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Freitag, 6. November 2015

Von der Ankunft, zum Hotspot, bis zur Ausweisung. Wie über das Schicksal der Migranten entschieden wird

Von Redattore Sociale – Willkürliche Unterscheidungen zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und Asylsuchenden, Blitzausweisungen, irreführende Methoden, um an die Fingerabdrücke zu gelangen, zu wenige Informationen an die Migranten bezüglich ihrer Rechte und ihres Schicksals.
Francesco Rita, Psychologe von Ärzte Ohne Grenze, der in dem Erstaufnahmezentrum arbeitet, erzählt uns was seit einem Monat in dem sogenannten hotspot in Pozzallo geschieht. „Was hier passiert, ist entsetzlich!“ fasst er ohne Umschweife zusammen während eines von Laboratorio 53 in Rom organisierten Kongress.

Insbesondere erklärt Francesco wie der normale Ablauf ist, von dem Moment, in dem ein Boot in Schwierigkeiten gerät und Alarm schlägt bis zu dem Moment, in dem die Flüchtlinge mit einem Militärschiff nach Apulien oder Sizilien gebracht werden. „ Am Hafen stehen alle herum, die Carabinieri, die Polizei, das Rote Kreuz, die Beamten von Frontex – erklärt er. Zuerst geht das USMAF (Nautisches Amt für die Gesundheit, Anm. d. Red.) an Bord, um den Gesundheitszustand der Schiffsbrüchigen zu untersuchen, die dann in einer Reihe, barfuß und verwirrt, vom Boot gehen. Die Polizei fotografiert jeden einzelnen und gibt jedem ein Armband. Dann werden die Flüchtlinge per Bus zu den 20 Meter entfernten Untersuchungszelten von Ärzten ohne Grenzen gebracht“. Hier werden die Flüchtlinge untersucht, um Fälle von TBC oder Krätze auszuschließen, und sie werden durchsucht, „ Alles wird ihnen weggenommen, Schubänder, Gürtel, Kleingeld“. Später im CSPA* „stellt ein Beamter von Frontex Fragen zwecks Identifizierung und seit neuem auch die Frage: Warum bist du hier? Wenn die Antwort lautet: Um zu arbeiten, wird derjenige binnen zwei Tagen ausgewiesen, obwohl er gar nicht weiß warum, obwohl er gar nicht weiß, was Asyl bedeutet, und obwohl er diese Fragen beantworten musste, nachdem er die letzen Tagen auf See, mit der Angst zu sterben, verbracht hatte.“

Die Zweifel an der Verordnung, zwischen erzwungenen Identifizierungen und Verwaltungsfestnahmen.
Der Start der Testphase der hotspots fiel im September zusammen mit dem Inkrafttreten des gesetzesvertretenden Dekrets 142, das die Europäischen Richtlinien 2013/33/UE und 203/32/UE bezüglich Aufnahmen- und Verfahrensweisen zur Anerkennung des Internationalen Schutzes ausführt. „Dieses Dekret ist die Antwort auf den europäischen Druck Richtung Italien, auf dass ein effizientes Identifizierungssystem eingeführt wird: Im letzten Jahr sind von den 170.000 Menschen, die ankamen, nur 70.000 identifiziert worden – erklärt Salvatore Fachile, ein Rechtsanwalt von Asgi*, der zusammen mit seiner Kollegin Lordedana Leo versucht, ein wenig Klarheit in die Richtlinien zu bringen -. Im Gegenzug verteilt Europa einen Teil der Flüchtlinge auf die verschiedene europäische Länder. Das Gesetz spricht eine bürokratische Sprache, die sogenannte road map hingegen benutzt die  Mediensprache mit Termini wie „hotspot“ und „hub“. Der von Italien verwendete hotspot ist eine Methode, um direkt nach der Ankunft, die Asylsuchenden von den Wirtschaftsflüchtlingen zu unterscheiden. Es wird die Mitarbeit der italienischen Polizei, der polizeilichen Mediatoren, von Easo, Frontex und Europol, unterstützt vom UNHCR, vorausgesetzt, um eine Person nach Möglichkeit zu identifizieren und herauszufinden, ob diese Person die Absicht hat, Asyl zu beantragen. In diesem Fall wird die Person weiter gereicht ins hub, in das ehemaligen CARA*, wenn diese Person aber nicht Asyl  beantragen will, wird sie ins CIE* gebracht oder sie bekommt direkt einen Ausweisungs- bez. Abschiebungsbescheid“.

