Vor zwei Tagen hat die europäische Kommission die dringend erwartete neue Agenda ihrer Migrationspolitik bekanntgegeben. Hauptgewicht liegt in der Verstärkung der Frontexmissionen und dem Kampf gegen die Schlepperbanden. Dafür und für verstärkte Kontrollen der Küsten sollen mehr Finanzen zur Verfügung gestellt werden.
Es wurden auch Vorschläge unterbreitet was die Um- und Neuansiedlung der Migranten in den verschiedenen europäischen Ländern betrifft. Die Implementierung dieser Protokolle soll am Ende dieses Monats noch einmal überprüft werden. Was das Dublin Abkommen betrifft, in Anbetracht der massiven Zunahme der Flüchtlingsströme eines der wichtigsten Abkommen der europäischen Migrationspolitik, ist lediglich der vage Wunsch nach seiner Revision formuliert worden – substanzielle Lösungen wurden keine beschlossen.
Aber die Migranten brechen ihre Suche nach einem besseren Leben nicht ab. Heute sind zwei Boote an der Ostküste Siziliens gelandet: in Augusta sind auf demr MOAS Boot, die mit MSF zusammenarbeitet, 477 Flüchtlinge von Bord gegangen; am gleichen Nachmittag ist ein englisches Schiff in den Hafen von Catania eingelaufen mit 617 Passagieren an Bord.
Hunderte Männer, Frauen und Kinder aus Syrien, Eritrea, Somalia werden ihre Reise nach Norden fortsetzen, wie ihre Landsleute, die ihnen vorausgegangen sind.
In letzter Zeit haben ihre Fluchtgeschichten auch in der lokalen Presse mehr (aber immer noch zu wenig!) Aufmerksamkeit gefunden, auch wennn sie nur eine begrenzte Aufmerksamkeit bekommen und die Themen sich fokussieren auf Gewalttaten und Ausbeutung. Sie berichteten von einer Gruppe von Leuten aus Pakistan, Äthiopien, Eritrea und Marokko, die seit Monaten Entführungen ihrer Landsleute organisieren und von deren Familien Lösegeld erpressen für eine sichere Weiterreise nach Norditalien.
Es wurde auch über den dramatischen Fluchtversuch eines Nigerianers berichtet. Er hatte am Bahnhof einen Fahrschein nach Catania gekauft und Aufmerksamkeit erregt, durch eine wütende Auseinandersetzung mit dem Kontrolleur, aus Angst identifiziert zu werden.
Die Medien beschränken sich darauf, Europa an seine Verantwortung in der Bewältigung des Phänomens „Migration“ zu erinnern, ohne zu reflektieren, was in unserem eigenen Land geschieht. Die sogenannte “Aufnahmemaschinerie”, die durch das jahrelang verfolgte, beschämende Konzept des “Notstandes” entstanden ist, ist bis heute ein unorganisiertes, konfuses System ausser Kontrolle. Es fehlt ganz offensichtlich am wahren Willen zur Veränderung seitens der politischen Institutionen und eines großen Teils der beteiligten Akteure.
Die strandenden Migranten wollen nicht in Italien bleiben, doch sie bleiben die bevorzugte Zielscheibe von Rassisten und wohlmeinenden Organisatoren von Massnahmen einer sterilen Wohlfahrt. Denn sie lassen sich nicht unterkriegen, nachdem sie ihre Leben bereits bei der Überfahrt riskiert haben. Sie setzen ihre Reise fort in der Hoffnung einen Ort zu finden, an dem sie ihre Zukunft aufbauen können. Sie wollen nicht länger in überfüllten Aufnahmezentren bleiben sondern wünschen sich individuellen Schutz. Sie misstrauen der Fähigkeit und dem politischen Willen in Bezug auf die Aufnahmeprozeduren in unserem Lande, einem Land das auf der einen Seite den Menschenhandel verurteilt und wo andererseits im CARA* von Mineo eine Menschenhändlerzelle aufgedeckt wurden. Sie verteidigen ihr Recht auf Wahlfreiheit mit einer Kraft, die uns oft fehlt.
Auf dem Platz gegenüber des Bahnhof von Catania versammeln sich seit Wochen die Flüchtlinge aus Eritrea und Somalia, die Italien verlassen wollen. Sie kommen aus Syrakus nach ihrer Ankunft in Augusta, aus Pozzallo, aus Palermo und sogar aus Kalabrien und warten hier auf die Möglichkeit ihre Reise fortzusetzen. Catania ist zur Drehscheibe für die nach Norden reisenden Flüchtlinge geworden.
In Syrakus treffe ich anfangs dieses Monats D: “Für mich ist es keine Frage. Mein Cousin lebt in Großbritanien. Ich musste den Weg über Libyen und übers Meer nehmen, um zu ihm zu gelangen. Ich werde meine Reise sicher nicht in Italien beenden.“
Die gleiche Entschiedenheit charakterisiert auch die jungen Eritreer auf dem Bahnhofplatz: „ Keiner hier will bleiben. Wir versuchen nur, den sicherst möglichen Reiseweg zu finden.“ Er spricht im Namen seiner Reisegefährten, die kein Englisch sprechen. „Wir wissen noch nicht, ob wir im Bus weiterreisen oder ob uns jemand in seinem Auto mitnimmt. Wir warten.“
Die grosse Zunahme der Migranten in den letzten Wochen hat die Empfangseinrichtungen des Caritas Help Center an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit gebracht. Die Verteilung von Gratismahlzeiten reicht nicht mehr aus, um alle Anwesenden zu versorgen. Es gibt nicht mehr genügend Kleider und es hat nicht genug Duschen und Toiletten. Auf der nahen Piazza Repubblica übernachten Dutzende von Flüchtlingen, unter ihnen viele Frauen und Kinder. Einige haben Zettel dabei mit Namen und Telefonnummern in verschiedenen italienischen Städten: Mailand, Rom, Bologna. Und um sie herum ein Netz von kleineren und grösseren Ausbeutern, die enorme Summen verlangen für eine Weiterreise durch den Stiefel nach Norden. Einige von ihnen waren wahrscheinlich in einer ähnlichen Lage vor ein paar Jahren und jetzt bereichern sie sich auf Kosten ihrer Landsleute, die ihnen gefolgt sind. „Wir wissen, dass in Italien kein Platz für uns ist. Aber wir können es uns nicht leisten hier ein paar Jahre untätig zu warten“, gesteht uns C. “Viele von uns haben Verwandte und Freunde in Europa und wollen zu ihnen. Jeder soll entscheiden, wo er leben will, oder nicht?“ Das wäre die Frage, mit der sich die europäische Komission beschäftigen müsste. Aber auch dieses Mal scheint nichts in dieser Richtung zu geschehen.
Lucia Borghi- Borderline Sicilia Onlus
*CARA: Centro di accoglienza per richiedenti asilo: Aufnahmezentrum für Asylsuchende
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Tassé Tagne