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Mittwoch, 11. November 2015

Newsletter SICILIAMIGRANTI – Oktober 2015

  • Hunderte Migranten zurückgewiesen. Italien errichtet neue Barrieren für Schutzsuchende
  • Auf jedes ankommende Boot folgt Unorganisiertheit, während in Lampedusa mit dem ersten Hotspot experimentiert wird
  • Messina: Minderjährige Migranten schutzlos allein gelassen – die Anzeige von Borderline Sicilia
  • Die gezinkten Karten einer Aufnahme, die es in Wirklichkeit nicht gibt
  • Neuigkeiten und Veranstaltungen: Zwei Tage in Catania, um für gemeinsame Rechte einzutreten
  • Info und Kontakte

HUNDERTE MIGRANTEN ZURÜCKGEWIESEN. ITALIEN ERRICHTET NEUE BARRIEREN FÜR SCHUTZSUCHENDE
Der Oktober beginnt mit einer großen Zahl aufgeschobener Zurückweisungen für Hunderte von Migranten. Nachdem sie eine Nacht in der Sporthalle Palaspedini in Catania verbracht haben, werden 32 der 300 angelandeten Migranten im strömenden Regen mit der Aufforderung, Italien innerhalb von sieben Tagen zu verlassen, auf die Straße gesetzt, ohne Essen, Kleidung und vor allem ohne verständliche Informationen über ihr Schicksal. Der Verein Rete Antirazzista (Antirassistisches Netzwerk) und ein Teil der Zivilgesellschaft sind sofort aktiv geworden.
Die Situation in der Provinz Syrakus, wo etwa hundert Migranten zurückgewiesen wurden, ist ähnlich; sie wurden in einer Kirchengemeinde aufgenommen und werden vom Rechtsberaternetzwerk des Vereins Arci betreut. Die Herkunftsländer (Mali, Nigeria, Gambia, Senegal, Guinea, Elfenbeinküste), die zu den häufigsten gehören, zeigen, dass die Polizeipräsidien die Zurückweisungen auf unrechtmäßige Weise vornehmen, indem sie auch auf Grundlage des Herkunftslands nach freiem Ermessen und auf diskriminierende Weise auswählen, wer Recht auf Schutz hat und wer nicht. Das alles kurz vor Eröffnung der berühmten Hotspots. Eine schwere Verletzung der Bestimmungen zum internationalen Schutz, die sich auch auf die in Lampedusa und Porto Empedocle angekommenen Migranten auswirkt, von denen sich einige an die Beratungsstelle Sportello Immigrati in Caltanissetta gewendet haben.

Auch in Pozzallo, in der Gegend von Ragusa, sind etwa hundert Migranten zurückgewiesen worden. Unter ihnen sind einige, die internationalen Schutz suchen, sowie besonders Schutzbedürftige, darunter Minderjährige und Schwangere, wie auch ‚Ärzte ohne Grenzen’ in einer Bekanntmachung anprangern. Der Verein Borderline Sicilia gedenkt am Jahrestag der Tragödie vom 3. Oktober, indem er die schweren Menschenrechtsverletzungen, deren sich die Institutionen schuldig machen, verurteilt; dies tut er auch weiterhin in den nächsten Wochen und bittet die Verantwortlichen dieser Ereignisse um ein Treffen.

Doch die Abschiebungen brechen nicht ab. Nur durch den Einsatz von BürgerInnen und gemeinnützigen Vereinen in den kleinen und größeren Zentren gelingt eine prekäre Unterstützung für die Geflüchteten, die von Verfolgungen und Gewalt berichten, die sie auf ihrem Weg nach Europa erlebt haben, und die sich dann nun nur mit einem Ausweisungsbescheid wiederfinden, jeder Art von Ausbeutung und Schlepperei ausgeliefert. Vor diesen dramatischen Situationen sticht die Scheinheiligkeit eines Landes besonders stark hervor, das Mauern baut und mit großer Leichtigkeit und Unmenschlichkeit über die Zukunft von Menschen entscheidet, die dem Tod auf dem Meer mit Mühe entronnen sind.

Borderline Sicilia und den Vereinen vor Ort gelingt es, ein Treffen in Catania mit dem Leiter der Einwanderungsbehörde des Polizeipräsidiums, dem für Einwanderung zuständigen Vizepräfekten und dem bei der Präfektur für die Anlandungen Zuständigen zu organisieren. Das allerdings erst nach wochenlangen Beschwerden, Rechtsbeistand und materieller Hilfe für Hunderte zurückgewiesene Migranten. Die institutionellen Spitzen bestätigen die Umsetzung der neuen europäischen Bestimmungen für eine Unterteilung in „Wirtschaftsmigranten“ und potenzielle Asylbewerber aufgrund der Nationalität und beschreiben die neuen Verfahren der ersten Identitätsfeststellung, die in den verschiedenen Polizeipräsidien mit gleichartigen Fragebögen, die Multiple-Choice-Fragen zur Feststellung der Fluchtgründe enthalten, durchgeführt werden. Nach diesem ersten Treffen besteht weiterhin große Besorgnis wegen der europäischen Entscheidungen, die wieder mal keine Ausweitung des Rechts auf Asyl und die Wahrung der Menschenrechte zeigen, sondern darauf zielen, neue Barrieren vor immer größeren humanitären Krisen zu errichten.

AUF JEDES ANKOMMENDE BOOT FOLGT UNORGANISIERTHEIT, WÄHREND IN LAMPEDUSA MIT DEM ERSTEN HOTSPOT EXPERIMENTIERT WIRD
Die Ankünfte in diesem Monat sind mit der ständigen Sorge um das Schicksal der gerade angekommenen Migranten verfolgt worden. Für die Hunderte von Flüchtlingen, die in Catania und in allen anderen Häfen Siziliens angekommen sind, besteht erneut die Angst vor einer sofortigen aufgeschobenen Zurückweisung, und ihre Unterbringung wird aufmerksam verfolgt. Das allgemeine Improvisieren der „Aufnahmemaschinerie“, die von politischen und wirtschaftlichen Interessen bestimmt wird, zeigt sich wieder einmal nicht in der Lage, den Schutz der Menschen ins Zentrum ihrer Interessen zu stellen. So kann es passieren, dass etwa Hundert soeben angekommene Migranten, darunter Minderjährige und Schwangere, in Trapani eine ganze Nacht lang am Hafen bleiben müssen, ohne ausreichend Kleidung, Essen und Decken. Und es besteht das Risiko, dass sie genau das erwartet, was viele vor ihnen schon erlebt haben, die in CAS** gezwungen wurden und bis zu zwei Jahre auf die Anhörung bei der Asylkommission warten mussten; während dieser Zeit leben sie oft in einem Alltag, der durch die Unzufriedenheit von Mitarbeitern und Betreibern vergiftet ist, die ihren Zorn an den Migranten auslassen, oder sie werden für die härtesten Saisonarbeiten ausgebeutet. Sie werden ihrem Frust überlassen, in einem Land, das in den Migranten immer mehr einen potenziellen Feind sieht.   

Im Oktober zeigt sich Lampedusa wieder als „Experimentierzentrum“ für die Einführung des ersten Hotspots. Er wurde ohne klare Regelungen auf europäischer oder nationaler Ebene eröffnet, und das System der „Hotspots“ erweist sich sofort als verheerend, wieder einmal ein Ort, in dem willkürliche Inhaftnahmen und illegale Praktiken herrschen. Durch die Einteilung nach freiem Ermessen in potenzielle Asylbewerber und andere können diejenigen, die nicht aufgenommen oder in Europa untergebracht werden können, durch illegitime Zurückweisungen und Abschiebungen aus dem System entfernt werden. Die Proteste einiger Marokkaner und Eritreer im Zentrum bestätigen das Chaos und die fehlenden Informationen, die in diesem System herrschen; sogar registrierte Migranten, die für andere Ländern bestimmt waren, haben bei erster Gelegenheit die Flucht ergriffen.

