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Donnerstag, 6. März 2014

Das Aufnahmezentrum für Asylantragssteller von Mineo: Symbol des Scheiterns

von Elio Tozzi, ­ scienzaepace.unipi.it

Das Aufnahmezentrum für Asylantragssteller von Mineo, in der Provinz Catania (Sizilien) ist Symbol für das katastrophale italienische Aufnahmesystem. Versunken in den Feldern der Ebene von Catania und  weit  weg  von  bewohnten  Orten  liegt  die  ehemalige  Residence  degli  Aranci  (Residenz  der Orangenbäume), einst luxuriöse Residenz für die Familien der auf Sigonella (Militärflugplatz der US Navy und der italienischen Luftwaffe) stationierten Soldaten und heute das größte Aufnahmezentrum für Asylantragssteller (CARA) Italiens und Europas. Im März 2011 plötzlich aus den Boden gestampft für die sogenannte „Emergenza Nord Africa“ (Notstand Nordafrika), galt das CARA  von Mineo  von Anfang  an  als  ganzer  Stolz  der  Aufnahme  all'italiana,  als  Exportmodel  für  ganz  Europa.
Zugleich wurde  es  auch  als  „Ghetto“,  „vergoldeter  Käfig“,  „5  Sterne­Hölle“  oder  „Vorhölle“  bezeichnet. Obwohl das CARA seit seiner Eröffnung offiziell über zweitausend Aufnahmeplätze verfügt, sind dort derzeit ungefähr viertausend Asylantragssteller untergebracht.

1.  „Emergenza Nord Africa“: die Idee zum „Dorf der Solidarität“
Ende  2010  löste  die  „Jasminrevolution“  in  Tunesien  einen  Domino­Effekt  auf  die  ganze  Maghreb Region, sowie auf den Nahen und Mittleren Osten aus. Jene Revolutionen brachten das geopolitische Bühnenbild  des  gesamten Mittelmeerraums  durcheinander  und  beeinflussten,  aufgrund  ihrer geografischen Lage, zwangsläufig auch Italien. Ab Februar 2011 waren die Insel Lampedusa sowie auch die  Insel  Malta  einem  beträchtlichen  Strom  von  Ankünften ausgesetzt, Boote, die zu  Beginn  von  der tunesischen Küste abfuhren. Heute  können wir mit Gewissheit  bestätigen was  bereits  vor  nunmehr zwei Jahren deutlich zu erkennen war: die katastrophale Szenerie, angedroht von der zu jener Zeit im Amt tätigen Regierung und entsprechend unterstützt vom Geplauder in den nationalen Fernsehkanälen, war übertrieben und wahrscheinlich zielgerichtet, um die Idee eines nie da gewesenen Notstandes zu erschaffen. Auf der einen Seite rechtfertigte sie die Anwendung außerordentlicher Handlungen, die es ermöglichten geltende Regeln zu umgehen, auf der anderen Seite stand sie für politische Willensstärke, die sich der  illegalen Einwanderung widersetzte.

Der erste Schritt in diese Richtung war die Verabschiedung des Dekretes des Ministerpräsidenten vom 12.  Februar  2011 (D.P.C.M  del  12 febbraio  2011)  vollendet.  Dieses  Dekret rief  „den  Notstand  in Bezug  auf  den außergewöhnlichen  Zustrom  von  Staatsbürgern  nordafrikanischer  Staaten, auf nationalem  Gebiet“  aus. Hierzu  ist  es  notwendig  daran  zu  erinnern,  wie  von  Anfang  an  auf  den Unterschied  zwischen  tunesischen  Staatsbürgern  –  die  oft  als  „clandestini“  (Illegale)  und  seltener  als „Wirtschaftsmigranten“ bezeichnet wurden und so schnell wie möglich abgeschoben werden sollten – und  allen  anderen  „Flüchtlingen“,  die  möglicherweise  Anrecht  auf  internationalen  Schutz  haben, hingewiesen wurde. Die Kriminalisierung und der Ge­ und Missbrauch des Ausdrucks  „clandestino“ zeigen eine Konstante in der jüngsten Einwanderungspolitik. In diesem Fall hat sie zu einer schnellen und  automatischen Ausgrenzung  der Tunesier  aus  der Kategorie  der  potenziellen Antragssteller  auf Internationalen  Schutz  geführt.  Schließlich  wurde  am  18.  Februar  2011 die  Verfügung  des Ministerpräsidenten  Nr.  3924  (O.P.C.M  n  3924)  erlassen, welche  „die  dringende  Verfügung  des Zivilschutz, zur Bewältigung des humanitären Notstands“ enthält.  Artikel 1 des Erlasses ernannte den Präfekten von Palermo, Giuseppe Caruso, zum bevollmächtigten Kommissar. Dieser hatte somit für die Realisierung folgender Punkte  zu sorgen: 
a) Bestimmung  der Tätigkeitsprogramme, auch  vorläufige Pläne,  zur  Überwindung  des  Notstandes; 
b) Zählung  der  auf  italienischem  Territorium  gelandeten nordafrikanischen Bürger;
c) Treffen von Maßnahmen, die sich darauf konzentrieren Einrichtungen und Zonen  zur  Verwaltung  des  Notstandes  zu  identifizieren  und  auszustatten,  sowie  bestehende Einrichtungen ausbauen.

