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Dienstag, 28. Juli 2015

Wir besuchen das SPRAR in Vittoria, eine Aufnahmeeinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – wie lange können sie in Italien bleiben?

Letzte Woche sind wir zurückgekehrt ins SPRAR* für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge von Vittoria, in der Provinz Ragusa. Vor einem Jahr waren wir schon einmal zu einem kurzen Besuch dort. Die Einrichtung wird von der Kooperative ‚Nostra Signora die Gulfi’ geleitet. Sie umfasst eine Wohnung, die bis zu 13 Personen beherbergen kann und eine separate Wohneinheit mit 8 Betten. Dort wohnen bereits volljährige junge Erwachsene, die vorher im Hauptgebäude untergebracht waren. 

Wir werden von der Verantwortlichen Noemi Favizza empfangen, die uns auf einem kurzen Rundgang die aktuelle Situation schildert. Das Haus kennen wir bereits von unserem Besuch im letzten Jahr. Es liegt unweit des Stadtzentrums, ist geräumig, mit Schlafzimmern mit drei oder vier Betten, einer gemeinsamen Küche, einem Aufenthaltsraum, einer Veranda, einer Waschküche und verschiedenen Büroräumen. Überall herrscht grosse Ruhe, weil die Jugendlichen am Sommerfest des Ortes teilnehmen. Nur einer ist hier, weil er auf eine Arztvisite wartet. Es ist wirklich schade, dass wir die Jungen nicht sehen! Noemi hofft natürlich, dass sie es geniessen heute, sie unterstreicht die Begeisterung mit der sie die Einladung ans Sommerfest angenommen haben. Aktuell wohnen in dem 2014 eröffnetem Zentrum 6 Migranten bei 8 möglichen Plätzen im Alter zwischen 13 und 18 Jahren, die Meisten zwischen 16 und 17. Sie kommen aus dem Senegal, aus Gambia, aus Bangladesh und aus Ägypten. Einige von ihnen sind seit etwa einem Jahr hier, andere seit ein paar Monaten. 

Alle ausser zwei von ihnen haben schon einen eigenen Tutor. Viele von ihnen haben nach ihrer Vorladung zur Kommission eine zweijährige Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen erhalten. Bei dieser Thematik kommt die Leiterin auf die Schwierigkeit zu sprechen, die Gäste in allen Phasen der Aufnahmeprozedur mit der maximalen Aufmerksamkeit zu begleiten. „Oft kommen sie nach Monaten im Erstaufnahmezentrum und den sie betreffenden Gerichtsbeschlüssen zu uns und haben noch nicht einmal den Antrag auf humanitären Schutzstatus gestellt. Dann müssen wir im SPRAR den ganzen bürokratischen Prozess so schnell wie möglich vorantreiben, denn die Jugendlichen sind durch die lange Wartezeit schon sehr entmutigt. Unsere Einrichtung beschäftigt zurzeit 4 Erzieher, eine Bezugsperson für die Jugendlichen, eine medizinische Fachkraft, einen Nachtwächter, der auch als Übersetzer tätig ist und eine Haushälterin. Noemi erklärt, dass diese die Jugendlichen anweist in der Reinigung des Hauses und in der Küche. Die Sozialarbeiter, der Psychologe und die Rechtsberatung sind auf Abruf erreichbar. Einige der Betreiber sprechen französisch und / oder englisch. Der Übersetzer ist ein unentbehrlicher Mediator für die arabisch sprechenden Migranten. 
Alle bekommen ein tägliches Taschengeld von 2.50 Euro. „Die Jüngsten bitten uns, ihnen bei der Verwaltung des Geldes zu helfen, das sie vorher für Spiele und Getränke vergeudet haben. Für sie bewahren wir das Taschengeld im Sekretariat auf und geben es ihnen, wann sie es wünschen. Wir versuchen ihnen den sinnvollen Umgang mit Geld zu vermitteln. Andere verwalten ihr Geld selbständig und versuchen es zu sparen, im Hinblick auf ihre Projekte in der Zukunft, vielleicht in Deutschland oder woanders“ erklärt Noemi.
Die heterogene Zusammensetzung der Bewohner was Alter und Herkunft und ihre Bedürfnisse betrifft, hat die Betreiber dazu bewogen, mit allen einzeln an deren individueller Zukunftsplanung zu arbeiten, was über die übliche Betreuung in einer Aufnahmeeinrichtung wie das SPRAR hinausgeht. Alle besuchen die Italienischkurse, die einen auch für ihre Alphabetisierung, die andern um die Sprache zu beherrschen. „Sie sind zudem an der Abendschule in Vittoria eingeschrieben, wo zwei von ihnen dieses Jahr die „Scuola Media“ (ähnlich der Hauptschule) bestanden haben. Zudem haben wir mit dem Zentrum der lokalen Arbeitsvermittlung eine Vereinbarung für Praktikumsstellen. Zurzeit sind es 2  Jugendliche, die davon profitieren.