Der zentrale Punkt, setzt Fachile seine Erklärung fort, besteht darin, dass das Gesetz nie über „geschlossene Räume“ spricht – unterstreicht er -. Das würde ein neues Vorgehen in der Festnahme einer Person voraussetzen, das Verfassungsrechte und richterliche Kontrolle mit sich brächte. Wohingegen in der road map von solchen Orten gesprochen wird. Und das können wir nicht auf den Artikel 14 d.lgs 286/98 (Testo Unico Immigrazione) beziehen. Der andere kritische Punkt, laut den Rechtsanwälten von Asgi*, ist, dass im Gesetz nie das Wort „gezwungene Identifizierung“ erwähnt wird: Die vorläufige Festnahme darf nur 72 Stunden dauern, wenn ein Richter informiert wurde. Die Regierung handelt dem jedoch zuwiderWir fragen uns jedoch, welche Methoden für diejenigen angewandt werden, die sich der Festnahme passiv widersetzten. Es gibt Gerüchte über Einzelfälle, aber keine systematische Erhebung. In der Europäischen Agenda zu Migration 2015 jedoch wird erwähnt, dass „Gewaltanwendung nur in Extremfällen“ zulässig sei, obwohl Flyer verbreitet wurden, ohne spezifische Ortsangaben, in denen physische Zwangsmethoden dargestellt werden. Wir sehen uns mit einer Praxis konfrontiert, die während der Epoche des Faschismus als „Vorläufige Festnahme ohne richterliche Kontrolle“ bekannt war. Langsam setzt sich diese Idee durch“. Fachile unterstreicht, dass „sowohl die hotspots als auch die hubs keine polizeiliche Einrichtungen sind, sondern vom dritten Sektor geführt werden und somit die freiwilligen Helfer in Sachen verwickelt werden, für die sie nicht zuständig sein sollten“.

Fingerabdrücke? Sie werden mit Betrug abgenommen. Ein zentrales Problem bleibt die Identifizierung: Viele Flüchtlinge wollen nicht, dass ihnen die Fingerabdrücke in Italien genommen werden, weil sie ihre Reise nach Nordeuropa fortsetzen wollen. „Die gängigste betrügerische Methode an die Fingerabdrücke zu kommen, besonders benutzt bei den Eritreern, die sich am meisten dagegen sperren, ist es zu sagen, dass diese nicht benutzt werden, oder dass es sich um eine vorläufige Festnahme ohne Folgen handle“ – ergänzt Francesco Rita, Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen -. Diejenige, die als Wirtschaftsflüchtlinge eingestuft wurden, werden binnen zwei Tagen mit einem Ausweisungsdekret hinauskomplimentiert – sie verstehen aber nicht, was mit ihnen passiert und so warten sie draußen vor dem Tor bis sie von jemanden erneut wegschickt werden und dann gehen sie langsam weg und verlaufen sich in den umliegenden Feldern und gesellen sich zu den vielen Schwarzarbeitern. 38 ausgewiesene Migranten sind stundenlang um Pozzallo herum im Regen umhergewandert, bis der Bürgermeister sich eingeschaltet hat und sie zurück kommen durften. Ein anderer Migrant hat sich so lange und heftig beklagt, bis ein Polizist das Dekret zerrissen hat und ihn wieder rein gelassen hat. Einige Polizisten haben uns vertraulich gesagt, dass sie Ausweisungsquoten zu respektieren haben, unabhängig davon, wer ankommt.“
Die Migranten werden unzureichend informiert: Sie haben keine Ahnung was auf sie zukommt. Und so landen sie in den CIE*. Ein weiterer kritischer Punkt betrifft die Informationsvermittlung. „Der UNHCR versucht, den Flüchtlingen ein paar Infos zu geben, während sie vor den Zelten warten, wo die medizinische Untersuchungen stattfinden werden, oder während sie die 20 Meter hinter sich legen, die den Hafen von den Zelten trennen, aber in Wahrheit erfolgt keine Informationsvermittlung“, erklärt Francesco. Und er ergänzt, dass falls ein Migrant seine Meinung ändert würde und doch einen Asylantrag stellen würde, ihm eine Kommission innerhalb des CIE* zustehen würde und er bis zu 12 Monate dort bleiben dürfte. Wenn er aber die Absage anficht, wird ein Richter den Vorgang nochmals prüfen und in der Sache urteilen, aber der Richter hat keine Befugnis, die Wirkung des Ausweisungsdekrets aufzuheben. Dieser Aspekt hat auch die Richter beunruhigt“, ergänzt Francesco. „Wir sind wirklich desorientiert und wir diskutieren, ob wir in den CSPA bleiben oder doch lieber austreten sollten – erklärt der Psychologe von Ärzte ohne Grenzen abschließend. Im Moment werden wir wohl drin bleiben, aber wir fragen uns, was wir diesen Methoden entgegensetzen können: Zusammen mit Vertretern anderen Organisationen mussten wir zusehen, wie Kinder und Schwangere ausgewiesen wurden und die einzige Möglichkeit, die uns bleibt, die Ausweisung zu vermeiden, ist es, zu erklären, dass diese Menschen im Moment auf medizinische Fürsorge angewiesen sind“.
Wir sind Zeuge einer Ausweitung der CIE*, die zusammen mit einem Paket zwischenstaatlicher Vereinbarungen einhergeht, zwischen Europa und Staaten, die der Rückführung ihrer Landsleuten zustimmen, auch mit Hilfe von mehr oder weniger klar ausgesprochener Androhung der Kürzung humanitärer Mittel“ fügt Fachile von Asgi hinzu.
(Elena Filicori)
© Copyright Redattore Sociale

*CARA: Aufnahmezentrum für Asylsuchende
*CIE: Zentrum zur Identifizierung und Ausweisung
*CSPA: Zentrum zur Ersten Hilfe und Erstaufnahme
*Asgi: Verein für juristische Studien zur Immigration

Aus dem Italienischen von Antonella Monteggia