Es ist interessant zu beobachten, dass der Ministerialerlass Nr. 3925 (O.P.C.M. n. 3925), der nur fünf Tage  nach  Erlass  Nr.  3924  verfügt  wurde,  in  Artikel  17  eine  Reihe  von  bedeutenden  Änderungen einführt.  Die  Einfügung  unter  Artikel  1,  Paragraph  2,  Letter  c)  stach  besonders  hervor: „ebenda einschließlich  Erwerb,  auch  durch  Pachtvertrag,  von  Einrichtungen  bestimmt  zur  Überwindung  des humanitären Notstandes, auch  in Abweichung  von Artikel  2,  Paragraph  222  des Gesetztes Nr.  191 vom  23. Dezember  2009.“   Außerdem wurde Letter  d)  hinzugefügt welche  besagt:  „Anwendung, in Übereinstimmung  mit  dem  Innenministerium,  Abteilung  für  Bürgerfreiheit  und  Einwanderung,  von möglichen Maßnahmen zur Neuverteilung der Asylantragssteller innerhalb der Erstaufnahme Zentren (CARA) auf nationalem Gebiet.“ Es ist deutlich erkennbar, dass jene Änderungen eingeführt wurden, um der Gründung des „Dorfes der Solidarität“ in Mineo zuzustimmen. Es sollte Sinnbild sein für die Reaktion der Regierung auf die Emergenza Nordafrica und insbesondere auf den Notstand Lampedusa, dessen Zentrum übervoll mit jungen Tunesiern war.
Die  Entscheidung,  die  Residence  degli  Aranci in der Contrada  Cucinella  der  Gemeinde  Mineo, die sich im Besitz der Pizzarotti A.G. befindet und bis vor kurzem Unterkunft der amerikanischen in Sigonella stationierten Soldaten war,  zu  nutzen kam so  plötzlich wie entschieden. Am  14. Februar  2011  befanden Innenminister Maroni  und Ministerpräsident Berlusconi  bei  einem Lokalbegehung  die Residence  als  geeigneten Ort für  die Gründung  des  „Dorfes  der  Solidarität.“ Wegen  ihrer Eigenheiten, so Maroni, schien die Struktur  geeigneter für  die Aufnahme  von Asylantragsstellern zu sein als für  die Aufnahme  von  „clandestini“. Asylantragssteller  aus  verschiedenen  CARA  (Aufnahmezentrum  für  Asylantragssteller)  des  Landes sollten in das „Dorf der Solidarität“, das stets als zukünftiger Stolz des italienischen Aufnahmesystems beworben  wurde,  verlegt  werden. Jenes  „Dreieck­System“,  wie  es  der  für  den  Notstand  beauftrage Kommissar, Präfekt Caruso, in einem mit uns geführten Interview bezeichnete, sollte in den CARA die nötigen Plätze für die Neuankünfte aus Lampedusa frei manchen und zudem jene Asylantragssteller, die mit Gewissheit in Italien bleiben, belohnen, in dem man sie von den heruntergekommenen (anderen) CARA in  ein  ausgezeichnetes  Zentrum  verlegt -  in  das  Zentrum  von  Mineo.  Jenseits  der  Rhetorik  der Regierung  schien  diese  Lösung  jedoch  vielmehr  ein  anderes  Ziel  zu  verfolgen,  dies  wurde  unter anderem  vom  stellvertretenden  Chef  der  Abteilung  für  Bürgerfreiheit  und  Einwanderung  des Innenministeriums,  Dr.  Postiglione  unverhohlen  erklärt:  die Leerung italienischer Aufnahmezentren  für Asylantragssteller,  um  sie  in  Identifikations­  und  Abschiebezentren  (CIE  Centri  di identificazione  ed  espulsione)  umzuwandeln.  Diese  Richtung  wurde  vom  Erlass  des Ministerpräsidenten Nr. 3935 (O.P.C.M n 3935) vom 21. April 2011 bestätigt, in welchem angeordnet wurde, die vorübergehend in Betrieb genommenen Aufnahmezentren von Santa Maria Capua Vetere (Provinz Caserta) – ehemalige Kaserne Andolfato ­, Palazzo San Gervasio (Provinz Potenza) und das Zentrum von Kinisia, Trapani, in Identifikations­ und Abschiebezentren umzuwandeln.

Zur Realisierung des „Dorfes der Solidarität“ musste sich die Regierung aber auch dem Widerstand der 15 Bürgermeister des Calatino (Teil der Provinz Catania im Osten Siziliens) stellen, deren Ansichten bis dahin ignoriert worden waren. Als Mittel der Überzeugung diente der Regierung vor allem die zum Projekt gehörende Sicherheits­Charta. Sie beinhaltet die Aufstockung der Polizeikräfte und die Installation von Video­Überwachungs­Systemen  und  sollte  so  die  Ordnung  und  Sicherheit  der  Bürger  sowie  der zukünftigen  „Gäste“  garantieren. Der  von  der Regierung  genutzte Sicherheitsansatz wurde  zum Teil von  den Bürgermeistern  der Region  unterstützt,  da sie selbst  vom  Problem  der  Sicherheit  betroffen waren.  Das  Versprechen  der  Regierung,  den  Sicherheits­Pakt  zu  unterzeichnen  unterstützt durch den Wunsch einiger Bürgermeister, die „Möglichkeiten“ welche die Öffnung des Zentrums mit sich bringe,  voll auszunutzen, führte zu keinem einstimmigen Beschluss. Ein Drittel der calatinischen Gemeinden (Castel di Ludica, Caltagirone, Grammichele, Ramacca und Mineo) blieben fest entschlossene Gegner des Projektes und bekräftigten ihren Standpunkt in einem Brief an Innenminister Maroni:

„Das Model Mineo entspricht nicht der Idee, die wir bewusst entwickelt haben, die auf der Erfahrung mit effektiver Integration  basiert  und  die  bereits  in  unseren  Gemeinschaften  angewandt wird.  Die  Tatsache, dass  mindestens  2000 Personen  an einen  Ort gebracht  werden  sollen,  welcher  nicht  über die nötigen Dienste  verfügt  und keine  richtige  Eingliederung  ermöglicht,  gefällt  uns nicht.  Dieser  Zustand  der Absonderung könnte einerseits zu sozialen Revolten führen und andererseits einige von ihnen dazu bewegen, die Sicherheitslage vor Ort auf die Probe zu stellen, auch wenn die überwältigende Mehrheit friedlich ist und  die  besten Absichten verfolgt.“

Am  Ende  des  Briefes  würde  präzisiert  dass:  „echte  Aufnahme ausschließlich in einem Netz aus Beziehungen und Diensten erfolgen kann, welche den Einwanderern helfen sich zu integrieren. Nur die Eingliederung kleiner Gruppen in die Gemeinschaft ist eine wirkliche Chance.“

Diese  Stimmen  jedoch  gehörten  bereits  der  Minderheit  an.  In  Mineo  zum  Beispiel,  hatte sich  ein Bürgerausschuss „für das Dorf der Solidarität“ gebildet. Für seine Anhänger stellte das neue CARA in Mineo  das  „Tor  nach  Europa“  dar.  Abgesehen  von  der  vorhersehbaren  Rhetorik  verdeutlichten  die Flugblätter, die zur Unterschriftensammlung verteilt wurden, vor allem die Vorteile die das CARA mit sich  bringen  würde:  Arbeitsaufträge  für  lokale  Dienstleistungsunternehmen,  mindestens  300 Anstellungen  für  Sozialarbeiter  und  mehr  Sicherheit  in  der  Region.  Hier  ein  Slogan  als  Beispiel:

„Unsere  Stadt scheint  unweigerlich zum  langsamen Niedergang ­  beinahe zum Aussterben ­  verurteilt zu sein. Um dies zu verhindern wollen wir, dass das „Dorf der Solidarität“ zu einer Chance für die Zukunft der Jungendlichen in Mineo wird.“

Interessanterweise  trug  die  Unterschrift  auf  dem  Flugblatt  des  Ausschusses  den  Namen  der Genossenschaft „Sol.Calatino“. Sie war eine jener Genossenschaften, welche einige Monate später das Rote  Kreuz  als Betreiber  des  CARA  ablösten,  und  sie  ist  zur  Zeit  Teil  des Zusammenschlusses von Unternehmen, die das Zentrum leiten.

Das Dekret Nr.  16355  vom  2. März  2011,  unterzeichnet  vom bevollmächtigten Kommissar für  die Emergenza Nordafrica,  und  in  Folge  am  4.  März  2011  ergänzt  vom  Dekret  Nr.  17132,  beschließen die Nutzung der  Residence degli Aranci bis zum 31. Dezember 2011. Am 20. März 2011, zwei Tage  nach  der  effektiven  Öffnung  des  „Dorfes  der  Solidarität“,  unterzeichneten der  Präfekt  von Catania, der Präsident der Provinz Catania und die Bürgermeister der 15 calatinischen Gemeinden den ersehnten Sicherheits­Pakt. Der Pakt zielte fast ausschließlich auf das Sicherheitsproblem und erteilte keine speziellen  Anweisungen  bezüglich  der  zukünftigen  „Gäste“  der  Einrichtung.  Der  Pakt  nimmt Bezug auf eine optimale Betreuung und auf Möglichkeiten der sozialen Eingliederung jedoch immer in Hinblick auf die Sicherheit und auf „die positiven sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen für die Lokalbevölkerung.“  Jeder Einsatz der Partner, „die Integration der Fremden (…) die Ausarbeitung von Ausbildungstätigkeiten  (…)  die  erfahrungsmäßige  Kenntnis  des  Gebiets  und  der  lokalen  Kultur“ voranzutreiben, wurde von Artikel 3 sanktioniert . Um jegliche Missverständnisse zu vermeiden trug Artikel  3  die  Überschrift  „Einwanderung  und  Sicherheit.“  Hinsichtlich  des  Aufgabenbereichs  der Struktur wurde bestätigt, dass nur jene Asylantragssteller aufgenommen würden, welche bereits „vor geraumer  Zeit  den  juristischen  Weg  des  Asylverfahrens  begonnen  haben.“  Letztere  hätte  dann schrittweise  übersiedelt  werden  sollen,  ohne  die  maximal  Kapazität  von  2000  Personen  zu überschreiten. Jene wichtigen Versprechen wurden von der Regierung sofort gebrochen.  Am 24. März, nur  vier  Tage  nach  Unterzeichnung, stellten sich  Verwalter  und  mehrere Bürgermeister  der Region Calatino  in  einer  Menschenkette  vor  den  Eingang  des  „Dorfes  der  Solidarität“.  Sie  versperrten  den Polizeikräften den Weg, die die Übersiedelung von  498 Tunesiern aus Lampedusa durchführen sollten. Die lokalen Verwalter sprachen von einer großen Farce, von einem großen Bluff der Regierung, die aus Mineo schon bald ein Lager machen würde. Das bereits erwähnte Dekret vom 30. März zeigt die Doppeldeutigkeit der Residence degli Aranci  und formalisiert  die Enttäuschung  über  den Sicherheits­Pakt. Das Zentrum von Mineo wird darin sowohl als Aufnahmezentrum für Asylantragssteller (CARA) als auch als Aufnahme Zentrum (CDA) bezeichnet.

2.  Unter Führung des Italienischen Roten Kreuz
Kraft Artikel 3 des Erlasses des Ministerpräsidenten Nr. 3924, wurde der bevollmächtigte Kommissar beauftragt,  für die humanitäre Hilfe und Betreuung notwendige Zusammenarbeit  zwischen  dem Italienischen  Roten  Kreuz,  dem UN Flüchtlingshilfswerk  und der Internationalen Organisation  für Migration zu aktivieren. Dem Italienischen  Roten  Kreuz wurde die Führung des „Dorfes der Solidarität“ bis Ende Juni 2011 anvertraut.  Sein  Verwaltungsstil  zeichnete  sich  durch  seinen Notfall-Charakter und seine Militarisierung.  Die ständigen  und  massiven  Patrouillen  innerhalb aber  auch  außerhalb  des Zentrums  ähnelten mehr  dem Bild  eines  Überwachungsgefängnis  als  dem Bild  einer  Oase  des  Friedens.  Die  Überwachung  wurde  zum  Teil  mit  der  immensen  Zahl  von überführten  Gästen  entschuldigt,  die  innerhalb  kürzester  Zeit  eintrafen.  Zwei  Wochen  nach  der effektiven Öffnung des Zentrums, am 18. März 2011, zählte man bereits 1595 „Gäste“. Im Gegensatz zu  den  Vorhersage,  die  im  Sicherheits­Pakt  festgehalten  sind,  wurde  die  Übersiedelung  der Asylantragssteller sowie der jungen Tunesier alles andere als schrittweise vollzogen. Die  angewandte  Methode  zur  Übersiedelungen  von  den  verschiedenen  CARA  in  das  „Dorf  der Solidarität“,  erweckte  ebenfalls  Ratlosigkeit.  Diese  Übersiedelungen  wurden  von  den  maßgebenden Vereinen als „Deportationen“ definiert. Der italienische Flüchtlingsrat (CIR-Consiglio italiano per i Rifugiati) brandmarkte, dass die Durchführung der Übersiedelungen mittels „einer Entscheidung von absoluter Dringlichkeit, direkt vom Innenministerium und ohne jegliche Planung und Absprache mit den lokalen Behörden“ erfolgte. Im selben Bericht kritisierte der Direktor des italienischen Flüchtlingsrats, Christopher Hein, das fehlende Inkenntnis­setzen der betroffenen Asylantragessteller. Im  besonderen  berichtete  Hein  über  den  Fall  der  Übersiedlung  vom  CARA  in  Rom  am  21.  März, welche  nicht  freiwillig,  sondern  unter  Androhungen  erfolgte.  Der  Umzug  von  einem  Zentrum  ins andere riss  die Asylantragssteller  nicht  nur  aus  dem sozialen Netz, in  dem sie  über Monaten  gelebt hatten,  sondern  verursachte  weitere  Vergehen:  die  „Abgelehnten“  (Asylantragssteller,  die  einen negativen  Bescheid  erhalten  hatten)  waren,  wollten  sie  in  Berufung  gehen,  weit  entfernt  vom zuständigen  Gericht  und  für  jene,  die  einen  Antrag  auf  internationalen  Schutz  gestellt  hatten, verlangsamte sich die Prüfung ihrer Anfrage beträchtlich, da auch die Zuständigkeit der Kommission verlegt werden musste und die nötigen Dokumente nur mit Verspätung weitergeleitet wurden. Zudem passierte es oft, dass die aus anderen Zentren übersiedelten Antragssteller bei der Einbestellung in die Kommission von den gerade aus Libyen über Lampedusa in Mineo eingetroffenen Antragssteller für internationalen Schutz, „übersprungen“ wurden. Dieser Zustand war Quelle beträchtlicher Spannungen, welche  manchmal  in  Raufereien  zwischen  den  Antragsstellern  selbst  mündeten.  Im  Inneren  des „Dorfes der Solidarität“ herrschte im Übrigen ein surreales Klima, eine scheinbare Ruhe, welche das allgemeine Leid fast aller Gäste verbarg.
Der  anfänglichen  Notstands­phase  folgte  in  der  Tat  keine  Planung  mit  dem  Ziel  die  geforderten Bedingungen  zu  erfüllen.  Für  die  „Gäste“  vergingen  die  Tage  im  CARA  nur  langsam.  Endlose Warteschlangen charakterisierten die wenigen „Tätigkeiten“ des Tages, wie das Aufsuchen der Mensa oder  das Durchführen  eines Telefongesprächs. Der totale Mangel  an  entspannenden Tätigkeiten,  die Unmöglichkeit  eine  Zeitung  zu  lesen,  das  Fehlen  einer  Internetverbindung  und  Probleme  mit  dem Satellitenempfang gaben den Antragsstellern immer mehr das Gefühl, in Isolation abgeschnitten von der Außenwelt zu leben.

Der geografische Standort der Residence degli Aranci, zwar eingebettet in glänzenden Orangenhainen, aber  11  Kilometer  entfernt  vom  bewohnten  Zentrum  von  Mineo,  trug  dazu  bei,  dem  Gefühl  der Isolation noch mehr gerecht zu werden. Die mangelnde Organisation bei der Verkehrsverbindung mit den  nahegelegenen  Ortschaften  verursachte  beträchtliche  Unannehmlichkeiten.  Zum  Zeitpunkt  der Öffnung des Zentrums gab es weder öffentliche noch private Verkehrsverbindungen nach Mineo oder in  andere  Dörfer  des  Calatino.  Dies schränkte  die  „Freiheit“  der  Antragssteller  auf  Internationalen Schutz, das CARA tagsüber verlassen zu können, effektiv ein. Letztere waren zu einem „Spaziergang“ von  über  20  Kilometer  Länge  gezwungen,  wollten sie sich  ins  Dorf  begeben.  Der  Zubringerdienst wurde weder im Voraus noch bei Eröffnung geplant. Da sich das Rote Kreuz, die Präfektur und das Innenministerium bezüglich der Kompetenzen gegenseitig den  „schwarzen Peter“  zuschoben, konnte der  Dienst  nicht  vor  Sommer  in  Betrieb  genommen  werden.  Erst  ab  dem  Monat  Juni  wurden Zubringerdienste  gegen  Bezahlung  angeboten.  Das Problem  dabei  waren  nicht  die Kosten  des Fahrscheins, sondern vor allem die Tatsache, dass das Rote Kreuz in der Zeit, in welcher das CARA unter seiner Führung stand, im  Unterschied  zu  allen  anderen  CARAs  in Italien nie das vorgesehene Taschengeld für die kleinen täglichen Ausgaben an die Antragssteller  auf  Internationalen  Schutz  aushändigte.

Dem bisher beschriebenen totalen Mangel an Tätigkeiten ist es nötig hinzuzufügen, dass es innerhalb des  „Dorfes  der  Solidarität“  fast  keine  Betreuung  und  Rechtsberatung  gab.  Das  Fehlen  eines Informationsdienstes  und  einer  Rechtsberatung  verweigerte  den  Antragsstellern  auf  Internationalen Schutz  das  Recht  auf  Erhalt  von  korrekten  Informationen  über  das  Asylverfahren  in  einer  ihnen verständlichen Sprache. Dem muss hinzugefügt werden, dass kraft des Rundschreibens Nr. 1305 vom 1. April 2011  Anwälten oft der Zutritt zu den Einrichtungen verwehrt blieb, da dieses ausschließlich Organisationen, welche im Rahmen des Übereinkommens mit dem Innenministerium tätig sind, Zutritt zu  den  „Einwanderer -Zentren“  gestattet.  Tatsächlich  gibt  es  zahlreiche  Zeugenaussagen,  in  denen Anwälte, die Bedingungen unter welchen sie gezwungen waren mit ihren Klienten zu kommunizieren, anklagten.  Die  Antragssteller  erwarteten  dringend  ein  Dokument,  eine  Anhörung  vor  der Territorialkommission  oder  den  Gerichtstermin für  das Berufungsverfahren:  alle  waren  in ständiger Erwartung. Es ist kein Zufall, dass das „Dorf der Solidarität“ oft als „Vorhölle“ bezeichnet wurde. So auch im Fall des Berichts von Ärzte ohne Grenzen, der sinnbildlicher Weise wie folgt betitelt wurde: „Von  der  Hölle  in  die  Vorhölle“ („Dall'inferno  al  limbo“).  Beobachter stellten  zahlreiche  Fälle  von Depression,  Absonderung  und  Verwirrung  fest.  Hierzu  sollte  daran  erinnert  werden,  dass  es  im Zentrum keinen Überwachungsdienst, mit der Aufgabe sogenannte verletzliche Fälle zu erkennen und entsprechend zu verfolgen, gab. Der Bericht bestätigte zudem, dass das ermüdende Warten der „Gäste“ eine Quelle der Verzweiflung war. Dies verursachte verschiedene auch extreme Reaktionen. Auf der einen  Seite  wurden  in  den  ersten  vier  Monaten  nach  Inbetriebnahme sieben  versuchte  Selbstmorde registriert, auf der anderen Seite gab es jene die sich der ausbreitenden Resignation widersetzten. Die erste Revolte brach am 10. Mai 2011 aus, als zahlreiche „Gäste“ die, am Zentrum vorbeiführende, Staatsstraße Catania-­Gela besetzten. Der Erfolg der Demonstration  zeigte sich  am 19. Mai  als, nach Monaten  der  leeren  Versprechungen,  bei  der  Residence  degli  Aranci  eine  Unterkommission  der Territorialkommission  von  Siracusa  eingesetzt  wurde. Einmal  eingesetzt, fuhr  die  Unterkommission mit durchschnittlich zwei Anhörungen pro Tag fort. Dies bedeutete allerdings, dass es im besten Fall ein Jahr gedauert hätte, bis alle offen stehenden Anträge geprüft worden wären. Die darauf folgende Demonstration  vom  6.  Juni,  die  von  den  Ordnungskräften  mit  mehr  Entschlossenheit  unterdrückt wurde,  konnte  trotzdem  bezwecken,  dass  die  Kommission  von  Siracusa  von  nun  an  drei  Mal wöchentlich die Unterkommission vor Ort unterstützte, mit dem Ziel ungefähr achtzig Anhörungen pro Woche durchzuführen. Diese sicherlich positive Reaktion war jedoch auch nicht ausreichend, um die offen stehenden Anträge in kürzester Zeit zu prüfen. Der internationale Flüchtlingstag am 21. Juni gab Anlass  für  die  erneute  Blockade  der  Staatsstraße  Catania­Gela,  genau  genommen  zur  dritten Demonstration in etwas mehr als einem Monat.  Die Gründe dafür waren dieselben: übermäßig lange Wartezeiten  bei  der  Überprüfung  der  Anträge  und  das  Fehlen  von  Kriterien  bezüglich  der  Priorität, nach der die Anträge überprüft werden. Unter der Leitung des Roten Kreuz wurde den „Gästen“ im wesentlichen Unterkunft, Verpflegung und medizinische  Grundversorgung  garantiert.  Es  wurde  allerdings  versäumt,  weitere  Grunddienste  wie sprachliche und kulturelle  Mediation, Rechtsbetreuung und Beratung  anzubieten, welche im Entwurf der Ausschreibung zur Führung von Aufnahmezentren für Einwanderer festgelegt worden waren. Die Verantwortlichkeit für die sehr schlechten Aufnahmebedingungen im CARA von Mineo, welche wohl unter  den  in  der  sogenannten  Direktive  zur  Aufnahme  (2003/9  CE)  festgelegten  Mindeststandards lagen, war zum größten Teil der Regierung zuzuschreiben. In diesem Sinne genügt die Erinnerung an Artikel 7 des Erlass Nr. 3948 des Ministerpräsidenten vom 20. Juni 2011 (O.P.C.M  n  3948 ). Darin wurden  die  Akteure  dazu  ermächtigt, „Verträge  oder  Abkommen  mit  öffentlichen  und  privaten Unternehmen  abzuschließen, (…) solange  diese  gleichwertige   Dienstleistungen  garantierten wie in der Ausschreibung  des Innenministeriums zur Verwaltung der Aufnahmezentren für Asylantragssteller und  dem Handbuch  zur Inbetriebnahme  und Verwaltung  von Aufnahme­  und Eingliederungseinrichtungen für Antragssteller und Inhaber von Internationalem Schutz vorgesehen.“