Wir haben viele Aktivitäten, die die Integration fördern: Von Fussballturniere zu Ausflügen ans Meer. Aber unser Hauptaugenmerk gilt nach wie vor der Legalisierung ihres Aufenthaltes und der Beschaffung der Dokumente, denn das ist die Hauptsorge der Flüchtlinge.“ „Die Vorbereitung der Jugendlichen auf die Anhörung vor der Kommission ist uns sehr wichtig“ fährt Noemi weiter, „auch weil das für uns eine Gelegenheit ist, sie besser kennenzulernen.“ Aber trotz unserem Bemühen ist es so, dass viele Jugendliche hier bei uns und an andern Orten in Sizilien noch vor der Anhörung weggehen oder sobald sie einen Ausweis bekommen haben. Vor allem die Jugendlichen aus Somalia gehen meist direkt nach der Ankunft weg und die aus Subsahara Afrika reisen nach Deutschland oder nach Frankreich weiter.“
Das gleiche berichtet die Haushälterin, als wir eine Woche später ins SPRAR zurückkehren. Wir beabsichtigen die angegliederte Wohnung für die Volljährigen zu besuchen. „Manchmal ruft mich M., der nach Deutschland weitergereist ist, am späten Abend oder in der Nacht an. Er hat dort als Reinigungskraft nachts Arbeit gefunden. Wie er sind andere in Spanien und anderen Ländern, wo sie Verwandte gefunden haben und Arbeit, die dort niemand machen will.“ Ein trauriger Epilog für die, die es nicht mehr länger ertragen können, jahrelang auf eine ungewisse Zukunft zu warten (auch wenn die Dokumente in Ordnung sind), und ein Opfer des Schwarzmarktes der illegalen Arbeit und ein unsichtbarer Bürger dieser Welt zu werden. 
Während wir warten, sprechen die Verantwortliche des Hauses und der Mediator mit einem somalischen Migranten, der erst vor drei Tagen im Zentrum angekommen ist. „Er wollte zu Fuss nach Deutschland und er ist bis heute verwirrt. Wir haben ihn über seine Rechte aufgeklärt und die Risiken, die er eingeht, aber wir wissen nicht, was er tun will. Manchmal entfernt er sich aus dem Zentrum, ohne uns zu informieren, und wir sind in Sorge um ihn.“ 

In einer völlig anderen Situation scheinen die vier Migranten zu sein, die in der Wohnung für Volljährige leben, die wir besuchen. Die neue Wohnung hat vier Zimmer mit je zwei Betten für acht Personen, Büros, Badezimmer, Küche und einen Aufenthaltsraum mit einer Veranda. Die Idee zum Betrieb dieser Wohnung ist die des Aufbaus der Autonomie und der Vorbereitung auf den Austritt aus dem Zentrum der Migranten, und das geht besser mit einer kleineren Anzahl Bewohner. In Noemis Begleitung stelle ich mich vor und werde von einem andern Betreiber hineingebeten und zusammen mit drei der Bewohner setzen wir uns zu einem Gespräch in den Aufenthaltsraum. Die Bewohner kommen aus Senegal, Nigeria und Ghana und alle drei sprechen ziemlich gut italienisch. Zwei von ihnen haben den Volksschulabschluss und beenden ihre Praktika als Sanitärinstallateur und Monteure für Kunststoffmaterialien in ortsansässigen Betrieben. Die Migranten ruhen sich beim Fernsehen aus. S. ist der mitteilsamste und erzählt mir stolz von seinen Lernprozess und dass er hofft, einen Lehrgang zum kulturellen Mediator machen zu können, der im September beginne.
„Ich bin vor einem Jahr in Augusta angekommen und habe dort in den „Schulen“ gewohnt (die ehemaligen Verdi Schulgebäude, die für einige Monate zu einem SPRAR umfunktioniert wurden). Von Augusta haben sie mich in die „Zagare“ nach Mellili geschickt und nun bin ich seit fünf Monaten hier. Ich habe die Schule abgeschlossen und ich möchte die Ausbildung zum Mediator machen. Denn sonst bin ich ruhelos - nur schlafen, essen und warten geht nicht. Und ich will in Sizilien bleiben, weil ich glaube, dass das in Italien der beste Ort ist.“ S. zählt mir alle Sprachen und Dialekte, die er kennt auf und fügt an, dass er sich wünscht  auch  deutsch  zu lernen. „Hier unter uns im Haus reden wir italienisch, denn wir müssen das lernen, das ist wichtig. Und man muss auch sizilianisch lernen, aber zuerst italienisch.“ In Anbetracht von so viel Entschlossenheit entsteht ein wenig Hoffnung. 

Aber wir fragen uns, wie lange diese Jugendlichen in Italien bleiben und menschenwürdig leben können, wenn jeden Tag Nachrichten eintreffen von all den anderen auch auf der Flucht.

Lucia Borghi
Borderline Sicilia Onlus

*SPRAR: Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis

Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne