- Europa möchte neue HOTSPOTS. Italien verletzt weiterhin Rechte der Migrant*innen
- Lampedusa, Agrigent und Syrakus. Zurückweisungen, Haft und Abschiebungen: zwischen den Protesten der Migrant*innen und der Gleichgültigkeit der Institutionen
- Neue Ankünfte: Immer mehr Verwirrung und weniger Respekt für die Würde der Menschen
- Unbegleitete Minderjährige: Wenn die Schwächsten die Ersten sind, die abgewiesen werden
EUROPA MÖCHTE NEUE HOTSPOTS.
ITALIEN VERLETZT WEITERHIN DIE RECHTE DER MIGRANT*INNEN
Europa
verlangt die beschleunigte Öffnung von neuen Hotspots in Sizilien und drängt
auf die Abnahme von Fingerabdrücken unter Anwendung von Zwang. Europa begründet
die Verzögerung bei den Unterbringungen
mit der geringen Anzahl der Migrant*innen, die als „Kandidaten“ zur Verfügung
stehen. In der Zwischenzeit werden die Zurückweisungen, Rückführaktionen sowie
Abschiebungen zulasten der Migrant*innen fortgesetzt, die willkürlich auf
Grundlage ihrer Herkunft ausgewählt werden, ohne dass sie Zugang zu
irgendwelchen Informationen erhalten. Borderline Sicilia prangert bei Radio
Popolare die Heuchelei eines Systems an, das weiterhin behauptet, die
Integration und den Schutz von Geflüchteten zu gewährleisten, während der Strom
mit Gewalt und mit „außerhalb des Rechtssystems“ liegenden Mitteln gestoppt wird.
Die
italienische Regierung verwandelt den getroffenen Abmachungen gehorchend
unvermittelt das CIE* Contrada Milo in
Trapani in einen Hotspot, ohne jegliche rechtliche Grundlage oder einem klaren
Rechtsstatus. Die ersten Migrant*innen werden weiterhin in ein sich noch in der
Sanierung befindliches Gebäude verlegt.
Ärzte ohne Grenzen beschließt, das
Projekt der medizinischen und psychologischen Versorgung im CPSA* von Pozzallo und
in einigen CAS* in der Gegend von Ragusa zu beenden. Einen Monat nach Vorlage
eines detaillierten Berichts über die kritische Lage im CPSA* stellt ihr
Personal nicht einmal ein Minimum an politischem Willen fest und sieht sich
unfähig, das eigene Mandat fortzusetzen. Es handelt sich hierbei um eine starke,
anprangernde Geste, mit der ÄoG
seinen Appell wiederholt, konkrete und dringende Antworten zu liefern. Andere Projekte
in Sizilien außerhalb der Aufnahme- und Verteilungszentren werden jedoch fortgesetzt.
LAMPEDUSA, AGRIGENT UND SYRAKUS. Zurückweisungen, Haft und Abschiebungen: zwischen
den Protesten der Migrant*INNEN und der Gleichgültigkeit der Institutionen
Die
neue Migrationspolitik konkretisiert sich durch repressive und polizeiliche Maßnahmen
gegenüber den Flüchtlingen, und wieder einmal ist Lampedusa ein Präzedenzfall,
dem andere Zentren folgen: Migrant*innen, die zu Fotoaufnahmen gezwungen
werden, die auf Grundlage der neuen Abkommen mit alles anderem als sicheren Ländern
zurückgeschickt werden; Migrant*innen, die bei ihrer Ankunft in Sizilien abgewiesen
und auf der Straße zurückgelassen werden; Abschiebungen von Asylsuchenden, die
auf die Anfechtung der behördlich angeordneten Abschiebungen warten, ein
Ausdruck der willkürlichen Entscheidung der jeweils zuständigen Beamten, die
die Macht haben, rechtswidrig und diskriminierend die Opfer ihrer Unterdrückung
auszusuchen. Das passiert Hunderten von Migrant*innen aus dem subsaharischen
Afrika und auch dem Horn von Afrika, oft schutzbedürftige Minderjährige und
Opfer von Gewalt. Zerstörte Leben, die mit ansehen müssen, dass ihr Wunsch nach
Freiheit von einem Land zerstört wird, das sich als ausgewiesen rassistisch
zeigt. In der Zwischenzeit berufen sich die zuständigen Akteure der
Institutionen auf neue Übereinkommen mit Europa und Drittländern und treten das
Asylrecht mit den Füßen.
