"Wenn wir es nicht mit eigenen Augen sehen würden, hätten wir Mühe zu glauben, was in Italien zurzeit geschieht. Wissentlich wird "Illegalität" produziert. Ein Flüchtling erhält (nach einer Reise durch die Wüste nach Libyen und dann übers Meer nach Europa) kaum angekommen eine schriftliche Abschiebungsverfügung, von der er die Bedeutung nicht versteht, die ihn aber in der Tat zur Illegalität in unserem Land aburteilt. Dieses System vereitelt jegliche Möglichkeit zu einem Leben in Legalität. Italien führt die "Befehle" Europas aus. Es ist sich nicht bewusst, dass der einzig richtige Weg (zum Wohl der Geflüchteten und zu unserem eigenen) der ist, den Flüchtlingen reguläre Reisepapiere auszustellen, damit sie würdig in Europa reisen können. Sie müssen sich legal bewegen können! Stattdessen setzten wir sie auf die Strasse, wie es seit einigen Monaten hier geschieht." Das ist die Aussage von Anna, eine der vielen, die zum Glück nicht klein beigeben vor dem rassistischen Abdriften unseres politischen Systems. Sie und andere verfolgen seit Samstagnachmittag das Schicksal von 198 Flüchtlingen, die in den letzten zwei Tagen aus dem neuen Hotspot in Trapani abgeschoben wurden.
Ihre und Marcos Anwesenheit vor Ort (Marco ist Journalist und Aktivist in Trapani) und der Einsatz des Roten Kreuzes (die obdachlosen Flüchtlinge wurden von ihnen begleitet und verköstigt), haben es ermöglicht, dass die Behörden eine Kehrtwende vollzogen. Den Geflüchteten, die das wollten, wurde ermöglicht, einen Asylantrag zu stellen.
Die Erstellung der verzögerten Abschiebeverfügungen und die damit zusammenhängenden Wegweisungen aus den Hotspots begannen am Samstagabend gegen 18 Uhr. Es waren 40 Personen betroffen. Am Sonntag traf es den Rest der Gruppe, die am 29. Dezember in Palermo gelandet war. Es waren 200 Personen verschiedener Nationalitäten – aus Gambia, aus dem Senegal, aus Burkina Faso, Pakistan, Mali und Guinea Conakry.
Die am Samstag abgewiesenen Flüchtlinge in Trapani haben draußen in der Kälte auf einer Bank übernachtet, ohne eine Mahlzeit zu bekommen. Ist die Anzahl der Obdachlosen klein, wird niemand auf sie aufmerksam. Aber wenn 200 Menschen die Piazza Vittorio füllen, kann man die Tatsachen nicht mehr unter den Teppich kehren. Die Migranten wurden zum Bahnhof gebracht, aber es gab keinen Zug zu besteigen. Und selbst wenn, ohne Geld hätten sie sich keine Fahrkarte kaufen können. So erging es vielen Abgeschobenen an andern sizilianischen Bahnhöfen. Darum kehrten sie auf die Piazza Vittorio zurück, wo ihnen das Rote Kreuz eine Mahlzeit bereithielt.
Der Präfekt, in Anbetracht der Tatsache, dass sich dessen Präfektur an der Piazza Vittorio befindet, hat sich schnell entschieden, eine Notfallunterkunft zu öffnen. Er hat dafür eine Turnhalle in der Nähe des Hafens gefunden, eine absolut ungeeignete Einrichtung. Es fehlte an Betten und Matratzen und an genügend sanitären Einrichtungen. Aber wenigstens erlaubte diese Notlösung eine Nacht im Trockenen. Das Rote Kreuz hat eine Mahlzeit bereitgestellt. Das machten Nahrungsmittelspenden von Restaurants aus Trapani und Marsala möglich.
Alle Migrant*innen, mit denen wir gesprochen haben, erzählen das gleiche: sie hatten keine Gelegenheit einen Asylantrag zu stellen. Die Funktionäre verlangten, ohne eine Erklärung, dass sie die Abschiebeverfügungen unterschrieben, damit sie das Zentrum verlassen könnten, aber ohne klarzustellen, dass sie auch Italien verlassen müssten. Wenn ein Flüchtling vor dem Unterschreiben nach Erläuterungen fragte, wurde er mit "no problem" abgespeist. Also haben alle unterschrieben, auch ein junger Mann mit Albinismus und einige vermutlich Minderjährige. Die Quästur hat mitgeteilt, dass kein Minderjähriger abgeschoben worden sei. Aber Mitglieder der Gruppe haben bestätigt, dass einige Jugendliche eindeutig minderjährig waren.
Nun haben die weggewiesenen Migrant*innen begonnen, sich besorgt über ihr Schicksal zu informieren, aber niemand konnte ihnen Auskunft geben. Heute hat der Präfekt eine ausserordentliche Sitzung einberufen. Ausser den Behördenmitgliedern waren auch das Rote Kreuz und Parlamentarier des Movimento5Stelle anwesend. Es wurde eine Kehrwendung beschlossen wie einige Tage zuvor in Agrigent, wo die Migrant*innen vor der Quästur demonstriert hatten, um nach Villa Sikania gebracht zu werden, um dort das Verfahren für ihren internationalen Schutzstatus einleiten zu können. So wurden die Flüchtlinge am Abend mit Bussen von der Turnhalle wieder in den Hotspot zurückgefahren.
Das, was in Trapani geschehen ist, war die x-te Demonstration dafür, dass dieses absolut illegitime Vorgehen eine Unterwerfung an politischen Direktiven ist, deren Unhaltbarkeit von den gleichen Institutionen, die die Situation vor Ort meistern müssen, bestätigt wird. Das alles findet in dieser schizophrenen Praxis ihren Niederschlag, die nicht nur die Menschenrechte und das Asylrecht missachtet, sondern auch den öffentlichen Ressourcen beträchtliche Kosten verursacht. Die Menschen, die wir vor dem Ertrinken retten, sind die gleichen, die wir unmittelbar danach auf die Strasse setzten.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia Onlus
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne