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Samstag, 1. August 2015

Neue Landungen in Messina, Augusta und Pozzallo. Wieder 14 Tote und die Heuchelei des Notstandes

Am Morgen des 29. Juli sind 453 Migranten in Messina angelandet und mit ihnen die Leichen ihrer 14 Reisegefährten, die auf der Überfahrt den Tod gefunden haben.
Die an der Landung beteiligten Helfer berichteten vor allem vom starken Verwesungsgeruch, den man bereits von der Mole aus wahrnahm. Sie zeugen von den grauenvollen Bedingungen auf dem Fluchtweg über das Meer.
Offenbar haben die Migranten das vorhandene Trinkwasser zur Kühlung des Motors gebraucht. Der Flüssigkeitsmangel über mehrere Stunden hinweg führte bei 14 von ihnen zum Tode. Einige Stunden oder wenige Seemeilen bestimmen über Leben und Tod. Das scheint Europa nicht zu erschüttern. Man spricht weiterhin von Ausnahmezustand und treibt die Militarisierung des Mittelmeerraumes und den Kampf gegen die Schlepper voran. Am Landepier waren die staatlichen und kirchlichen Behördenvertreter, die Betreiber von Praesidium, das Team von Ärzte ohne Grenzen mit seinem neuen Projekt der psychologischen Betreuung, das rote Kreuz und die Gemeinschaft S. Egidio anwesend. Einige der Migranten wurden weiter Richtung Norden transferiert. Andere in die städtischen Zentren Pala Nebiolo und in die ehemalige Kaserne Bisconti, wo sie, die es bis hierhin geschafft haben, auf eine menschenwürdige Aufnahme hoffen.

Am nächsten Tag landet das Schiff Spica der italienischen Militärmarine in Augusta. Es ist Teil der Mission Triton. An Bord sind 523 Migranten, die meisten aus Eritrea.Die Ausschiffung dauert lange. Auf dem Pier warten ausser der Polizei die Betreiber von Praesidium, das rote Kreuz, der Zivilschutz, die Mitarbeiter von Emergency und von „Ärzte ohne Grenzen“ und vor allem eine beträchtliche Anzahl von Frontexbeamten. Die ersten auf sicherem Boden sind Frauen, Kinder und junge Eritreer, die sich kaum auf den Beinen halten. Sie passieren die Quarantänezone, wo sie von der forensischen Abteilung der Polizei fotografiert und nochmals kurz medizinisch untersucht werden. Dann warten sie unter der Sonne in Gruppen auf den weiteren Transfer in die Zelte, die im Hafen aufgestellt wurden.


Es sind schon einige Betreiber von Praesidium und von der Präfektur hier. Aber in der Mehrzahl sind es Frontexmitarbeiter. Mit Fragen und Aufforderungen begleiten sie die Flüchtlinge zu den Zelten, wo diese sich auf Feldbetten und vor der Sonne geschützt ausruhen können. Wie bereits manches Mal zuvor geschehen, bitten uns die Ordnungskräfte, uns aus dem Zelt zurückzuziehen und den Abschluss der Empfangs- und Identifikationsformalitäten abzuwarten und erst anschließend mit den Migranten zu sprechen. Einige Stunden später und nach mehreren Versuchen mit den bereits vorregistrierten Migranten einige Worte zu wechseln, werde ich ins Zelt des Kommissärs gebeten, der meine Daten aufnimmt und mich bittet, die „Privatsphäre der Migranten“ zu respektieren und mit ihnen ausserhalb des Zeltes zu sprechen. Schade, dass es den Flüchtlingen nicht erlaubt ist, das Zelt zu verlassen. Darauf machen die Polizisten sie am Eingang fortwährend aufmerksam und darum können wir nur an den Zelteingängen mit ihnen sprechen. “Wo sind wir? Ist es weit bis Rom?” sind die ersten Fragen der Migranten. Auf den Feldbetten und am Boden sitzend, verschlingen sie ihre Mahlzeit in zwei Minuten. “Seit 25 Tagen habe ich nicht mehr so etwas Gutes gegessen” meint C. „Ein Brötchen und ein Apfel sind Luxus für mich. Meine Reise war schwierig, aber nichts im Vergleich zu den 5 Jahren, die ich im Sudan und dem letzten Monat, den ich in Libyen in ständiger Angst verbracht habe.“
Die Angst beherrscht die meisten der Migranten, mit denen ich spreche: „ Viele von uns möchten nicht in Italien bleiben. Wir haben Verwandte und Freunde im Norden Europas. Deswegen fürchten wir, dass die italienische Polizei unsere Fingerabdrücke aufgrund der europäischen Ausnahmeregeln zur Migration nehmen wird.“
J., der wie andere Eritreer ein wenig italienisch spricht, berichtet: “Ich möchte nach Rom, dort lebt ein Onkel von mir. Und Rom ist wie Asmara, meine Geburtsstadt. Ihr Italiener habt lange in Asmara gelebt, auch wenn niemand je davon spricht.“ J. ist es gelungen einige Jahre die Schule zu besuchen und er spricht fünf Sprachen. Er möchte Journalist werden. „In Eritrea kann man nicht frei reden, geschweige denn frei schreiben.“
Die Problematik ist jedoch die Furcht der Konsequenzen der Identifikation durch die Fingerabdrücke: “Wenn einer in Italien bleiben will, wie lange muss er auf ein Dokument warten? Das ist ein grosses Dilemma für mich. Auf der einen Seite hätte ich einen Ort, wo ich bleiben könnte, auf der anderen würde ich hier für Jahre wartend festsitzen – und was dann, bei einem abweisenden Entscheid? Meine Kameraden, die schon länger hier sind, berichten, dass in Italien nur der Ausnahmezustand gilt, aber dass es hier keine Zukunft gibt. Ich bin jung, meine Reise dauerte jetzt schon zu lange – ich möchte wieder wie ein normaler Mensch leben.“ Nun nähern sich viele, jeder mit seiner Geschichte und seinen Anliegen. Es bräuchte viele Stunden um alle anzuhören, die keine Möglichkeit auf Anhörung haben, weil es viel zu viele sind.

Hunderte von jungen Männern und Frauen sind wie die andern 241 Flüchtlinge am Donnerstagnachmittag, den 30. Juli im Hafen von Pozzallo gelandet und von dort ins nahe gelegene Erstaufnahmezentrum (CSPA) gebracht worden.
Die Nachricht ihrer Ankunft erscheint in den Medien zusammen mit der Mitteilung über die Verhaftung der vermutlichen Schlepper, wie jedesmal bei einer Anlandung. “Migranten und Horrorerlebnisse”, “Migranten in Not”, “Neue Notfälle“ – das sind die üblichen Titel, die die Volksmeinung  wiedergeben.
Die Heuchelei und Täuschung in den Medien findet kein Ende. Zum Glück haben das auch Leute, die nicht direkt mit den Flüchtlingen arbeiten, erkannt. Ein Hafenarbeiter meint: „Sie sprechen immer noch von Notfall, aber niemand fällt mehr darauf herein, alles hängt von den Interessen ab, die jemand daraus ziehen will.“

Lucia Borghi
Borderline Sicilia Onlus


Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne