- Hunderte Migranten zurückgewiesen. Italien errichtet neue Barrieren für Schutzsuchende
- Auf jedes ankommende Boot folgt Unorganisiertheit, während in Lampedusa mit dem ersten Hotspot experimentiert wird
- Messina: Minderjährige Migranten schutzlos allein gelassen – die Anzeige von Borderline Sicilia
- Die gezinkten Karten einer Aufnahme, die es in Wirklichkeit nicht gibt
- Neuigkeiten und Veranstaltungen: Zwei Tage in Catania, um für gemeinsame Rechte einzutreten
- Info und Kontakte
Der Oktober beginnt mit einer großen Zahl aufgeschobener
Zurückweisungen für Hunderte von Migranten. Nachdem sie eine Nacht in der
Sporthalle Palaspedini in Catania verbracht haben, werden 32 der 300
angelandeten Migranten im strömenden Regen mit der Aufforderung, Italien
innerhalb von sieben Tagen zu verlassen, auf die Straße gesetzt, ohne Essen,
Kleidung und vor allem ohne verständliche Informationen über ihr Schicksal. Der
Verein Rete Antirazzista (Antirassistisches Netzwerk) und ein Teil der
Zivilgesellschaft sind sofort aktiv geworden.
Die Situation in der Provinz Syrakus, wo etwa hundert Migranten
zurückgewiesen wurden, ist ähnlich; sie wurden in einer Kirchengemeinde
aufgenommen und werden vom Rechtsberaternetzwerk des Vereins Arci betreut. Die
Herkunftsländer (Mali, Nigeria, Gambia, Senegal, Guinea, Elfenbeinküste), die
zu den häufigsten gehören, zeigen, dass die Polizeipräsidien die Zurückweisungen
auf unrechtmäßige Weise vornehmen, indem sie auch auf Grundlage des
Herkunftslands nach freiem Ermessen und auf diskriminierende Weise auswählen,
wer Recht auf Schutz hat und wer nicht. Das alles kurz vor Eröffnung der
berühmten Hotspots. Eine schwere Verletzung der Bestimmungen zum
internationalen Schutz, die sich auch auf die in Lampedusa und Porto Empedocle
angekommenen Migranten auswirkt, von denen sich einige an die Beratungsstelle
Sportello Immigrati in Caltanissetta gewendet haben.
Auch in Pozzallo, in der Gegend von Ragusa, sind etwa hundert
Migranten zurückgewiesen worden. Unter ihnen sind einige, die internationalen
Schutz suchen, sowie besonders Schutzbedürftige, darunter Minderjährige und
Schwangere, wie auch ‚Ärzte ohne Grenzen’ in einer Bekanntmachung anprangern.
Der Verein Borderline Sicilia gedenkt am Jahrestag der Tragödie vom 3. Oktober,
indem er die schweren Menschenrechtsverletzungen, deren sich die Institutionen
schuldig machen, verurteilt; dies tut er auch weiterhin in den nächsten Wochen
und bittet die Verantwortlichen dieser Ereignisse um ein Treffen.
Doch die Abschiebungen brechen nicht ab. Nur durch den Einsatz
von BürgerInnen und gemeinnützigen Vereinen in den kleinen und größeren Zentren
gelingt eine prekäre Unterstützung für die Geflüchteten, die von Verfolgungen
und Gewalt berichten, die sie auf ihrem Weg nach Europa erlebt haben, und die
sich dann nun nur mit einem Ausweisungsbescheid wiederfinden, jeder Art von
Ausbeutung und Schlepperei ausgeliefert. Vor diesen dramatischen Situationen
sticht die Scheinheiligkeit eines Landes besonders stark hervor, das Mauern
baut und mit großer Leichtigkeit und Unmenschlichkeit über die Zukunft von
Menschen entscheidet, die dem Tod auf dem Meer mit Mühe entronnen sind.
Borderline Sicilia und den Vereinen vor Ort gelingt es, ein
Treffen in Catania mit dem Leiter der Einwanderungsbehörde des
Polizeipräsidiums, dem für Einwanderung zuständigen Vizepräfekten und dem bei
der Präfektur für die Anlandungen Zuständigen zu organisieren. Das allerdings
erst nach wochenlangen Beschwerden, Rechtsbeistand und materieller Hilfe für Hunderte
zurückgewiesene Migranten. Die institutionellen Spitzen bestätigen die
Umsetzung der neuen europäischen Bestimmungen für eine Unterteilung in
„Wirtschaftsmigranten“ und potenzielle Asylbewerber aufgrund der Nationalität
und beschreiben die neuen Verfahren der ersten Identitätsfeststellung, die in
den verschiedenen Polizeipräsidien mit gleichartigen Fragebögen, die
Multiple-Choice-Fragen zur Feststellung der Fluchtgründe enthalten,
durchgeführt werden. Nach diesem ersten Treffen besteht weiterhin große Besorgnis
wegen der europäischen Entscheidungen, die wieder mal keine Ausweitung des
Rechts auf Asyl und die Wahrung der Menschenrechte zeigen, sondern darauf
zielen, neue Barrieren vor immer größeren humanitären Krisen zu errichten.
AUF JEDES ANKOMMENDE BOOT FOLGT UNORGANISIERTHEIT, WÄHREND IN LAMPEDUSA MIT DEM ERSTEN HOTSPOT EXPERIMENTIERT WIRD
Die Ankünfte in diesem Monat sind mit der ständigen Sorge um das
Schicksal der gerade angekommenen Migranten verfolgt worden. Für die Hunderte
von Flüchtlingen, die in Catania und in allen anderen Häfen Siziliens
angekommen sind, besteht erneut die Angst vor einer sofortigen aufgeschobenen
Zurückweisung, und ihre Unterbringung wird aufmerksam verfolgt. Das allgemeine
Improvisieren der „Aufnahmemaschinerie“, die von politischen und
wirtschaftlichen Interessen bestimmt wird, zeigt sich wieder einmal nicht in
der Lage, den Schutz der Menschen ins Zentrum ihrer Interessen zu stellen. So
kann es passieren, dass etwa Hundert soeben angekommene Migranten, darunter
Minderjährige und Schwangere, in Trapani eine ganze Nacht lang am Hafen bleiben
müssen, ohne ausreichend Kleidung, Essen und Decken. Und es besteht das Risiko,
dass sie genau das erwartet, was viele vor ihnen schon erlebt haben, die in CAS**
gezwungen wurden und bis zu zwei Jahre auf die Anhörung bei der Asylkommission
warten mussten; während dieser Zeit leben sie oft in einem Alltag, der durch
die Unzufriedenheit von Mitarbeitern und Betreibern vergiftet ist, die ihren
Zorn an den Migranten auslassen, oder sie werden für die härtesten
Saisonarbeiten ausgebeutet. Sie werden ihrem Frust überlassen, in einem Land,
das in den Migranten immer mehr einen potenziellen Feind
sieht.
Im Oktober zeigt sich Lampedusa wieder als „Experimentierzentrum“
für die Einführung des ersten Hotspots. Er wurde ohne klare Regelungen auf
europäischer oder nationaler Ebene eröffnet, und das System der „Hotspots“
erweist sich sofort als verheerend, wieder einmal ein Ort, in dem willkürliche
Inhaftnahmen und illegale Praktiken herrschen. Durch die Einteilung nach freiem
Ermessen in potenzielle Asylbewerber und andere können diejenigen, die nicht
aufgenommen oder in Europa untergebracht werden können, durch illegitime
Zurückweisungen und Abschiebungen aus dem System entfernt werden. Die Proteste
einiger Marokkaner und Eritreer im Zentrum bestätigen das Chaos und die
fehlenden Informationen, die in diesem System herrschen; sogar registrierte
Migranten, die für andere Ländern bestimmt waren, haben bei erster Gelegenheit
die Flucht ergriffen.
