Der Jugendliche, der am 10. April (Il Fatto Nisseno) auf der Provinzstrasse der Gemeinde Pian del Lago überfahren wurde, hat es nicht geschafft. Er ist am 20. April in der Intensivstation des Hospitals Sant’Elia in Caltanissetta gestorben. Von dieser Nachricht haben wir über inoffizielle Quellen erst 10 Tage später erfahren. Kein offizielles Organ hat die Nachricht verbreitet. Weder das Polizeipräsidium noch die Provinzbehörden haben den Tod eines Asylbewerbers gemeldet, der auf der Provinzstrasse, die das staatliche Empfangszentrum und das Immigrationsbüro des Polizeipräsidiums mit dem Zentrum von Caltanissetta verbindet, durch einen Unfall lebensgefährlich verletzt wurde.
Es ist in der Tat eine gefährliche Strasse, ohne Gehsteig, ohne Beleuchtung, auf der schon andere Fussgänger (alle Asylbewerber aus dem Aufnahmezentrum) angefahren wurden.
Mohammed war 29 Jahre alt und kam aus Pakistan. Er hielt sich seit ein paar Monaten in Caltanissetta auf, wo er bei seiner Ankunft seinen Asylantrag gestellt hatte. Er lebte in einer Hausruine gleich neben dem Aufnahmezentrum für Asylbewerber, um während der 3 Tage der Woche, an denen die Plätze in der Unterkunft für die Personen auf der Warteliste zugeteilt werden, vor dem Eingang präsent zu sein. Am 10. April wurde er auf der gefährlichen Strasse von einem Auto angefahren.
Darauf folgten Tage, in denen über seine schwerwiegenden, lebensgefährlichen Verletzungen nichts bekannt wurde. Erst als einige seiner Landsleute eine Gedenkfeier für ihn organisierten, bevor sein Leichnam in sein Heimatland überführt werden sollte, erfuhr man von seinem Tod.
In Abwesenheit und dem Schweigen der amtlichen Institutionen haben seine Freunde und Bekannten eine Gedenkfeier zum letzten Abschied von Muhammed organisiert – auf dem Parkplatz vor dem Stadion. Kein Behördenvertreter war präsent, kein Wort der Anteilnahme an seine Freunde, kein Repräsentant der Regierung von Caltanissetta hat teilgenommen – an der Gedenkfeier, die 30 m entfernt vom Eingang des Asylbewerberzentrums stattgefunden hatte. An diesem Tor fand sich Muhammed seit Wochen ein, um eine Aufnahme im Zentrum zu erhalten.
Es waren viele gekommen zu dieser Gedenkfeier, nicht nur Pakistaner. Wie im Communiqué des “Sportello Immigrati”, dem “Schalter für Migranten” zu lesen ist: „ Es waren auch viele Afrikaner und Afghanen da. Die ganze Welt war da, nur Italien fehlte.“
Auch viele, die Muhammed nicht persönlich gekannt hatten, nahmen an der Zeremonie teil, aus Mitmenschlichkeit, die aber nicht selbstverständlich zu sein scheint. Die Anteilnahme der vielen Anwesenden ist gross. Sie leben auch im Zentrum oder in der Umgebung in verlassenen Häusern. Sie wissen um die Gefahr dieser Strasse, die jeder von ihnen auch benützt auf dem Weg in die Stadt.
Die einzigen italienischen Staatsbürger, die mit ihrer Gegenwart den Schmerz über die Ungerechtigkeit dieses voraussehbaren Unfalles mittrugen, waren die Repräsentantinnen des „Sportello Immigrati“ und eine frei arbeitende Journalistin.
Während der mehrstündigen Zeremonie, die Ankunft des Sarges hatte sich verzögert, haben lediglich einige Journalisten vorbeigeschaut, aber Behördenvertreter haben sich nicht blicken lassen.
In der Trauer über diesen Tod und des Eindrucks der Verlassenheit durch das beunruhigende Schweigen der Behörden stellen wir uns bittere Fragen:
In diesem Fall können wir nicht Schlepper bezichtigen, oder militärische Missionen benennen, als schuldige Komplizen am Tod von Migranten, die die Festung Europa erreichen wollen. Denn das dient ja nur dazu, von den wirklich Verantwortlichen der italienischen Migrationspolitik auf staatlicher und regionaler Ebene abzulenken. Aber: wo liegt nun die Verantwortung für das, was geschieht mit den Asylbewerbern, die am Rande unserer Gesellschaft leben müssen – ohne die geringste Garantie für die Rechte unserer Staatsverfassung, für die Einhaltung der Konventionen unseres Gemeindelebens und für die Einforderung der internationalen Erklärung der Menschenrechte?
Wer trägt die Verantwortung für die inakzeptable Entfernung des Aufnahmezentrums und des Immigrationsbüros vom Stadtzentrum, das nur über eine gefährliche 5 Kilometer lange Strasse, ohne öffentliche Transportmittel, ohne Beleuchtung und ohne Gehsteig erreichbar ist… die örtlichen Behörden, die staatlichen Behördenvertreter in der Region, oder die Betreiber der Zentren?
Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen und trotzdem fragen wir: wann werden die oben erwähnten Institutionen die geeigneten Vorkehrungen treffen, um die Sicherheit und die körperliche Unversehrtheit dieser hundert Personen zu garantieren, die im Aufnahmezentrum in Pian del Lago leben und deshalb diese Straße nehmen müssen?
Und noch mehr Fragen: nach diesem voraussehbaren und darum vermeidbaren tödlichen Unfall - welches ist die Verantwortung des Innenministeriums, das Aufnahmezentren für hunderte von Asylbewerbern an den Stadträndern ohne öffentliche Verkehrsverbindungen einrichtet? Und das Polizeipräsidium, das auch das Immigrationsbüro dorthin verlegt, so dass alle auf dem Weg dorthin ich eine gefährliche Strecke zurücklegen müssen – ist es nicht auch verantwortlich?
Wer trägt die Verantwortung für die übliche Praxis, Asylbewerber wochenlang in Camps schlafen zu lassen, bevor sie in einem Zentrum aufgenommen werden – in ein System, das sich seit 25 Jahren auf die „Notfallsituation“ beruft?
Was denkt sich die Präfektur dabei, wenn sie in den Bestimmungen für die Betreibung eines Aufnahmezentrums nicht ein öffentliches Verkehrssystem einrichtet für dessen Bewohner - und das bei einem dreijährigen Budget von 18 Mio Euro?
Was liegt in der Verantwortung der Betreiber eines Zentrums, die den Gästen nicht ermöglichen, aus der lokalen und sozialen Isolation auszubrechen, in der sie sich befinden?
Warum stattet die Gemeindeverwaltung eine Strasse, die täglich von hunderten Personen benützt wird, nicht mit Beleuchtung, Gehsteigen und der Anbindung an den öffentlichen Verkehr aus? Ausserdem entstehen in jenem Gebiet Sportplätze, die bis jetzt nur mit privaten Transportmitteln erreicht werden können.
Wir machen uns weiter folgende Überlegungen: die Untätigkeit der Institutionen hängt wohl damit zusammen, dass die Beachtung der Menschenrechte in unserer Asylpolitik unzureichend ist. Das staatliche Aufnahmezentrum in Pian del Lago besteht seit 1998. Warum wurde in all diesen Jahren nichts zum sicheren Betrieb dieser Institution gemacht und warum war am letzten Donnerstag kein Regierungsvertreter anwesend?
Was wäre geschehen, wenn durch all diese Versäumnisse ein italienischer Staatsbürger umgekommen wäre? Welche Rolle hätten die Regierungsvertreter in diesem Fall gespielt und welche Worte hätten sie gefunden in Anbetracht eines ungerechten Todes? Welche Rolle hätte die Presse, hätten die Gemeindeverbände und die Mitbürger gespielt?
Bei all den Fragen taucht eine immer wieder auf: wie ist es möglich dass seit Jahrzehnten eine Immigrationspolitik betrieben wird, die zwischen Menschen der Kategorie A und solchen der Kategorie B unterscheidet? Und das in Missachtung unserer Staatsverfassung, die allen Menschen Gleichbehandlung garantiert – die die Institutionen beauftragt, soziale und oekonomische Hindernisse zu beseitigen um die Würde, Entwicklung und Gleichwertigkeit aller zu garantieren.
Diese fundamentalen Prinzipien unserer Gesetzgebung werden zu oft nicht beachtet, wenn es um die Schwächsten geht, eben wie hier um die Asylbewerber.
Giovanna Vaccaro
Borderline Sicilia Onlus
Aus dem Italiensichen von Susanne Tassé