“We’re Sirians, you know how we feel” (Wir sind Syrer. Ihr wisst, wie wir uns fühlen“. H. liest mir in meinen Augen meine Frage ab. Er erahnt sie und vernichtet sie mit einem Lächeln. Wir schauen uns eine gewisse Zeit lang gegenseitig an, als wir uns vor dem Eingang des permanenten Zeltlagers am Hafen von Augusta befinden. Dort ist gestern um zehn Uhr morgens das Militärschiff der Marine „Spica“ mit 507 Migranten an Bord, darunter 60 unbegleitete Minderjährige, angekommen. Sie sind, wie so oft, unterschiedlicher Nationalität: Syrien, Gambia, Nigeria, Somalia und Guinea. Die Rettung, die zunächst von dem Schiff „San Giorgio“ durchgeführt wurde, ist das Ergebnis von drei Einsätzen auf offener See.
Der Kommandant des Schiffs „Spica", Francesco Maiorana, erklärt uns, dass der Transfer der Migranten von der „San Giorgio“ wenige Meilen südlich von Lampedusa erfolgt sei. Auf der „San Giorgio“ sei eine Voridentifizierung der Ausländer seitens der am Board befindlichen Polizei sowie eine erste Gesundheitskontrolle erfolgt. Er kann uns keine weiteren Angaben über die exakte Position des Schiffes zum Zeitpunkt der Rettungsmaßnahme machen. Er betont aber, dass die körperliche Situation der Passagiere keine besonderen schwerwiegenden Auffälligkeiten ausweisen, außer Dehydratation, Müdigkeit und in wenigen Fällen Krätze. Die Abfertigungsprozedur bei der Anlandung dauert weniger als eine Stunde unter den behutsamen oder gelangweilten Augen der Polizeikräfte, der Präfekten, der Vertreter von verschiedenen Institutionen, die am Hafen ausnahmsweise aufgrund des Besuchs einer Delegation des Europäischen Parlaments anwesend sind: Die glänzenden Uniformen, mindestens vier Mitarbeiter je internationaler Organisation, die bei der Operation Präsidium involviert ist: Save the Children, OIM und UNHCR. Außerdem sind die Ärzte des Roten Kreuzes und die Mitarbeiter des Katastrophenschutzes von Augusta vor Ort, die immer anwesend sind und Schuhe sowie Wasserflaschen verteilen.
Zuerst verlassen Frauen und Kinder das Schiff. Diese sammeln sich nach und nach auf der Mole und werden dann in ein großes Zelt gebracht, das ca. 200 m von dem Schiff entfernt gelegen ist. Die Mitarbeiter von „Ärzte ohne Grenzen“ führen die Gesundheitskontrollen in einem gesonderten Zelt durch, während zwei Busse schon bereit sind, den Großteil der Neuankömmlinge mitzunehmen. Es steht nicht einmal ausreichend Zeit zur Verfügung, um zu essen. Die Lebensmittelvorräte werden in den Koffer gepackt. Die ersten beiden Busse, einer mit Syrern und einer mit Subsahara-Afrikanern, fahren in Richtung Hafenausgang. Es scheint, dass ihr Ziel der Flughafen von Catania ist, von dem aus sie teils nach Rom und teils nach Cagliari verbracht werden. Das Zelt ist jedoch noch zur Hälfte gefüllt. Es werden Brötchen, Äpfel und Wasser verteilt. L. kommt aus Nigeria. Er hat seine Heimat vor zwei Monaten verlassen und die Sahara durchquert, um sich in Libyen einzuschiffen. Er sitzt mit seinen Reisegefährten zusammen, und wir fragen einen Jungen aus Mali nach seinen Plänen. „Ich bleibe zunächst ein wenig in Sizilien und dann wird man weitersehen. Ich bin so glücklich, dass ich am Leben bin”, vertraut er uns lachend an. Etwas weiter weg sitzt eine Gruppe von syrischen Kurden, die uns anhalten und einige Wörter Italienisch sprechen: „Wir sind seit vielen, zu vielen Monaten auf der Reise. Wir sind von Syrien nach Istanbul, wo es nicht möglich war, zu bleiben. Wir hatten keine Möglichkeit, legal zu überleben, deshalb blieb uns nichts anderes übrig, als nach Algerien, dann nach Tunesien und nach Libyen reisen.” M. aus Gambia schafft es nicht, das Wort Libyen auszusprechen. „Ich bin aus Gambia vor einem Jahr geflohen, indem ich einer plötzlichen Polizeirazzia entkommen bin, während ich mit meiner Mannschaft Fußball gespielt habe. Weißt du, dass ich ein Fußballspieler bin? Zuhause habe ich alle italienischen Fußballspiele verfolgt. Ich bin mehrere Monate von Gambia nach Libyen gereist. Einmal angekommen, habe ich mich zwei Monate lang versteckt. Ich habe schwarz gearbeitet. Einige Männer haben mich morgens abgeholt, um mich auf die Baustellen zu bringen, und sie haben mich abends in meinen Unterschlupf gebracht. Und dann endlich die langsame Abreise. Sehr, sehr langsam. Tagelang hat unser Schiff versucht, loszufahren in Erwartung, das Schiff voll zu bekommen und um zu vermeiden, von anderen Menschenhändlern erpresst zu werden.” Unternehmenslustig nähern sich hingegen drei Jungen aus Somalia, sehr jung, die uns danach fragen, wie man nach Deutschland gelangt. „Wir haben dort Freunde und Verwandte. Das haben wir bereits der Polizei gesagt. Glaubst Du, dass sie uns aus Italien weglassen?” Eine Frage, die unbeantwortet bleibt, weil nach und nach alle in das daneben gelegene Zelt verbracht werden, während die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Gruppen unterteilt werden. Nur nach einigen Stunden schaffen wir es, zu erfahren, dass sie nach Catenanuova und Caltagirone in die Villa Montevago, verbracht werden, wie es auch die Tageszeitung Sette e Mezzo Magazine berichtet. Es handelt sich um eine Einrichtung, die nur einige Monate zuvor geschlossen wurde und deren Gäste in die Einrichtungen Ispica und Portopalo verbracht wurden. Eine Unterbringung, die daher mit großer Aufmerksamkeit überwacht werden muss. Sie wurde gleichzeitig mit dem Schließung der ehemaligen Verdi-Schulen in Augusta beschlossen, wo die meisten Minderjährigen, die am städtischen Hafen angekommen sind, beherbergt wurden. Diese sind nun in die Einrichtungen von Priolo und Melilli verbracht worden.
Dauernde Verlegungen und immer öfters stattfindende Ortswechsel in Städte außerhalb Siziliens, wie es den zuletzt in Pozzallo und Augusta angekommenen und sodann nach Cagliari verlegten Migranten passiert ist. Oder Verlegungen in andere Städte, in die Kaserne Bisconte von Messina, wo die letzte Gruppe von wartenden gebracht werden.
Hoffnungen und unterschiedliche Zukunftspläne, die Männer und Frauen, Jungen und Mädchen, dazu bewegt haben, ihres und das Leben ihrer Kinder auf dem Meer zu riskieren, auf Überfahrten und Umschiffungen, von denen man oft nur sehr wenig weiß. Migranten, die auch nachdem sie angekommen sind dafür kämpfen müssen, über ihre Zukunft selber zu entscheiden und um ihre eigene Stimme hörbar werden zu lassen.
Beatrice Gornati und Lucia Borghi
Borderline Sicilia Onlus
Aus dem Italienischen von Thanh Lan Nguyen-Gatti