MESSINA: MINDERJÄHRIGE MIGRANTEN
SCHUTZLOS ALLEIN GELASSEN – DIE ANZEIGE VON BORDERLINE SICILIA
58 Minderjährige,
einquartiert in der Sporthalle Gravitelli in Messina, wurden dort zwei Wochen
nach ihrer Anlandung von Borderline Sicilia aufgefunden; in dieser Zeit blieb die
Sporthalle weiterhin für andere Aktivitäten geöffnet! Borderline Sicilia (BS)
hat die Vernachlässigung der Minderjährigen, die ohne rechtlichen,
psychologischen und medizinischen Beistand allein gelassen wurden, angezeigt;
BS hat verlangt, dass sofort Klarheit geschaffen würde über diese Beauftragung,
die von der Kommune durchgeführt wurde und über die Rolle, die sie selbst dabei
gespielt hat und die Rolle des Betreibers; sie sind die Verantwortlichen für
die Verletzung aller Pflichten, die vom Gesetz in Sachen Aufnahme, beim Schutz
Minderjährigerer und Asylbeantragender vorgesehen sind. Sorge bereitet sowohl die
Limitierung der Aktionen der humanitären Organisationen, akkreditiert und
verantwortlich für Informationen und rechtlichen Schutz am Sitz der Anlandung wie
auch ihrer Fähigkeit, die Verlegungen der Jugendlichen und die Einrichtungen,
in die sie eingegliedert werden, fortlaufend zu überwachen.
Die Antwort des Referenten
der städtischen sozialen Dienste ließ nicht lange auf sich warten; er
rechtfertigte die Unterbringung der Jugendlichen in der Sporthalle mit dem
Mangel an anderen verfügbaren Plätzen und lobte die Professionalität und die
Arbeit aller Mitarbeiter, die bei der Hilfe und Informationsweitergabe am Ort der
Anlandung involviert waren. Stand der Dinge ist, dass die Minderjährigen in
Folge der öffentlichen Anzeige von Borderline Sicilia in Rekordtempo in zwei
regionale Einrichtungen verlegt wurden.
Die aktuelle Situation in
Messina ist beispielhaft für „schlechte Aufnahme“; hunderte von Migranten,
eingepfercht in der Zeltstadt des PalaNebiolo, zu jeder Jahreszeit und bei fast
jedem Wetter und in der Ex-Kaserne „Gasparro“ in Bisconte. Die Migranten sind
unter Bedingungen untergebracht, die am Rande des Zumutbaren liegen. Darüber
hinaus aber kann man nicht genug auf die Praktiken der direkten Beauftragung
oder die Beauftragung mit dem sog. Treuhänderischen Akkord hinweisen; mit diesen
Methoden führt die örtliche Präfektur die Vergabe der Dienste für die Migranten
an die immer gleichen Firmen durch. Die Prozedur der Beauftragung, motiviert
durch Dringlichkeit und ohne effektive Kontrolle der Verwaltung, scheint wie
beim Transport der Migranten auch andere Dienstleistungen zu betreffen. Eine
lange Kette von Interessen, die Institutionen und Firmen vereint, die oft nur
zur Geschäftemacherei fähig zu sein scheinen und die die Ohnmacht derjenigen,
die fliehen, ausnutzen.
DIE GEZINKTEN KARTEN EINER AUFNAHME,
DIE ES IN WIRKLICHKEIT NICHT GIBT
Während das Wort Aufnahme
weiterhin die offiziellen Reden von Unternehmen und Institutionen dominiert, campieren
in Caltanissetta noch immer zig Migranten in der Nähe des Zentrums Pian del
Lago in Baracken. Wegen einer unmenschlichen und himmelschreienden Praxis des
Immigrationsbüros, das beim Lauf durch die sog. Aufnahme von der Identifikation
bis zur Unterbringung Wochen vergehen lässt, sind die Migranten gezwungen, in
Situationen am Rand des Abgrunds zu leben, ohne irgendein Dokument und folglich
der Ausweisung ausgesetzt. Kein Wasser, keine Elektrizität, keinen
medizinischen Beistand, aber das Risiko in einem CIE* zu enden.
Neben den Diensten zu
Schleuderpreisen, lässt der Mangel an institutioneller Kontrolle den Betreibern
der Zentren einen weiten Spielraum zu Spekulationen. Nachdem ihnen im Mai fünf
Ermittlungsbescheide wegen Fälschung und Betrug zugestellt worden waren, ist in
der Gegend von Agrigent die Führungsriege von Omia Academy jetzt angeklagt
worden, eine kriminelle Vereinigung gegründet zu haben und Betrug zum Schaden
des Staates und Fälschung öffentlicher Urkunden begangen zu haben.
Auch wenn es Leute gibt, die
für den Empfang von Einwanderern alles täten, so gibt es leider auch solche,
die sich nur auf dem Papier darum kümmern.
Diese Situation finden wir vor in dem Spezialzentrum für Minderjährige, das
am vergangenen 25.Mai in Mazara del Vallo eröffnet wurde. Das Personal erweist
sich den 60 beherbergten Jugendlichen gegenüber als mangelhaft, die
vorgesehenen professionellen Mitarbeiter fehlen, das Verfahren wird verlangsamt
und weil Übersetzer fehlen, kann nicht miteinander kommuniziert werden.
Auch in dem anderen
Spezialzentrum, das wir in Calatgirone besucht haben, ist der individuelle
Schutz ein großes Problem. Die Zahl der anwesenden Personen wird zwar eingeschränkt;
es besteht aber gleichwohl das Problem, die Situation eines jeden Migranten mit
der nötigen Kompetenz zu bearbeiten. Das beginnt mit den Problemen beim Zugang
zum Verfahren und reicht bis zur Schwierigkeit, einen Vormund aufzutreiben, damit
auch den verletzlichsten Fällen die nötige Aufmerksamkeit zukommt.
Es ist aber nicht unmöglich,
eine würdige Aufnahme sicherzustellen, auch nicht in der Stadt, in der es alles
andere als solidarisch zugeht. An der Piazza Armerina finden wir ein CAS** mit
einem guten Dienst; sprachliche Kommunikation wird ermöglicht und bei Konflikte
wird vermittelt; hinzukommt eine große Wachsamkeit bei den Integrations-Aktivitäten,
die den anwesenden Migranten vorgeschlagen werden. Eine Situation, rundweg
würdig, selbst für den, der auf die Anhörung durch die Kommission mehr als ein
Jahr warten muss.
NEUIGKEITEN UND
VERANSTALTUNGEN:
ZWEI TAGE IN CATANIA, UM FÜR
GEMEINSAME RECHTE EINZUTRETEN
Am 3. und 4. Oktober hat man
in Catania 2 antirassistische Tage abgehalten, um an das Massensterben vom
3.Oktober 2013 zu erinnern, bei dem 366 Personen ihr Leben verloren haben. Diese
Veranstaltung wurde gefördert vom Antirassismus-Netz Catania, Borderline
Sicilia, Catania Città Felice und Reti Città Vicini. Auf dem Programm standen eine
Diskussion, die Vorführung des Dokumentarfilms: „Lampedusa am 3.Oktober 2013:
„Der Tag der Tragödie“ und eine kleine Versammlung vor dem CARA*** von Mineo:
Momente des Nachdenkens über die Verbindung zwischen Militarisierung und der
Politik der Verwaltung der Immigration und der Begegnung mit Migranten, um eine
gemeinsame Basis zu schaffen zur Einforderung der Rechte, Netze der Solidarität
und des Bewusstseins zu knüpfen, den zu unterstützen und von dem zu lernen, der
diese Verletzungen jeden Tag am eigenen Leib erfährt.
INFORMATIONEN UND KONTAKTE
Für Informationen über die Modalitäten der Spende
deiner 5x1000 (5 Promille von der Einkommenssteuer als Kulturspende) zugunsten
von Borderline Sizilien, sozial engagierte Non-Profit-Organisation (Steuer-Nr. 90021510889) und um in Sachen Migration auf
dem Laufenden zu bleiben, besuch unseren Blog
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*CIE – Zentrum zur
Identifikation und Ausweisung
**CAS – Außerordentliches
Aufnahmezentrum Zentrum (z.T. für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge)
***CARA – Zentrum zur
Aufnahme Asylsuchender
Aus dem Italienischen übersetzt von Renate Albrecht und Rainer Grueber
Aus dem Italienischen übersetzt von Renate Albrecht und Rainer Grueber