Von meltingpot
Alessandra Sciurba
Alles beginnt mit dem Tod von Zaher Rezai in Via Orlanda in Mestre [Stadtteil Venedigs] am 11. Dezember 2008. Ein afghanischer Junge der sich alleine, nach Monaten der Reise und 9.000 km Strecke, am Hafen in Patras, wie viele andere Minderjährige, versteckt unter einem Lastwagen auf einem Schiff begeben hatte, um den Gräueltaten in Griechenland zu entfliehen. Ein Land das bereits vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für seine inhumane und erniedrigende Behandlung von Migranten verurteilt wurde und in dem es unmöglich ist ein internationales Schutzgesuch zu stellen.
Aber auch in Italien angekommen konnte Zaher Rezai sich nicht offenbaren, denn er wusste, dass man vom Hafen in Venedig, wie von jenen in Ancona, Bari und Brindisi zurückgeschickt wird. In einer eisernen Kajüte, ohne Essen und Wasser, der griechischen Polizei in die Hände gegeben und dann in die Türkei zurückgeschickt. Und von dort aufs Neue in den afghanischen Albtraum. Also versteckte sich Zaher unter dem LKWs bis dieser das Schiff verließ und sich langsam vom Hafen entfernte. Die kleinen Hände festgekrallt unter dem Boden des LKW's: Er schafft es nicht, rutscht ab und wird überrollt. In seinen Taschen vier Gummitierchen und einige schöne Gedichte: Gärtner, öffne die Türen des Gartens, ich bin kein Blumendieb.
Die venezianischen Organisationen des Netzes „Tutti i diritti umani per tutti” (Alle Menschenrechte für Alle) wussten schon aus vielen Erzählungen von dem, was an den Häfen passierte. Das wusste auch die 'Botschaft der Rechte' von Ancona, die sich zusammenschloss, wenn auch ungehört von allen Institutionen, um anzuklagen.
Am 19. Dezember 2008 schreiben die venezianischen Organisationen einen offenen Brief an alle Organisationen, die an der Aufnahme der Asylbewerber am Hafen von Venedig beteiligt sind. Darin fordern sie diese auf, jeden Auftrag abzulehnen, wenn nicht vorher Mindestkriterien um den Schutz der Flüchtlinge zu garantieren, neu ausgehandelt worden ist. Der italienische Flüchtlingsrat (CIR) akzeptiert den Auftrag trotzdem und betreibt über Jahre seine Vertretung am Hafen von Venedig (doch nach kurzer Zeit fängt er an auch öffentlich die vielen Schattenseiten anzuprangern, mit denen er gezwungen ist zurecht zukommen).
Das Blut von Zehar jedoch, auf jener Straße von Mestre, verlangt danach etwas anderes zu tun: Sich aufzumachen, den Spuren der Abgeschobenen in entgegengesetzter Richtung zu folgen, sie zu finden, ihnen einen Stimme zu geben. Die stummen Zurückgestoßenen suchen gehen, sie sprechen zu lassen und ihnen eine Stimme zu geben und sie damit zu ermutigen, selbst gegen ihr Schicksal vorzugehen. Die Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) funktioniert nämlich nach folgendem Prinzip: Es muss das Opfer selbst sein, dass die Klage einreicht, es sind unterschriebene Vollmachten nötig. Mit einigen wenigen starten wir also mit der Idee im Kopf, es den Abgeschobenen zu ermöglichen sich an den Europäischen Gerichtshof in Straßburg zu wenden. An meiner Seite sind Anna Milani und Basir Ahang, politischer Flüchtling und afghanischer Journalist. 2009, wir kommen nach 37 Std. Schiffsreise in Patrasso an. Mithilfe von Kinisi, einer Vereinigung von Aktivisten vor Ort, treffen wir sofort Tausende von Afghanen, die in ein informelles Lager am Rande der Stadt verbannt wurden. Wenige Monate später wird es von der Polizei in Brand gesetzt werden. Dort finden sich auch Sudanesin und Eritreer ein, die die Ostroute wählten, um der Folter in Libyen und dem Friedhof Mittelmeer zu entkommen.
Sich in Patras fortzubewegen, ist jedoch schwierig. Wir wurden in Sichtweite von der griechischen Polizei verfolgt. Stundenlang mit dem Vorwurf des internationalen Drogenschmuggels angehalten, nur weil wir mit Migranten geredet hatten. Man ließ uns dank des Einschreitens des Netzwerkes griechischer Anwälte wieder gehen, dass wir vorbeugend vorher kontaktiert hatten, um uns die Unterschriften die wir sammeln wollten beglaubigen zu lassen. Wir flüchten also in das Flüchtlingscamp und bleiben dort tagelang.
Wir erklären den Geflüchteten dort, was wir vorhaben und schon nach kurzer Zeit gewinnen wir ihr Vertrauen. Es regnet die gesamte Zeit, die wir dort verbringen. Aber vor der Hütte aus Holz und Planen, die von den Migranten errichtet wurde und in der sie uns nun beherbergen damit wir ihre Geschichten und ihre Vollmachten aufnehmen können, hat sich eine Schlange von Hunderten von Personen gebildet. Wir sammeln viele dieser Geschichten aber nur 35 sind vollständig, mit der nötigen Beglaubigung. Mit unserem Gepäck voller Hoffnung kehren wir nach Italien zurück. Wir folgen der Reiseroute von Patras nach Venedig.
In den Schiffsgaragen beobachteten wir die Fahrer, die sich vor der Ankunft frenetisch vergewissern, keine „illegalen Einwanderer“ an Bord zu haben. Am Hafen sehen wir die Polizei, die die LKWs in dafür vorgesehene, überdachte Zonen bringt, um sie dort zu kontrollieren. Sie benutzen ausgeklügelte Vorrichtungen um sie röntgen zu können, ungeachtet des Faktes, dass diese Systeme, sollten sich dort tatsächlich versteckte Personen befinden, erhebliche Gesundheitsschäden hervorrufen könnten. Wieder zu Hause holen wir die richtigen Personen dazu: Prof. Fulvio Vassallo Paleologo und die Anwältin Alessandra Ballerini aus Genua. Mit ihnen und mit dem Anwalt Luca Mandro aus Venedig, von der Organisation „Tutti i diritti umani per tutti“, wird die Klage vorbereitet und dann nach Straßburg geschickt. Dann beginnt das Warten. Ein viele Jahre andauerndes Warten, in dem die Sturheit der Anwältin Ballerini etwas heldenhaftes hatte.
'Presa Diretta' entscheidet in der Zwischenzeit diesen Rückschiebungen eine Sendung zu widmen. Gian Antonio Stella verfasst einen Leitartikel im 'Corriere della Sera', auf der ersten Seite. Aber auch wenn die Medien uns endlich zuhören, die Regierungsbehörden bleiben taub. In Venedig bitten wir um ein Treffen mit den Hafenbehörden, der Präfektur, der Grenzpolizei, aber niemand räumt die Illegalität der Rückschiebepraktiken ein. Obwohl der UNHCR (UN-Flüchtlingshochkommissariat), schon seit Jahren, mahnt Migranten nicht mehr nach Griechenland abzuschieben. Obwohl auch einige Stadträte der Kommune Venedig wie Gianfranco Bettini und Sandro Simionato, kommunale Abgeordnete wie Beppe Caccia, und der damalige Bürgermeister der Stadt, Massimo Cacciari, öffentlich Stellung in unserem Sinne bezogen hatten.
Gesteuert werden die Rückschiebungen von dem 'Lega Nord'-Anhänger Roberto Maroni, damals unter den Anweisungen des Innenministeriums. Er war bereits Urheber der Abschiebungen nach Libyen, auch jene waren vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt worden. Er sagte immer wieder, dass alles nach der Norm laufe: Und tatsächlich existiert es ein Protokoll auf das Jahr 1999 zurückgehendes Protokoll zwischen Italien und Griechenland, das die Rückschiebungen dem jeweiligen Kommandanten überlässt. Schade nur, dass wie wir immer schon angeprangert haben, dieses Papier durch seine offene Missachtung eines Großteils internationaler und der EU-Normen über die Menschenrechte und die Grenzen, nicht angewendet werden darf. Es ist komplett illegal.
Und dann, im April 2009, kommt die erste Antwort: trotz der Tatsache, dass die italienische und die griechische Regierung den Gerichtshof in Straßburg darum ersucht haben, die Klagen aufgrund von Zweifeln über die Identität der Beschwerdeführer für nicht zulässig zu erklären, nimmt der EGMR sie an.
Ein erstes außergewöhnliches Resultat für ein Vorgehen, welches gänzlich von unten kam, ohne große Organisationen oder Assoziationen im Rücken. Nur der Wille zu glauben, dass man vor einem so langwierigen Vergehen nicht rührungslos bleiben kann. Dass man es auch gegen die stärksten Kräfte, gegen die omertà (Schweigegelübde) und gegen den, der die Offensichtlichkeit leugnet, wagen muss.
Und heute haben wir gewonnen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verurteilt Italien und Griechenland für die Missachtung einiger grundlegender Rechte von 4 der 35 Beschwerdeführer, von den wir vor vielen Jahren in Patras die Geschichten und die Vollmachten sammelten. Die anderen wurden in diesen Jahren an Orte zurückgeschickt, wo es fragwürdig ist ob sie überlebt haben. Obwohl der EGMR Griechenland aufgefordert hatte, nach Artikel 39 der Menschenrechtskonvention, jede Abschiebung dieser Personen auszusetzen.
Das Urteil vom 21. Oktober verurteilt Griechenland folglich für die Missachtung des Artikels 13 EMRK (Recht nach einer erfolgreichen Klage) in Kombination mit Artikel 3 (Verbot von inhumaner und erniedrigender Behandlung) und Italien für die Missachtung des Artikels 3, „da die italienischen Behörden die Klagenden, durch die Rückführung nach Griechenland, den riskanten Folgen, die aus Fehlern im Asylverfahren resultieren, ausgesetzt haben.“ Italien wurde außerdem für die Missachtung des Artikels 13 in Kombination mit Artikel 3 und mit Artikel 4 des Protokolls 4, für das Fehlen von Asylverfahren oder anderen Möglichkeiten der Anrufung an den Häfen der Adria, verurteilt. Das Gericht, so ist in der Pressemitteilung die sofort nach dem Richtspruch erschien zu lesen, „teilt die Sorgen diverser Beobachter hinsichtlich der gegenwärtigen automatischen Abschiebungen durch die italienischen Grenzbehörden an den Häfen der Adria. Abschiebungen von Personen, die in den meisten Fällen sofort den Kommandanten gemeldet worden waren, um zurück nach Griechenland geschickt zu werden, die in solch einem Maße jeglichem angemessenen Asylverfahren und materiellen Rechten beraubt waren.“ Von morgen an müssen diese Rückschiebungen gestoppt werden, denn nach Jahren der Klage, nach all unseren Reisen in Griechenland, nach Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen, wurde das, was wir immer als Missachtung grundlegender Rechte angeprangert haben, offiziell anerkannt. Dies kann keine italienische Behörde mehr übergehen.
Jeder Kampf hatte einen Sinn, endlich. So die Kampagne 'Welcome. Es führt kein Weg zurück', die am 20. Juni 2010 eine internationale Proteste zwischen den italienischen und den griechischen Häfen initiierte, um gegen die Rückschiebungen zu demonstrieren. All die Klagen dieser Jahre hatten Sinn, auch die jüngsten, die veröffentlichten Berichte und Bücher, die öffentlichen Treffen mit hunderten von Personen. Die Streifzüge vieler Aktivisten durch die Häfen, die von der Grenzpolizei mit Festnahmen begrüßt wurden, mit Gewalt und mit Anzeigen. Auch die Gründung eines 'Antirassistischen Observatoriums' in Venedig hatte einen Sinn. Es war von dem Verein 'SOS Diritti' zusammen mit dem UNAR (Nationales Büro gegen rassistische Diskriminierung) und der Kommune gegründet worden, die Daten der Rückschiebungen am Hafen bat und diese auch erhielt.
Keinen, wirkliche keinen Sinn, hatten die vielen Toten Migranten die ein Recht ausübten und getötet wurden. So wie Zaher, von der italienischen Grenzen an der Adria.
Dieser kleine aber enorme Sieg gilt ihnen allen.
Aus dem Italienischen von Luisa Schilling & Niels Hölmer