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Donnerstag, 9. Juli 2015

Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, in Libyen zu sterben

„Wir sind nicht dumm: vielleicht sprechen nicht alle gut eure Sprache, aber wir alle haben Augen, um zu sehen. Wir beobachten alles, was um uns herum geschieht, und verstehen, wie die Dinge laufen.“
Es sind starke Worte, die A. hier sagt, der im Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge (SPRAR) in Montevago untergebracht ist, das von der Sozialkooperative Quadrifoglio betrieben wird; ich habe ihn vor einigen Tagen vor der Präfektur in Agrigento getroffen, wo er auf sein Gespräch mit der Asylkommission wartete. „Wir haben tausend Gedanken im Kopf, die uns nicht schlafen lassen: die langen Wartezeiten, Sorge um unsere Familien ... zu viele Dinge, die uns beschäftigen und uns an nichts anderes denken lassen.“
Diese Gedanken graben sich tief in ihre Köpfe und Seelen, setzen sich dort fest und werden zu einer regelrechten Obsession. Ja, einige von ihnen haben Jobs, die sie einige Stunden am Tag beschäftigen, aber für die anderen, die nichts zu tun haben, werden die Tage lang, als wären sie Wochen: Wie bringt man die Gedanken zum Stillstand? Um diesem obsessiven Grübeln zu entgehen, braucht es einen eisernen Willen, den viele von ihnen jedoch verloren haben. Die Schwierigkeit, sich zu konzentrieren, bringt viele dazu, dem von den Betreibern angebotenen Italienischunterricht fern zu bleiben, und so bleiben ihre Sprachkenntnisse auf halber Strecke, die jedoch für die Integration und Interaktion mit dem Umfeld grundlegend sind.

Es ist Mittag, es ist heiß, und die Jugendlichen sind seit dem frühen Morgen unterwegs, da der erste von ihnen seine Anhörung um 9 Uhr haben sollte. Ich frage, ob jemand von den fünfen derzeit den Ramadan praktiziert. „Nur einer“, berichtet A., „viele der Muslime haben das Fasten unterbrochen. Um den Ramadan zu befolgen, musst du in einer körperlichen und psychischen Verfassung sein, die einer solchen Anstrengung gewachsen ist, sonst ist es für den Körper zu anstrengend. Aber weil sie nicht unbeschwert sind, haben viele damit aufgehört, für ihr eigenes Wohlergehen.“ Wir sprechen über dies und das, Politik, Medien, Reisen, Pläne, Träume. Wir sind mittlerweile noch zu dritt, ich, A. und ein Nigerianer. Es ist ein angenehmes Gespräch, ein Austausch, ein Geschenk, eine Hoffnung. Sie danken mir dafür, dass ich stehen geblieben bin, sie gegrüßt und angesprochen habe, mit ihnen rede: „Normalerweise sehen uns die Leute im Vorbeigehen schief an, wir spüren viel Misstrauen uns gegenüber.“
Dieses Problem des Misstrauens und des fehlenden Willkommenheißens versucht die Kooperative Quadrifoglio durch Sensibilisierung, Interaktion und Teilhabe von Asylbewerbern und Einheimischen zu lösen. Die Veranstaltung „Somalische Märchen und afrikanische Musik“ vom vergangenen 23. Juni in der Aula der Gemeinde Montevago ist ein Beispiel dafür (im Juli finden weitere Veranstaltungen statt, beispielsweise „Aid Al Fitr“, das Fest zum Abschluss des Ramadan. Weitere Informationen unter www.cooperativaquadrifoglio.it oder quadrifogliosprar@gmail.com). Die Teilnahme der Bewohner von Montevago, Sambuca di Sicilia, S. Margherita und Porto Empedocle sowie anderer Ortschaften, in denen die Kooperative aktiv ist, ist jedoch gleich null: an der gerade genannten Veranstaltung nahm nur der Bürgermeister des kleinen Dorfes Calogero Impastato mit einer weiteren Person teil. Einige Mitarbeiter der Kooperative geben jedoch zu, dass sie solche Veranstaltungen besser und rechtzeitiger bewerben müssten. Doch leider gerät dies unausweichlich in den Hintergrund, weil dringendere Probleme angegangen werden müssen: Wie beispielsweise die Frage danach wie man den Frust der Jugendlichen wegen der langen Wartezeiten im Zaum hält oder aber wie man sich mit den öffentlichen Behörden in Verbindung steht. Trotz der vornehmlich verbalen Auseinandersetzungen mit den Mitarbeitern, aufgrund blankliegender Nerven, wissen die Bewohner die Bemühungen der Kooperative zu schätzen, die schwierige Situation zu meistern, mit der sie umgehen müssen. Dies bezieht sich vor allem auf die Mitarbeiterin, die sie von Montevago im Auto bis zur Präfektur in Agrigento mitgenommen hat, A. sagt, er schätze sie sehr, da sie Druck macht und sich dafür einsetzt, die Dinge voranzutreiben, soweit es ihr möglich ist. Vertrauen und Respekt zwischen Bewohnern und Mitarbeitern (leider nicht in allen Fällen, aber glücklicherweise trifft man an einigen Orten noch auf etwas Menschlichkeit) – welches jedoch durch das absurde und ungesunde Aufnahmesystem Italiens auf eine harte Probe gestellt wird, unter deren Konsequenzen letztlich vor allem die Migranten und die (ehrlichen) Mitarbeiter zu leiden haben.
„Ich weiß, ich werde nicht für immer in Italien bleiben können“, fährt A. fort, „und das will ich auch gar nicht. Ich möchte eines Tages in mein Land zurückkehren und dort eine Musikschule eröffnen. Ich bin gut, ich habe Talent. Viele denken, wir seien alle Analphabeten, aber das stimmt nicht. Wie haben Talente, Leidenschaften, Träume, viele von uns haben auch einen Studienabschluss!“ Arbeitskräfte für unser Land, welches sich in einer tiefen wirtschaftlichen, kulturellen und menschlichen Krise befindet, die man jedoch lieber in Zentren sperrt und ihnen langsam, aber systematisch das einzige nimmt, das ihnen geblieben ist: das Vertrauen in sich selbst und ihre Fähigkeiten. „Ich habe in Libyen überlebt, ein fürchterliches Land, dann bin ich in Lampedusa angekommen und nach Palermo und schließlich nach Montevago verlegt worden. Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, in Libyen zu sterben, dann wäre ich jetzt wenigstens an einem besseren Ort, nah bei Gott, der meinen Wert kennt.“ Doch zum Glück, räumt er ein, hat er die Musik, seine große Leidenschaft, die ihm Ablenkung und Freude bereitet. Er weiß, dass er sich auf gewisse Weise glücklich schätzen kann. 
Er erzählt mir, wie schlecht er sich fühlt, wenn er Migranten sieht, die auf der Straße schlafen, wie es bei einem Besuch in Palermo geschehen ist. Bei der Gelegenheit hatte ihn ein Mädchen angesprochen und gebeten, ihre Familie in ihrer Heimat anrufen zu dürfen, um ihnen zu sagen, dass sie in Italien angekommen ist. Er erzählt mir, wie erstaunt er war, als er hörte, dass sie auf der Straße lebt, als einzige Frau unter vielen jungen Männern. „Ich hatte einen kleinen Rucksack dabei, gerade mal ein T-Shirt, eine Hose und die Schuhe. Ich habe ihr alles dagelassen.“ Gesten der Solidarität unter Migranten: das ist leider nicht immer so, sagt A. Insbesondere zwischen denjenigen, die schon länger in Italien sind, und den Neuankömmlingen. Oft sind es entfernte Verwandte oder Bekannte, und dennoch schließen wir aus einigen Berichten, die wir bei verschiedenen Gelegenheiten eingeholt haben, dass nach der Ankunft in Europa die Regel gilt: „Jeder geht seiner Wege.“ An die Stelle der typisch afrikanischen Solidarität – mit Anteilnahme und Unterstützung in jeglicher Situation, da ja alle Brüder und Schwestern sind – treten in Italien falsche Versprechungen, unbeachtete Anrufe oder klare Aussagen wie: „Als ich in Italien angekommen bin, war niemand da, der mir geholfen hat, und ich musste allein sehen, wie ich klarkam: Jetzt bist du dran.“

Einwanderung: ein Teufelskreis in jeder Hinsicht, der anscheinend nicht durchbrochen werden kann. Dabei bräuchte es nur so wenig, um die Situation in etwas Positives zu verwandeln. Als allererstes müsste man zum Beispiel aufhören, Einwanderung: a) als einen Notstand zu betrachten, da es sich seit nunmehr mindestens 15 Jahren um ein regelmäßiges und wiederholtes Phänomen handelt, wirklich lange genug also, um ein in jeder Hinsicht angemessenes Aufnahmesystem zu entwickeln und zu planen. Wie viele verlassene, baufällige, leerstehende oder dem organisierten Verbrechen beschlagnahmte Gebäude gibt es in Italien? Diese Gebäude in Ordnung zu bringen und den Migranten anzuvertrauen wäre ein sinnvolles Projekt der Nutzbarmachung, Gegenseitigkeit, Verantwortung und Empowerment; b) Einwanderung als Invasion zu sehen, denn wenn man die Statistiken zu Rate zöge, würde man erkennen, dass die Ankünfte über den Seeweg über die Jahre hinweg im Durchschnitt recht gleichmäßig geblieben sind, was den erstgenannten Punkt bekräftigt: http://unhcr.it/risorse/statistiche/sea-arrivals-to-italy). Zweitens muss man die Gründe, die diese Personen dazu bringen, ihr Zuhause, ihre Familien, ihre Heimat zu verlassen und sich auf eine tödliche Reise zu begeben, genau verstehen. Achja, die Hauptgründe sind die Ausprägungen der zeitgenössischen europäischen Kolonisierung: sie anzuerkennen würde bedeuten, die eigene Verantwortung und Schuld einzugestehen und, möglicherweise, auf einigen Komfort zu verzichten, an den wir uns mittlerweile zu sehr gewöhnt haben. Nein, nein, das lassen wir besser. Besser, wir vertuschen das alles weiterhin und lenken die Aufmerksamkeit der Leute ab, lassen sie glauben, dass die Ausländer an allem Schuld sind. Denn wir sind ja Meister der Manipulation.

Caterina Bottinelli
Borderline Sicilia


Aus dem Italienischen von Renate Albrecht