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Sonntag, 19. Juli 2015

Migranten im zukünftigen Hotspot von Pozzallo: „Wir fahren auf Sicht“

Aus Redattore Sociale - „We are in a democracy“. Wir sind in einer Demokratie, sagt Omar, ein junger Somalier, als erstes zu den herbeilaufenden Mitbürgern. „Italien hat eine Konstitution, die die Pressefreiheit schützt, also müssen wir mit den Journalisten sprechen“. Sie sind geordnet zusammengedrängt, sie erheben sich von den Matratzen, um sich auf den Gehweg zu kauern und zu erzählen. In stockendem Englisch, von zermürbenden Reisen und noch fernen Zielen. Von Beginn der Operation Mare Nostrum hat das Erstaufnahmelager in Pozzallo Zehntausende Personen beherbergt, allein 2014 waren es laut Bürgermeister Liugi Ammatuna 28 000. Häufig wird Pozzallo jedoch eher zu einem Ort der Gefangenschaft als zu einem der Aufnahme. Wie auch für Tesfom, einem jungen eritreischen Lehrer, „wir müssen der italienischen Regierung danken, denn wir sind noch am Leben und können sprechen, aber wir müssen ihr auch mitteilen, dass wir nach Monaten im Gefängnis in Libyen nicht noch länger in einem Gefängnis bleiben können.“

2 000 Migranten in der Woche
Carlo Carcione, Verantwortlicher des Zentrums und zuständig für die Genossenschaft Azione Sociale, die Preisträger eines von der Kommune ausgeschriebenen Verfahrens ist, erklärt dass hier „bis vor wenigen Stunden 260 Personen bei einer maximalen Kapazität von 400“ waren. Ammatuna, Bürgermeister von Pozzallo, wird wenig später jedoch von einer Abnahme auf 180 Plätze, ausdehnbar auf 220 Notplätze reden. Die Zahlen sind natürlich hoch und „von hier aus werden bis zu 2000 Migranten pro Woche verlegt“, erklärt Carcione, „einige werden auf die Schnelle in andere Zentren gebracht, während andere länger bleiben“. Omar, Tesfom und ihre Reisegefährten sagen zum Beispiel, dass sie seit fünf Tagen im Zentrum eingeschlossen sind, im Vergleich zu den vorgesehenen 24/48 Stunden, die es laut Gesetz in Erstaufnahmezentren sein sollten (also außer in Pozzallo auch auf Lampedusa, in Cagliari und Otranto) und der Notwendigkeit eines richterlichen Beschlusses bei jedem Aufenthalt, der die 48 Stunden überschreitet. In einem der beiden Räume des Zentrums, dem einzigen den wir berechtigt sind zu betreten, werden auch einige unbegleitete Minderjährige untergebracht. Junge Menschen aus Somalia, Eritrea und Gambia untergebracht in einer Halle aus Zement und gezwungen auf Matratzen auf dem Boden zu schlafen, neben Frauen und Männern aller Altersgruppen.

Fingerabdrücke und Unsicherheit
Ahmed, ein 16-jähriger aus Gambia, sagt „als erstes möchte ich meine Familienangehörigen anrufen, die ich seit einem Monat nicht gehört habe, und dann will ich mich gründlich waschen“. Er zeigt auf seine Haare, die noch von Meersalz durchtränkt sind, während er erzählt, dass er kein Shampoo oder Seife erhalten hat und dass das Telefonat, auf das sie ein Recht haben, sehr schwer wahrzunehmen ist, weil es nur ein Telefon gibt, das nur wenige Stunden am Tag benutzt werden darf. Das was die Migranten jedoch am meisten beschäftigt, ist die Unsicherheit. Fragen ohne Antwort, die immer drängender werden, wenn die Polizei beginnt einige Insassen anhand der Nummer auf ihrem Armbändchen aufzurufen. Ein junger, bisher noch nicht identifizierter, Somalier zeigt uns erschrocken ein Blatt Papier, das er bei der Ankunft im Zentrum bekam und auf dem steht, dass Fingerabdrücke auch mit Gewalt abgenommen werden können. Er will jedoch zu Angehörige nach Holland reisen. Ahmed, der bereits identifiziert wurde, versteht den Grund nicht. „Ich dachte es wäre obligatorisch die Fingerabdrücke zu geben, aber niemand hat mir erklärt, was es heißt und das ich hätte wählen können sie zu geben oder nicht, also in Italien zu bleiben oder in andere europäische Länder gehen zu können.“

„Befehle von oben“ bezüglich der Identifizierung
Die Frage der Identifizierung ist im Hinblick auf die zukünftige Lage in Europa zentral, gerade im Zentrum von Pozzallo sieht man einen der möglichen Hotspots für die fotografische Identifizierung der Ankömmenden und die Abschiebung, derjenigen die kein Asyl beantragen. Es ist zu unterscheiden, wie am 25. Juni von Matteo Renzi ausgerufen, zwischen „Migranten aus ökonomischen Gründen, die in ihre Heimat zurückgeschickt werden sollen, und Migranten, denen Asyl gewährt werden kann“. „In den CPSA* ist die fotografische Identifikation nicht obligatorisch, besonders nicht für Minderjährige – wie Carlo Carcione es betont. Das was wir machen können, ist die Leute zu überzeugen ihre Fingerabdrücke abzugeben, indem wir sie darauf hinweisen, dass sie riskieren abgeschoben zu werden, wenn sie dies nicht tun; an diesem Punkt fliehen sie entweder oder sie lassen sich identifizieren“. Dennoch werden einige nichtidentifizierte Eritreer und Somalier vor unseren Augen verlegt, einige haben nicht einmal Schuhe an. Laut den Beamten geht es direkt in andere Aufnahmezentren. Für die Minderjährigen aus Gambia, von denen  zwei als volljährig ausgewiesen wurden, und auch für diejenigen aus Senegal und Bangladesch geht die Prozedur weiter. Ein Mitarbeiter des Zentrums, der anonym bleiben möchte, erklärt, dass die Befehle zur Identifizierung von „ganz oben kommen, von der ersten Sekunde nach der Ankunft durchzuführen sind und besondere Prozeduren für diejenigen vorsehen, die sich nicht identifizieren lassen wollen“. Um welche Prozeduren es sich dabei genau handelt, erklärt er jedoch nicht.

„Wir fahren auf Sicht“
Die zwei Container, die für das Personal von Frontex, der europäischen Agentur zur Kontrolle der Grenzen, bestimmt sind, wurden gerade im Hof des Aufnahmezentrums eingeweiht. Sie bezeugen die strategische Wichtigkeit des CPSA, dass trotz der Anwesenheit des Hochkommissariats für Flüchtlinge, Save the Children und Ärzte ohne Grenzen, weit weg von den demokratischen Standards scheint, an welche die Migranten appellieren. Zwischen direktem Vertrauen und andauernden Aufschüben ist auch die Geschäftsführung der Einrichtung Komplize gegen die die Staatsanwaltschaft von Ragusa ermittelt. „Die Kommune hat die dreijährige Ausschreibung noch nicht verabschiedet und arbeitet nach Übergangsregelungen – berichtet Carlo Carcione – wir haben gerade erst begonnen und unser Auftrag ist bereits abgelaufen, also fahren wir auf Sicht“. Unterdessen haben Ahmed und mit ihm viele der verbliebenen jungen Migranten nur eine einzige Forderung. „We need to get out, to move“, wir müssen hier raus, wir müssen uns bewegen können. (Giacomo Zandonini)

*CPSA: Centro di Soccorso e prima Accoglienza: Zentrum zur Ersten Hilfe und Erstaufnahme

Aus dem Italienischen übersetzt von Viktoria Langer