Die
düstere Praxis der befristeten Abschiebungen ist auch in der Provinz von Syrakus wieder
aufgenommen worden, durch welche sich dutzende Migrant*innen auf der Straße mit
der Aufforderung wiederfinden, Italien vom Flughafen Rom Fiumicino aus in
sieben Tagen zu verlassen. Wer versucht, die wahren, oft tragischen Gründe
seiner Flucht zu erklären, stößt auf unsichtbare Mauern. Zu einem Zeitpunkt des voranschreitenden Abbaus
jeglichen Schutzes, verlangt Borderline Sicilia in einer gemeinsam mit anderen
sizilianischen Unterstützervereinen verfassten Stellungnahme mit Dringlichkeit die
Wiederherstellung der nötigen Bedingungen zur Garantie der Erhaltung der Grundrechte.
Aber
auch die Migrant*innen haben es geschafft, ihre Stimmen bemerkbar zu machen.
Mehr als zweihundert Geflüchtete, die in den Hungerstreik getreten sind, haben
in den Straßen von Lampedusa demonstriert und für ihre Bewegungsfreiheit und
das Recht auf die Wahl eines Landes zum Aufbau ihrer Zukunft protestiert.
Nachdem sie gesetzeswidrig wochenlang im überfüllten Hotspot festgehalten
wurden und psychologischem Druck sowie menschenunwürdigem Handeln ausgesetzt
waren, protestieren sie dagegen, von Europa nur als Nummer betrachtet zu werden;
ein Europa, das nur daran denkt, nach Lust und Laune über sie zu bestimmen, zu
selektieren und zu verteilen. Derjenige, der von diesem ausschließenden System als
illegal angesehen wird, sieht sich im Stich gelassen und in extremer
Unsicherheit ebenfalls der Bedrohung durch wiederholte xenophobe Handlungen,
die durch die neuen Praktiken der Regierung begünstigt werden, ausgesetzt, sodass
die Aufmerksamkeit von dem, was sie weiterhin nicht tun, abgelenkt wird.
NEUE
ANKÜNFTE: IMMER MEHR VERWIRRUNG UND WENIGER RESPEKT FÜR DIE WÜRDE DER MENSCHEN
Die Zahl der Ankünfte nimmt nicht ab – und sie sind begleitet
von einer sichtbaren Zunahme der Sicherheitsmaßnahmen. Wer überlebt, trifft an
Land sofort auf den Kontrollapparat und auf die Unterteilungsmaßnahmen (zur
Aufnahme oder Abschiebung, Anm. d. Red.) – Maßnahmen, von denen die
Zivilgesellschaft strikt ferngehalten wird. Die Einweisungen ins CARA* von Mineo nehmen inzwischen
wieder zu, nachdem in den letzten Monaten von dort nur Abgänge verzeichnet
wurden.
Über die Zustände im CARA* von Mineo sind die
Untersuchungen der parlamentarischen Antimafia- Kommission der Sizilianischen Regionalversammlung
immer noch im Gange. Die Existenz eines "roten Fadens", der die
Geschehnisse im CARA* und in den SPRAR* im Gebiet zwischen Catania und der
Inselmitte mit politischen Kreisen und Institutionen in Rom verbindet, hat sich
bestätigt. Die Ermittlungen machen die Rollen der Schlüsselpersonen und
politischen Vertreter*innen deutlich: gesteuerte Anstellungen, vorgetäuschte Integrationsangebote,
dazu die katastrophale Betriebsführung des CARA*, wo die Migrant*innen Nummern
bleiben und als solche auch verschwinden können.
Entgegen allen Anstands werden die Bürger*innen weiterhin
mit falschen Versprechungen davon abgelenkt, was wirklich geschieht. So haben
sich verschiedene Regierungsvertreter*innen bereit erklärt, die tausend
Migrant*innen, die am Jahresende in Palermo gelandet sind, aufzunehmen. Sie versicherten,
sich insbesondere für die mehreren hundert Jugendlichen darunter zu engagieren.
Sobald die Scheinwerfer erlöschen, will die italienische Regierung hingegen
Europa nicht enttäuschen: so kam es, dass die Jugendlichen aufgrund von neuen
und konfusen Anordnungen die Nacht im Hafen verbrachten, wieder in gänzlich
ungeeigneter Unterbringung. Auf der Mole spielte sich die barbarische Unterteilung
ab, in solche, die Hoffnung auf eine Zukunft in Italien haben können und die
anderen, die davon ausgeschlossen werden. Schlussendlich bleibt eine einzige
Feststellung: die Abwesenheit des Rechtsstaates.
UNBEGLEITETE
MINDERJÄHRIGE: WENN DIE SCHWÄCHSTEN DIE ERSTEN SIND, DIE ABGEWIESEN WERDEN
Unter den Migrant*innen, die auf dem Land- und Seeweg
nach Europa ihr Leben verlieren, sind auch im Monat Dezember viele unbegleitete
Minderjährige. Die Heuchelei derer, die wegen der jugendlichen Opfer Schmerz
und Wut kundtun, ist unerträglich in Anbetracht der Behandlung, die den
Überlebenden zu Teil wird. Tatsächlich werden viele unbegleitete Minderjährige
im CSPA* von Pozzallo wochenlang festgehalten, während hunderte Andere im
abgelegenen Zentren im sizilianischen Hinterland endlos auf eine Entscheidung
warten. Dort, wo wegen der Wirtschaftskrise und der sozialen Isolation die
Gefahr von wiederaufflammendem Rassismus groß ist und gute Zukunftsaussichten
unwahrscheinlich sind.
Der karitative Ansatz oder der auf das Geschäft
ausgerichtete, unternehmerische Ansatz der verschiedenen Akteure der Flüchtlingsaufnahme ist klar ersichtlich,
vor allem bei der Art und Weise der Umsetzung des Schutzstatus und in der
Ablaufplanung der Unterbringung der Jugendlichen.
In den Provinzen Palermo und Agrigent dauern die
Wartezeiten in den hochspezialisierten Zentren Monate und Monate. Bei der
Unterbringung der Geflüchteten in Gemeinden, die Unterkünfte bereitstellen,
wird kein vernünftiges und gerechtes Kriterium angewandt. Integrationskurse,
die unter großem Engagement in Gang gebracht wurden, werden unterbrochen. Leute
werden wie Postpakete behandelt, und das oft mit der Begründung, dass Plätze
freigemacht werden müssen. Dagegen haben Migrant*innen aus Trapani, nachdem ihr
Zentrum geschlossen wurde, protestiert. Ihr langer Marsch endete vor der
Präfektur, um diejenigen, die ihre Rechte schützen sollten, daran zu erinnern.
Neben vielen schlechten Beispielen gibt es darunter zum
Glück auch solche, die die Ankommenden einfach für das nehmen, was sie sind – Bürgerinnen
und Bürger. Die Betreiber des Zentrums für unbegleitete Minderjährige in
Mazzarino fördern deren Integration: sie organisieren die Interaktion mit
Gleichaltrigen über die Schule und sportliche Aktivitäten. Aber vor allem geht
es ihnen darum, ein Verhältnis des Vertrauens und der Teilhabe mit den Ortsansässigen
zu ermöglichen. Zu diesem Zweck planen sie innovative Projekte unter der
Leitung der jungen Bewohner*innen des Zentrums.
*CIE - Centro di Identificazione ed Espulsione:
Abschiebungshaft
*CSPA - Centro Soccorso e Prima Accoglienza: Zentrum
für Erstaufnahme nach der Ankunft, geplante Verweildauer 48-72 Stunden
* CAS - Centro di accoglienza straordinaria, außerordentliches
Aufnahmezentrum
*CARA - Centro Accoglienza per
Richiedenti Asilo: Erstaufnahmezentrum für Asylsuchende
*SPRAR -
Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für
Asylsuchende und Geflüchtete, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis
(keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 - 3500 Plätze in ganz Italien. Soll
zur Integration der Geflüchteten dienen.
Übersetzung aus dem Italienischen
von Susanne Privitera Tassé Tagne und Lan Gatti
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