MESSINA: MINDERJÄHRIGE MIGRANTEN SCHUTZLOS ALLEIN GELASSEN – DIE ANZEIGE VON BORDERLINE SICILIA
58 Minderjährige, einquartiert in der Sporthalle Gravitelli in Messina, wurden dort zwei Wochen nach ihrer Anlandung von Borderline Sicilia aufgefunden; in dieser Zeit blieb die Sporthalle weiterhin für andere Aktivitäten geöffnet! Borderline Sicilia (BS) hat die Vernachlässigung der Minderjährigen, die ohne rechtlichen, psychologischen und medizinischen Beistand allein gelassen wurden, angezeigt; BS hat verlangt, dass sofort Klarheit geschaffen würde über diese Beauftragung, die von der Kommune durchgeführt wurde und über die Rolle, die sie selbst dabei gespielt hat und die Rolle des Betreibers; sie sind die Verantwortlichen für die Verletzung aller Pflichten, die vom Gesetz in Sachen Aufnahme, beim Schutz Minderjährigerer und Asylbeantragender vorgesehen sind. Sorge bereitet sowohl die Limitierung der Aktionen der humanitären Organisationen, akkreditiert und verantwortlich für Informationen und rechtlichen Schutz am Sitz der Anlandung wie auch ihrer Fähigkeit, die Verlegungen der Jugendlichen und die Einrichtungen, in die sie eingegliedert werden, fortlaufend zu überwachen.

Die Antwort des Referenten der städtischen sozialen Dienste ließ nicht lange auf sich warten; er rechtfertigte die Unterbringung der Jugendlichen in der Sporthalle mit dem Mangel an anderen verfügbaren Plätzen und lobte die Professionalität und die Arbeit aller Mitarbeiter, die bei der Hilfe und Informationsweitergabe am Ort der Anlandung involviert waren. Stand der Dinge ist, dass die Minderjährigen in Folge der öffentlichen Anzeige von Borderline Sicilia in Rekordtempo in zwei regionale Einrichtungen verlegt wurden.

Die aktuelle Situation in Messina ist beispielhaft für „schlechte Aufnahme“; hunderte von Migranten, eingepfercht in der Zeltstadt des PalaNebiolo, zu jeder Jahreszeit und bei fast jedem Wetter und in der Ex-Kaserne „Gasparro“ in Bisconte. Die Migranten sind unter Bedingungen untergebracht, die am Rande des Zumutbaren liegen. Darüber hinaus aber kann man nicht genug auf die Praktiken der direkten Beauftragung oder die Beauftragung mit dem sog. Treuhänderischen Akkord hinweisen; mit diesen Methoden führt die örtliche Präfektur die Vergabe der Dienste für die Migranten an die immer gleichen Firmen durch. Die Prozedur der Beauftragung, motiviert durch Dringlichkeit und ohne effektive Kontrolle der Verwaltung, scheint wie beim Transport der Migranten auch andere Dienstleistungen zu betreffen. Eine lange Kette von Interessen, die Institutionen und Firmen vereint, die oft nur zur Geschäftemacherei fähig zu sein scheinen und die die Ohnmacht derjenigen, die fliehen, ausnutzen.

DIE GEZINKTEN KARTEN EINER AUFNAHME, DIE ES IN WIRKLICHKEIT NICHT GIBT
Während das Wort Aufnahme weiterhin die offiziellen Reden von Unternehmen und Institutionen dominiert, campieren in Caltanissetta noch immer zig Migranten in der Nähe des Zentrums Pian del Lago in Baracken. Wegen einer unmenschlichen und himmelschreienden Praxis des Immigrationsbüros, das beim Lauf durch die sog. Aufnahme von der Identifikation bis zur Unterbringung Wochen vergehen lässt, sind die Migranten gezwungen, in Situationen am Rand des Abgrunds zu leben, ohne irgendein Dokument und folglich der Ausweisung ausgesetzt. Kein Wasser, keine Elektrizität, keinen medizinischen Beistand, aber das Risiko in einem CIE* zu enden.

Neben den Diensten zu Schleuderpreisen, lässt der Mangel an institutioneller Kontrolle den Betreibern der Zentren einen weiten Spielraum zu Spekulationen. Nachdem ihnen im Mai fünf Ermittlungsbescheide wegen Fälschung und Betrug zugestellt worden waren, ist in der Gegend von Agrigent die Führungsriege von Omia Academy jetzt angeklagt worden, eine kriminelle Vereinigung gegründet zu haben und Betrug zum Schaden des Staates und Fälschung öffentlicher Urkunden begangen zu haben.

Auch wenn es Leute gibt, die für den Empfang von Einwanderern alles täten, so gibt es leider auch solche, die sich nur auf dem Papier darum kümmern. Diese Situation finden wir vor in dem Spezialzentrum für Minderjährige, das am vergangenen 25.Mai in Mazara del Vallo eröffnet wurde. Das Personal erweist sich den 60 beherbergten Jugendlichen gegenüber als mangelhaft, die vorgesehenen professionellen Mitarbeiter fehlen, das Verfahren wird verlangsamt und weil Übersetzer fehlen, kann nicht miteinander kommuniziert werden.

Auch in dem anderen Spezialzentrum, das wir in Calatgirone besucht haben, ist der individuelle Schutz ein großes Problem. Die Zahl der anwesenden Personen wird zwar eingeschränkt; es besteht aber gleichwohl das Problem, die Situation eines jeden Migranten mit der nötigen Kompetenz zu bearbeiten. Das beginnt mit den Problemen beim Zugang zum Verfahren und reicht bis zur Schwierigkeit, einen Vormund aufzutreiben, damit auch den verletzlichsten Fällen die nötige Aufmerksamkeit zukommt.

Es ist aber nicht unmöglich, eine würdige Aufnahme sicherzustellen, auch nicht in der Stadt, in der es alles andere als solidarisch zugeht. An der Piazza Armerina finden wir ein CAS** mit einem guten Dienst; sprachliche Kommunikation wird ermöglicht und bei Konflikte wird vermittelt; hinzukommt eine große Wachsamkeit bei den Integrations-Aktivitäten, die den anwesenden Migranten vorgeschlagen werden. Eine Situation, rundweg würdig, selbst für den, der auf die Anhörung durch die Kommission mehr als ein Jahr warten muss.

NEUIGKEITEN UND VERANSTALTUNGEN:
ZWEI TAGE IN CATANIA, UM FÜR GEMEINSAME RECHTE EINZUTRETEN
Am 3. und 4. Oktober hat man in Catania 2 antirassistische Tage abgehalten, um an das Massensterben vom 3.Oktober 2013 zu erinnern, bei dem 366 Personen ihr Leben verloren haben. Diese Veranstaltung wurde gefördert vom Antirassismus-Netz Catania, Borderline Sicilia, Catania Città Felice und Reti Città Vicini. Auf dem Programm standen eine Diskussion, die Vorführung des Dokumentarfilms: „Lampedusa am 3.Oktober 2013: „Der Tag der Tragödie“ und eine kleine Versammlung vor dem CARA*** von Mineo: Momente des Nachdenkens über die Verbindung zwischen Militarisierung und der Politik der Verwaltung der Immigration und der Begegnung mit Migranten, um eine gemeinsame Basis zu schaffen zur Einforderung der Rechte, Netze der Solidarität und des Bewusstseins zu knüpfen, den zu unterstützen und von dem zu lernen, der diese Verletzungen jeden Tag am eigenen Leib erfährt.

INFORMATIONEN UND KONTAKTE
Für Informationen über die Modalitäten der Spende deiner 5x1000 (5 Promille von der Einkommenssteuer als Kulturspende) zugunsten von Borderline Sizilien, sozial engagierte Non-Profit-Organisation (Steuer-Nr. 90021510889) und um in Sachen Migration auf dem Laufenden zu bleiben, besuch unseren Blog  www.siciliamigranti.blogspot.com oder folge uns auf Facebook www.facebook.com/borderlinesicilia.onlus
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*CIE – Zentrum zur Identifikation und Ausweisung
**CAS – Außerordentliches Aufnahmezentrum Zentrum (z.T. für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge)
***CARA – Zentrum zur Aufnahme Asylsuchender

Aus dem Italienischen übersetzt von Renate Albrecht und Rainer Grueber