Die
Nachricht über den Tod eines Migranten, verursacht durch einen Schusswechsel im
Meer vor der libyschen Küste, erreichte uns gestern Abend. Die Ermittlungen sind
angelaufen, die Zeugen werden angehört - einer von ihnen, ein junger Mann aus
Gambia wurde ebenfalls verletzt und wird gerade ins Krankenhaus von Palermo
eingeliefert – und zur selben Stunde verbreitet
die Nachrichtenagentur Ansa einen Entwurf der Europäischen Kommission. Das
Papier enthält Neuerungen zur Immigrationspolitik, die als abschließender
Höhepunkt dieses Wochenendes diskutiert werden sollen.
Dabei ist es äußerst
besorgniserregend zu lesen, dass die Europäischen Staaten beabsichtigen
„vorübergehende Ausnahme-Mechanismen“ zur Aufteilung von ungefähr 40.000
Migranten zu schaffen und ebenso „strukturierte Grenzzonen“ und die berühmten
Hotspots zu realisieren. Dort sollen Flüchtlinge zukünftig schneller
identifiziert und jene, die aus der Festung Europa „ausgeschlossen“ werden,
auch schneller abgeschoben werden. Währenddessen spricht EU Außenministerin Federica
Mogherini von einer europäischen Marinemission gegen Schlepper und
unterstreicht ausdrücklich, dass „die Schlepper und nicht die Migranten das Ziel
der Operation seien.“ Schaut man sich die Vorschläge an, die auf den Tisch
gelegt werden scheint es, als würde sich Europa auch nach hunderten und
hunderten von Toten im Meer und einem nicht funktionierenden Aufnahme-System noch
immer herzlich wenig für die Migranten interessieren.
Denn wie sonst
kann es bis zum heutigen Tag möglich sein, dass nie an die vielfältigen Ursachen
gedacht oder gearbeitet wird, welche die Migranten zur Flucht zwingen, sowie an
einem sicheren Zugang nach Europa? Keine Spur davon bei den verschiedenen
europäischen und nicht europäischen Diskussionsrunden. Anstelle dessen gehen
dort die heuchlerischen Diskussionen um ein humaneres Europa weiter, zusammen
mit Verteidigungsreden der Regierungen, welche Flüchtlinge retten, ohne ein
Wort darüber zu verlieren, dass sie selbst die Ursprungsländer unterstützen.
In der
Zwischenzeit gehen heute Morgen im Hafen von Pozzallo erneut 292 Flüchtlinge an
Land. Im selben Schiff befindet sich auch der Leichnam jenes Migranten, der
beim Schusswechsel kurz nach dem Ablegen in Libyen ums Leben gekommen ist.
Viele Journalisten warteten im Hafen, als um 9.00 Uhr, ungefähr zwei Stunden
nachdem das Schiff von Ärzte ohne Grenzen angelegt hatte, sein Leichnam von
Bord getragen wird. Im Hafen folgen einige Sekunden der Stille. Dann beginnen
langsam die Ausschiffarbeiten, die auch heute, zum wiederholten Male sehr lange
dauern. Nach einer tagelangen Reise müssen auch diese Migranten noch
stundenlang auf dem Schiff ausharren, bis die medizinische Kontrolle abgeschlossen
ist und sie endlich von Bord dürfen. Unter ihnen befinden sich ein Neugeborenes
und eine hochschwangere Frau. Außer den Ordnungskräften und Frontex
Mitarbeiter, die im Hafen bereitstehen, um die ersten investigativen Fragen zu
stellen, sind auch das Rote Kreuz, der Zivilschutz und Mitglieder von
Praesidium, Ärzte ohne Grenzen und Terres des Hommes sowie der Bürgermeister
und der stellvertretende Polizeichef von Pozzallo vor Ort.
Nur wenige
Meter entfernt, wird in der Zwischenzeit das Erstaufnahme-Zentrum geräumt, um
Platz für die Neuankommenden zu schaffen. Aus diesem Grund finden die
Identifizierungsmaßnahmen heute nicht wie üblich am Hafenbecken statt und
kostet so weitere Zeit. Die Busse, die für den kurzen Transport bereitgestellt
wurden, kommen im 20 Minuten Takt und sorgen so für eine zusätzliche
Verzögerungen der Wartezeit. Die Frauen, Männer und Kinder die zwischenzeitlich
das Schiff verlassen, bedecken ihre Köpfe mit Stoffen und Tüchern, um sich vor
der Sonne zu schützen. Langsame Gesten, starre Blicke und gleichmütige
Gesichter stehen im eindeutigen Widerspruch zum atemlosen und oft nervösen
Ausdruck jener, die sie „empfangen“. Nachdem die Migranten den Tod eines
Mitreisenden mitansehen mussten, folgen sie
sprachlos dem Weg, der ihnen angezeigt wird. Wer sie sehen kann
versteht, wie unvorstellbar und beschämend es ist, sich an Szenen wie diese zu
gewöhnen und vielleicht bräuchte es einen Moment des Schweigens, um all das zu
überdenken was wir fortdauernd hören, glauben und machen.
Lucia Borghi
Borderline
Sicilia
Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner
Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner