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Dienstag, 23. Juni 2015

Auf dem Meer wird nun auch durch Pistolenschüsse gestorben

Die Nachricht über den Tod eines Migranten, verursacht durch einen Schusswechsel im Meer vor der libyschen Küste, erreichte uns gestern Abend. Die Ermittlungen sind angelaufen, die Zeugen werden angehört - einer von ihnen, ein junger Mann aus Gambia wurde ebenfalls verletzt und wird gerade ins Krankenhaus von Palermo eingeliefert – und  zur selben Stunde verbreitet die Nachrichtenagentur Ansa einen Entwurf der Europäischen Kommission. Das Papier enthält Neuerungen zur Immigrationspolitik, die als abschließender Höhepunkt dieses Wochenendes diskutiert werden sollen.
Dabei ist es äußerst besorgniserregend zu lesen, dass die Europäischen Staaten beabsichtigen „vorübergehende Ausnahme-Mechanismen“ zur Aufteilung von ungefähr 40.000 Migranten zu schaffen und ebenso „strukturierte Grenzzonen“ und die berühmten Hotspots zu realisieren. Dort sollen Flüchtlinge zukünftig schneller identifiziert und jene, die aus der Festung Europa „ausgeschlossen“ werden, auch schneller abgeschoben werden. Währenddessen spricht EU Außenministerin Federica Mogherini von einer europäischen Marinemission gegen Schlepper und unterstreicht ausdrücklich, dass „die Schlepper und nicht die Migranten das Ziel der Operation seien.“ Schaut man sich die Vorschläge an, die auf den Tisch gelegt werden scheint es, als würde sich Europa auch nach hunderten und hunderten von Toten im Meer und einem nicht funktionierenden Aufnahme-System noch immer herzlich wenig für die Migranten interessieren.

Denn wie sonst kann es bis zum heutigen Tag möglich sein, dass nie an die vielfältigen Ursachen gedacht oder gearbeitet wird, welche die Migranten zur Flucht zwingen, sowie an einem sicheren Zugang nach Europa? Keine Spur davon bei den verschiedenen europäischen und nicht europäischen Diskussionsrunden. Anstelle dessen gehen dort die heuchlerischen Diskussionen um ein humaneres Europa weiter, zusammen mit Verteidigungsreden der Regierungen, welche Flüchtlinge retten, ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass sie selbst die Ursprungsländer unterstützen.

In der Zwischenzeit gehen heute Morgen im Hafen von Pozzallo erneut 292 Flüchtlinge an Land. Im selben Schiff befindet sich auch der Leichnam jenes Migranten, der beim Schusswechsel kurz nach dem Ablegen in Libyen ums Leben gekommen ist. Viele Journalisten warteten im Hafen, als um 9.00 Uhr, ungefähr zwei Stunden nachdem das Schiff von Ärzte ohne Grenzen angelegt hatte, sein Leichnam von Bord getragen wird. Im Hafen folgen einige Sekunden der Stille. Dann beginnen langsam die Ausschiffarbeiten, die auch heute, zum wiederholten Male sehr lange dauern. Nach einer tagelangen Reise müssen auch diese Migranten noch stundenlang auf dem Schiff ausharren, bis die medizinische Kontrolle abgeschlossen ist und sie endlich von Bord dürfen. Unter ihnen befinden sich ein Neugeborenes und eine hochschwangere Frau. Außer den Ordnungskräften und Frontex Mitarbeiter, die im Hafen bereitstehen, um die ersten investigativen Fragen zu stellen, sind auch das Rote Kreuz, der Zivilschutz und Mitglieder von Praesidium, Ärzte ohne Grenzen und Terres des Hommes sowie der Bürgermeister und der stellvertretende Polizeichef von Pozzallo vor Ort.

Nur wenige Meter entfernt, wird in der Zwischenzeit das Erstaufnahme-Zentrum geräumt, um Platz für die Neuankommenden zu schaffen. Aus diesem Grund finden die Identifizierungsmaßnahmen heute nicht wie üblich am Hafenbecken statt und kostet so weitere Zeit. Die Busse, die für den kurzen Transport bereitgestellt wurden, kommen im 20 Minuten Takt und sorgen so für eine zusätzliche Verzögerungen der Wartezeit. Die Frauen, Männer und Kinder die zwischenzeitlich das Schiff verlassen, bedecken ihre Köpfe mit Stoffen und Tüchern, um sich vor der Sonne zu schützen. Langsame Gesten, starre Blicke und gleichmütige Gesichter stehen im eindeutigen Widerspruch zum atemlosen und oft nervösen Ausdruck jener, die sie „empfangen“. Nachdem die Migranten den Tod eines Mitreisenden mitansehen mussten, folgen sie  sprachlos dem Weg, der ihnen angezeigt wird. Wer sie sehen kann versteht, wie unvorstellbar und beschämend es ist, sich an Szenen wie diese zu gewöhnen und vielleicht bräuchte es einen Moment des Schweigens, um all das zu überdenken was wir fortdauernd hören, glauben und machen.

Lucia Borghi
Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner