Die Landungen an der sizilianischen Küste gehen unvermindert weiter. Allein letzte Woche sind am Hafen von Augusta ungefähr 750 Migrant_innen aus unterschiedlichen Gegenden Afrikas angekommen, darunter ca. 100 Minderjährige. Angesichts der Überfüllung und der Probleme im Management in den meisten auf die Provinzen der Insel verteilten Aufnahmezentren ist es schwer nachzuvollziehen, wohin die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge derzeit gebracht werden. Ich habe mich daher entschieden, einige Zentren in der Region Syrakus zu besuchen, um einen Eindruck von der derzeitigen Situation zu bekommen.
Meine erste Station führt mich in das Instituto Don Oriono de Floridia, Gegenstand des Skandals vor einigen Wochen, als mehrere minderjährige Flüchtlinge aus einer Einrichtung abgehauen sind, weil sie gemeinsam mit Menschen mit psychischer Krankheit untergebracht waren. Am Eingangstor treffe ich auf einen Mitarbeiter der Einrichtung, der mir mitteilt, dass seit einem Monat keine minderjährigen Flüchtlinge mehr untergebracht seien. Er kann mir nicht sagen, wohin sie gebracht wurden. „Sicherlich wurden manche nach Trapani gebracht“, sagt er, „ich glaube, die anderen in die übrigen Zentren in der Gegend.“ Weiteres erfahre ich nicht. Allerdings kann der Fakt, dass junge Menschen aus einer völlig unangemessenen Aufnahmesituation herausgeholt wurden, als ein Erfolg gewertet werden.
Von dort bin ich weiter zum Zentrum „Papa Francesco” für minderjährige Flüchtlinge in Priolo gefahren, das sich in der Straße Contrada Mostringiano befindet. Direkt hinter dem Tor treffe ich auf Personal von Terre des Hommes. Ein Mitarbeiter gibt einem jungen Migranten Italienischstunden, der Junge folgt aufmerksam. Ich durchquere den großen Park, wo Kinder in Gruppen unter den Bäumen liegen und Schutz vor der stechenden Sonne suchen. Sie scherzen mit einem Mitarbeiter, der mich zum Direktor der Einrichtung, Daniele Carozza, bringt. Dieser versichert mir, dass sich seit dem letzten Besuch von Borderline Sicilia am 28. Juli 2014 die Situation kaum verändert habe. „Seit Ende Juni sind keine neuen Jugendlichen angekommen“, erklärt der Direktor. „Im Moment beherbergen wir 70 Jugendliche (im Vergleich zu 93 beim letzten Besuch), da einige in SPRAR Zentren gebracht wurden, andere wiederum sind mittlerweile volljährig und sind in Strukturen für Erwachsene übergeben worden.“ Daniele erzählt, dass trotz der unverändert langwierigen bürokratischen Prozesse und der mangelnden finanziellen Ressourcen die Kommune von Augusta weiterhin die Unterstützung für das Zentrum garantieren sollte, da sie sich langsam den Vorgaben annähern: „75% der Jugendlichen wurde ein Vormund vermittelt“, erläutert er, während er auf eine Tabelle zeigt, in der die Situation von jedem einzelnen Jugendlichen aufgeführt ist. Ich verlasse das Zentrum unter den neugierigen Blicken der Jugendlichen und mache mich auf den Weg nach Augusta.