Gut  drei  Monate  nach  Öffnung  des  Zentrums  wurde  zum  ersten  Mal  auf  zentraler  Ebene  und  mit unentschuldbarer Verspätung ausdrücklich auf die bereits erwähnte Ausschreibung Bezug genommen.

3.  Unter Führung der Genossenschaft „CARA Mineo“
Am 18. Oktober 2011 ging die Führung des CARA in Mineo vom Roten Kreuz, welches weiterhin für die    Gesundheitsversorgung  verantwortlich  blieb,  über  auf  die Genossenschaft  Cara  Mineo.  Diese Genossenschaft, in Form einer vorübergehenden Vereinigung von Unternehmen, war zusammengesetzt aus:  Sisifo  S.C.S.  (Leitung  der  Körperschaft),  Sol.  Calatino  S.C.S.,  La  Cascina  Global  Service, La Casa della Solidarietà S.C.S. (das Haus der Solidarität) und dem Senis Hospes S.C.S.. Von  Anfang  an  definierte  die  Genossenschaftsverwaltung  die  Führung  des  Zentrums  als Herausforderung, als eine Art Mission mit dem Ziel das CARA von einem Ort der verlorenen Zeit in ein  Umfeld  zum Aufbau  der  Zukunft seiner  „Gäste“  umzuwandeln.  Es  war  ihr Bestreben,  „das  Tor Europas“ zu werden, ein großes „Kompetenzzentrum“ im Dienste des Mittelmeerbeckens. Das Dekret des Ministerpräsidenten vom 6. Oktober 2011 (D.P.C.M del 6 ottobre 2011) verlängerte die Emergenza Nordafrica bis zum 31. Dezember 2012 und gewährte den Verantwortlichen somit genügend Zeit, um an der Herausforderung zu arbeiten.
Um  den  detaillierten  „Ausschreibung  zur  Führung  des  Aufnahmezentrums  für Immigranten  von Mineo“ nach zu kommen, aktivierte die neue Leitung verschiedene Dienste: legale, psychologische und soziale Betreuung; Italienischkurse; Ausbildung und Job Center sowie sprachlich­kulturelle Mediation. Zudem wurde den Asylantragsstellern endlich das ihnen zustehende „Taschengeld“ von 2,50€ pro Tag ausgehändigt.  Es  handelte  sich  dabei  um  virtuelles  Geld,  das  jedem  Gast  auf  seine  Magnetkarte „geladen“ wurde. Somit konnte das Taschengeld ausschließlich am Bazar innerhalb des CARA und in einigen Supermarktketten in den umliegenden Dörfern ausgegeben werden. Die leitende Körperschaft entschied erneut die Ausschreibung zur Führung des CARA ­ Maßnahme Nr. 35 vom 16. März 2012 des Verantwortlichen für die Führung des Aufnahmezentrums für Asylbewerber. In der Zwischenzeit, wie  der  Verantwortliche  On.  Giuseppe  Castligione  bestätigte,  erkannte  die  Stadt  Mineo  und  die angrenzenden  Gemeinden  das  wirtschaftliche  Potenzial  des  CARA  im  Bereich  der  Arbeit  und Entwicklung der Region.

