siciliamigranti.blogspot.com ist ein italienischsprachiges Monitoringprojekt zur Situation der Flüchtlinge in Sizilien, dort finden Sie die Original-Berichte, hier finden Sie die deutschen Übersetzungen. Klicken Sie auf die auf die Namen der Schlagworte (keywords), wenn Sie bestimmte Themen suchen.

Samstag, 17. Oktober 2015

Geschichten von Migranten: Von Lampedusa zu den Reisepapieren

Meridionews.it - Zunächst die lange Reise, die in der Elfenbeinküste, in Guinea und Mali beginnt. Anschließend mehrere Wochen Aufenthalt in Libyen und der Versuch das viele Geld circa 450€ ­ für die Reise über das Mittelmeer irgendwie zusammenzutragen. Schließlich die Ankunft in Lampedusa und der Beginn einer neuen Odyssee durch Sizilien. Es ist die Geschichte von vier Jugendlichen, ihre Namen sind frei erfunden, die am Mittwochmorgen in Catania angekommen sind.

Sie begegnen einander in einem abgelegen Haus vor den Toren Tripolis. Hier werden Migranten aus verschiedenen Ländern von Menschenhändlern untergebracht, wo sie darauf warten an Bord zu gehen. Verschiedenste Geschichten, die jedoch eines verbindet: Die Notwendigkeit ihre Heimat verlassen zu müssen.
Der 16-jährige Alassa aus Guinea gehört einer ethnischen Minderheit an, weshalb er und seine Familie in der Heimat diskriminiert wurden. „Ich bin allein weggegangen“. In Libyen wird er verhaftet. Um freigelassen zu werden beginnt er zu arbeiten, um seine Gefängniswärter zu bezahlen und anschließend Geld für die Überfahrt zur Seite zu legen. Die Monate verbringt er damit „allesmögliche zu machen“, wiederholt er, ohne wirklich etwas zu sagen.

Saneisi, 25 Jahre, gehörte einer politischen Jugendbewegung in der Elfenbeinküste an. Auch seine Reise durch den afrikanischen Kontinent endet in Tripolis. Seinem 18-jähriger Landsmann Sanga gelingt es nur sechshundert Dinar zurückzulegen. Für ein paar Tage wird er gezwungen als Mechaniker zu arbeiten, repariert die Fahrzeuge einer der Milizen des Landes. Es gelingt ihm zu fliehen und er erhält Hilfe von einem Freund, der ihm das restliche Geld leiht. Ihrer Gruppe schließt sich Abdoul an. Er ist 26 Jahre alt, kommt aus Mali und kann nicht lesen und schreiben, spricht weder Englisch noch Französisch. Als seine Freunde seine Erzählungen übersetzen, verkriecht er sich in seiner Jacke und duckt den Kopf in die Schultern. Geflohen aus einem Tuareg-Dorf, in welchem bei einem Angriff mindestens drei Leute getötet wurden, bleibt auch er ohne Vergangenheit zurück.
Nach langer Zeit des Wartens in dem abgelegenen Haus, ist der Moment gekommen, an Bord zu gehen. Das Warten verbringen sie damit, von Europa zu träumen, den Tod auf hoher See zu fürchten, aber vor allem Stillschweigen zu bewahren, um sich nicht entdecken zu lassen.

Als das Boot die Küste erreicht, müssen alle Entscheidungen bereits gefällt sein. „Wenn dir das Boot nicht gefällt, weil es dir in einem zu schlechten Zustand erscheint oder weil du Angst hast, kannst du nicht mehr zurück“, betont Saneisi, „sie geben dir dein Geld nicht zurück.“ Sie, die Schlepper, werden weder beim Namen genannt noch beschrieben. „Als wir losgefahren sind, hat uns ein weiteres, kleineres Boot verfolgt“, erinnert sich Sanga. An einem gewissen Punkt der Überfahrt steigt der Kapitän auf das zweite Boot. „Sie haben auf das Ruder gezeigt, uns allein gelassen und gesagt, wir sollten den Sternen folgen“, bestätigt Alassa mit einem Finger in den Himmel zeigend.
In Lampedusa angekommen, werden sie hastig identifiziert und mit einem Reisedokument in der Hand nach Agrigent gebracht: Sie haben sieben Tage lang Zeit um den Flughafen von Rom Fiumicino zu erreichen, von welchem aus es zurück in ihr Herkunftsland gehen soll. Die Kosten müssen sie selbst tragen, so wie es gemäß der neuen Abschiebungsverordnung der Behörden gehandhabt wird. „Die Polizei hat uns zum Bahnhof gebracht und gesagt, dass wir gehen sollen.“ Wohin? „Sie haben uns gesagt wegzugehen“,  wiederholen sie.

Alassa spricht nicht viel. Als man ihn nach seinem Alter fragt, scheint seine Lage ein immer schlimmeres Ausmaß anzunehmen. „Ich bin 1999 geboren“, erzählt er. Um sicher zu sein, dass er verstanden wird, schreibt er sein Geburtsdatum auf ein gelbes post-it. Sechzehn Jahre, ein Minderjähriger. Obwohl auf seiner Kartei ein Alter von 19 Jahren aufgeführt ist, ein nicht unerhebliches Detail, da es ihn in die Lage versetzt abgeschoben werden zu können. „Sie haben uns den Bahnhof von Agrigent gezeigt,“ fährt Saneisi fort. „Wir haben den ersten Zug genommen, den wir gesehen haben. Sie haben uns nach einem Fahrschein gefragt, aber wir hatten kein Geld. So sind wir ausgestiegen und zurückgekehrt.“
Sie kehren zurück ins Polizeipräsidium, worauf eine Reise folgt, die Sanga auf Französisch als „bizarre“, komisch, beschreibt. Ein Wagen der Polizei, welcher weitere acht Migranten nach Catania bringen sollte, habe sie mitgenommen und anschließend in einen Außenbezirk gebracht. Einige der Bewohner seien auf sie aufmerksam geworden und hätten das Ordnungsamt gerufen. „Zwei Polizisten sind gekommen, die uns empfohlen haben, nicht zu viel Lärm zu verbreiten, ruhig zu bleiben“, führt Saneisi weiter fort. „Sie haben uns etwas zu essen und Wasser gegeben und uns gesagt, zur Caritas zu gehen.“
Drei Stunden Fußmarsch folgen bis sie schließlich zu einer Einrichtung gelangen, in der sie endlich umfassend versorgt werden. So erhalten sie auch eine rechtliche Eischätzung für ihren Asylantrag seitens des Vereins Borderline. „Die Wüste, Libyen, dann das Meer. Nur Gott hat mich gerettet“, murmelt Sanga, sich den Kopf zwischen den Händen haltend.

Aus dem Italienischen von Giulia Coda