Die Schulen Giovanni Falcone in Augusta, aufgrund der abblätternden grünen Farbe besser bekannt als die "Grünen Schulen", präsentierten sich mir bei meiner Ankunft in der Via Dessiè in ihrem bekannten runtergekommenen Zustand. Junge Migranten betreten und verlassen ungestört die Einrichtung. Manche ziehen es vor, ihre Stühle unter die Bäume auf den Hof zu stellen und sich dort zu unterhalten. Auf der Betonplattform, die mal ein alter Basketballplatz gewesen sein könnte, sehe ich eine Reihe von Liegen, Kinder schlafen an den Außenwänden des Gebäudes und eine kleine Gruppe betet in der Sonne. Einer der Mitarbeiter erklärt mir später, dass einige Jugendliche ihr Bett rausgestellt haben, um weniger unter der Hitze im Gebäude zu leiden. Mich grüßt ein junger Mann aus Gambia, der sagt, dass er vergangene Woche angekommen und dass er 16 Jahre alt sei. Nach wenigen Minuten fragt er mich: „Kannst Du mir helfen? Ich brauche einen Vormund!“ Es fällt mir nicht leicht, ihm zu erklären, dass es einige Zeit dauern wird und ihn davon zu überzeugen Vertrauen zu haben, während ich die Hoffnung in seinen Augen erlöschen sehe. Ich gehe in das Foyer der Schule, dort stehen Jugendliche in einer Reihe für ihr Mittagessen an (Nudeln mit Tomatensoße, Hühnchen und ein Apfel). Das Essen erhalten sie in Kartons, eine Person aus jedem Zimmer bekommt stellvertretend für alle das ganze Essen und verteilt dieses auf die anderen Bewohner. Ich sehe überall junge Menschen unterschiedlicher ethnischer Hintergründe und nur zwei Mitarbeiter, die versuchen, möglichst schnell die Jugendlichen zu versorgen. Als sich das Gedränge vor der Essensausgabe auflöst, kann ich mit den beiden Angestellten der Kommune sprechen, die, wie sie mir erklären, jeden Tag von 8:00 Uhr bis 22:00 Uhr im Dienst sind. Die Situation erscheint unverändert zum letzten Bericht von Borderline Sicilia am 31. Juli 2014: Die Mitarbeiter haben eine menschliche Beziehung zu den Jugendlichen aufgebaut, geprägt von gegenseitigem Vertrauen und Respekt. Das Missmanagement des Zentrums garantiert jedoch keine angemessene Aufnahme der Jugendlichen, von denen viele sehr jung sind. Die Mitarbeiter teilen mir mit, dass das Zentrum derzeit 123 minderjährige Flüchtlinge im Alter zwischen 13 und 17 Jahren betreue, wobei am vergangenen Tag weitere 23 Ägypter hinzugekommen seien. Sie sind sofort bereit, mir die Speisekammer mit den für die Jugendlichen bestimmten Lebensmitteln zu zeigen, die von einer von der Kommune unabhängigen Kooperative geliefert werden. Ebenso zeigen sie mir die zehn Zimmer, verteilt auf zwei Stockwerken, in denen die Jugendlichen schlafen. Im Gebäude befinden sich nur zwei Bäder. „Wir versuchen die Jugendlichen nach ethnischen Gruppen auf die Zimmer zu verteilen“, erklärt mir einer der beiden Mitarbeiter. „Im Moment wohnen in dem Zentrum Jugendliche aus Ägypten, Mali, Gambia, der Elfenbeinküste, Senegal und Nigeria, und Streit unter ihnen ist nicht selten.“ Ich schließe aus dem Gesehenen, dass die Kinder angesichts des Missverhältnisses in der Betreuung oft im Stich gelassen werden. Die Mitarbeiter bestätigen mich: „Die Jugendlichen haben einen klaren Zeitplan für die Essen und sollen bis 22 Uhr zurück im Zentrum sein“, erklären die Mitarbeiter mit Verweis auf eine Tabelle, die an der Wand befestigt ist. „Aber nach 22 Uhr sind die Jugendlichen völlig alleine. Die Polizei hält zwar außerhalb des Gebäudes Wache, übt aber keine effektive Kontrolle im Zentrum aus.“ Wir sprechen noch eine Weile miteinander während einige Jugendliche an die Tür des Lagerraums klopfen und um eine zweite Portion Essen oder Wasser bitten. „Es ist schwer zu überprüfen, ob sie bereits ihre Ration hatten oder nicht. Manchmal passiert es, dass den Schwächeren ihre Portion weggenommen wird. Dann versuchen wir sie zu schützen.“
Als ich das grüne Gebäude verlasse, treffe ich auf den jungen Gambier, der auf der Suche nach einem Vormund war. Er versucht gerade, mit dem Inhaber der Bäckerei neben der Schule ins Gespräch zu kommen. Es ist Gino Giuffrida, Gastronom und Fußballtrainer, der seit einigen Monaten einige der besten Fußballer unter den Migranten aus der Grünen Schule ausgewählt und die Mannschaft auf den dritten Platz der lokalen Liga geführt hat. „Ich habe auch einige zum Vorspielen bei lokalen Mannschaften begleitet. Einer spielt jetzt bei Modica und drei sind gerade im Auswahlprozess von Syracusa Calcio.“ Die Leidenschaft einer Person, die sich engagiert, weil wie sie überzeugt ist, dass auch diese Jugendlichen ihre Träume realisieren sollten, ermöglicht es, die Verbitterung der Jugendlichen, die durch die tägliche Konfrontation mit ungenügenden Strukturen erwächst, zumindest teilweise abzumildern. Und vergessen wir nicht, diese Strukturen haben Auswirkungen auf Tausende Männer, Frauen und Kinder haben.
Beatrice Gionati
Borderline Sicilia Onlus
Aus dem Italienischen von Elias Steinhilper