unterkunft gefunden wurde. Somit werden die, die gerade volljährig geworden sind und die Opfer fehlender Planung und fehlerhafter Führung der Zentren sind, die sicherlich nicht im Interesse der jungen Migrant*innen handeln, leicht von den kriminellen Netzwerken eingefangen und enden ausgebeutet und missbraucht.
Ein neulich erlassenes an die Gebietskörperschaften adressiertes Ministerialrundschreiben hat dazu beigetragen, dass eine Praxis unseres Schutzsystems ausgehoben werden konnte, die den Minderjährigen automatisch eine Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen garantierte. Infolgedessen, sobald sie die Volljährigkeit erreichen, werden die jungen Geflüchteten vor die Tür gesetzt. Sie haben eine Ablehnung des Schutzes erhalten und können nur hoffen, dass irgendeine Organisation für ehrenamtliche Tätigkeit sich ihrer annimmt.

Foto von Alberto Biondo
Das italienische Aufnahmesystem an sich macht das Leben der Migrant*innen, ganz egal ob sie minder- oder volljährig sind, zur Hölle: Das Problem des Platzmangels in den CAS* bringt die Verwaltungsbehörden dazu, Maßnahmen zum Widerruf des Schutzes zweckgebunden und viel schneller als in der Vergangenheit einzuleiten.
Genauso ist es letzte Woche in Trapani geschehen: 11 Migrant*innen wurden aus dem CAS* “Villa Santandrea“ – von Badiagrande in Valderice verwaltet – abgeführt.
Diese Menschen, nachdem sie von einem Zentrum ins nächste geschoben wurden, kamen in Valderice an, wo sie über ein Jahr lang ohne irgendetwas tun zu dürfen verbracht haben, in einer Art Vorhölle, und immer mit der Angst leben mussten, keine Zigaretten oder Taschengeld mehr zu bekommen, sollten sie sich auch nur leise beschweren. Die 11 Migrant*innen, von den unannehmbaren Bedingungen, die sie erdulden mussten, zermürbt, wurden schlicht am Bahnhof von Trapani “abgeladen”: Dort sind sie vom Roten Kreuz aufgefangen worden und dank dessen Hilfe haben sie Palermo erreicht, wo sie wiederum ihre Hoffnungsreise „im Dunkeln“ fortgesetzt haben.
Folglich ein System, das „unsichtbare“ und “illegale” Einwanderung produziert, das genaue Ziele verfolgt, nämlich den Notstand hoch zu halten und dadurch dreckige Investitionen und eine berufsmäßige Handhabung der Aufnahmen zu begünstigen.

Das gleiche Problem ereignete sich auf Lampedusa: Bis gestern lebten im Hotspot – der nach dem Feuer Mitte Mai sogar teilweise nicht betretbar ist – 322 Migrant*innen, unter ihnen 77 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, einige sogar jünger als 13 Jahre, und viele Frauen, in absoluter Vermischung. Heute Morgen sind 145 Personen (viele Minderjährige, mit und ohne Begleitung und Frauen), die zwischen dem 27. und dem 29. Mai auf die Insel angekommen waren, verlegt worden. Der Zielort der Meisten ist unbekannt, nur einige wenige Männer werden sicherlich in dem Hub* in der Nähe von Agrigento (Villa Sikania) untergebracht. Die Migrant*innen werden auf Lampedusa länger als die gesetzlich vorgesehenen drei/vier Tage festgehalten. Heute noch sind Migrant*innen dort, die am 30. April ankamen und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die Mitte Mai ankamen. Jede private Einrichtung wäre inzwischen geschlossen und die Verantwortlichen festgenommen worden, der Staat hingegen führt seine kriminellen Machenschaften fort, zwingt die Migrant*innen in diesem Gefängnis unter freiem Himmel zu bleiben und ermöglicht der Misericordie „fette“ Umsätze (die Misericordie ist die Verwaltungseinrichtung, die das Zentrum führt. Sie ist dank einer Verlängerungsfrist aktiv, weil die letzte Ausschreibung aufgrund von administrativen und bürokratischen Schwierigkeiten blockiert wurde).

Die Lage in der Villa Sikania ist nicht besser. In den letzten zwei Monaten waren aufgrund der fehlenden Verlegungen kontinuierlich circa 300 Migrant*innen dort registriert. Und plötzlich, wie von Zauberhand, im Anschluss an die Anlandungen in Porto Empedocle und in Trapani, gelang es dem Ministerium, Hunderte von Plätzen in anderen italienischen Regionen für die im Hub* in Siculiana lebenden und hauptsächlich aus der Südsahara stammenden Migrant*innen, zu finden. Somit werden Plätze frei für die Neuankömmlinge und für die eritreischen Männer, die Morgen aus Lampedusa ankommen werden. Auch in dem einzigen regionalen Hub* verdient die Genossenschaft Cometa, die mit dem Verein Acuarinto aus Agrigento in Verbindung steht, dank politischer Entscheidungen, die nicht das Leben der Migrant*innen zu schützen und Ihre Sicherheit zu garantieren imstande sind.
Menschen, die in ihrer Heimat Opfer von Krieg und Hass waren, werden unterwegs Opfer von Egoismus und Gier; Menschen, die auf ihrer Reise den Tod hautnah erlebt haben (bei den letzten Anlandungen in Porto Empedocle sind auch drei Leichen angekommen), werden gezwungen, das „eigentliche“ Leben aufzugeben und versuchen, in den Nichtaufnahme-Zentren oder auf der Straße zu überleben, wie die 4 Ägypter, die in den letzten Tagen von dem Polizeipräsidium Agrigento abgewiesen wurden und am Bahnhof gestrandet sind.

Das ist die Hölle, die auch die 111 Migrant*innen durchleben werden, die am 17. Juni in Agrigento an Land gegangen sind wie auch die 440, die in den vergangenen Tagen in den Hotspot in Trapani verlegt wurden. Und man weiß nicht, wie lange diese Situation andauern wird und warum sie so ist, weil in diesem System nichts transparent und deutlich ist.

Alberto Biondo
Borderline Sicilia Onlus


*ASP : Azienda Sanitaria Provinciale – Provinzbehörde für Gesundheitsfragen
*CAS : Außerordentliches Aufnahmezentrum
*Hub : aus dem Englischen von "Sammelpunkt", so sollen die neuen Verteilzentren für Asylsuchende heißen


Aus dem Italienischen von A. Monteggia