In  einem  Gebiet  mit  anhaltend  schlechten  Arbeitsmarktsituation  und  in  einem  Klima  der  Krise repräsentierte  das Aufnahmezentrum eine Arbeitsmöglichkeit für viele junge Menschen. Zudem war es  eine  enorme  Ressource  für  das  ganze  Calatino.  Diese  Tatsache  wurde  vom Betreiber  nie  abgestritten,  im  Gegenteil  sie  wurde  als  einer  der  unbestreitbaren  Erfolge  der Erfahrung    mit  dem  „Dorf  der  Solidarität“    beansprucht.  Aus  diesem  Grund  strebten  sowohl  die Genossenschaft  Cara  Mineo  als  auch  die  Betreiber  die  Bildung  einer  öffentlichen Genossenschaft  bestehend  aus  lokalen  Körperschaften  an.  Diese  sollten  in  die  Verwaltung  des Zentrums  mit  eintreten,  um  den  Überhang  von  der  Notstandsphase  in  eine  strukturelle  Phase,  zu garantieren.
Es ist im Übrigen erwähnenswert, dass das bevorstehende Ende der Emergenza Nordafrica auch  die  Schließung  des  „Dorfes  der  Solidarität“  bedeuten  konnte.  Am  18.  November  2012  wurde sogar der spontane und keiner Partei angehörende Ausschuss „Pro Cara in Mineo“ gegründet. Sein Ziel war es, die Öffentlichkeit für die Bedeutung des CARA, welche es für die ganze Region darstellte, zu sensibilisieren.  Die einzige „Pro Cara in Mineo“ Initiative, die uns bekannt ist, war ein Fackelzug am 26. November 2012 in Mineo, an dem auch die Italienische Arbeitervereinigung (UIL) teilnahm. Das Ziel der Initiative war der Schutz der Arbeitsplätze der über 250 Mitarbeiter des Zentrums, welches als „unantastbare Ressource“ definiert wurde. Was  danach folgte  ist  allen  bekannt. Das Aufnahmezentrum  von Mineo  hat  nicht  nur  das Ende  der Emergenza  Nordafrica  (28.  Februar  2013) überlebt,  sondern  ist  nun,  nach  seiner  definitiven „Stabilisierung“, Teil des bruchstückhaften Italienischen Aufnahmesystems. Es genügt in diesem Sinne sich an das Schreiben 47208 vom 2. Oktober 2013 zu erinnern, in welchem die Präfektur Catania, auf Anweisung des Innenministeriums, die Genossenschaft  „Calatino Terra d’Accoglienza” („Calatino Land der Aufnahme“) darum bittet, eine  Struktur,  tauglich  zur  Aufnahme  von  3000  Einwanderern  zu  schaffen.  Dafür  würde  ein dreijähriges Abkommen (erneuerbar für weitere drei Jahre) unterzeichnet, das der Genossenschaft die Leitung jenes Zentrums zusichern würde. Seit 1. Januar 2013 ist die Genossenschaft „Calatino Terra d’Accoglienza”, zusammengesetzt aus den Gemeinden Mineo, San Michele di Ganzaria, Vizzini, San Cono,  Ramacca,  Raddusa,  Licodia  Eubea,  für  die  Verwaltung  des  Aufnahmezentrums  für Asylantragssteller  verantwortlich.  Die  Leitung  hingegen  ist  dank  mehrerer Verlängerungen  noch immer in den Händen der Genossenschaft Cara Mineo, seit 1. Januar 2013 allerdings gemeinsam mit dem Unternehmen Pizzarotti & C. A.G. Dieses Unternehmen, Eigentümer der Residence degli Aranci, hat  allein in  den  zwei  Jahren  2011­2012  bereits  mindestens  acht  Millionen  Euro  (360.000  Euro  im Monat)  kassiert. Das  unbestreitbare Geschäft in Verbindung mit  der Leitung  des CARA  von Mineo war von Anfang an zentraler Grund für den erbitterten Zeitvertreib unter den verschiedenen politischen Kräften in Mineo wie auch in anderen Gemeinden des Calatino.

Infolge unzähliger Blockaden der Staatsstraße Catania Gela, beherrschte die dramatische Situation der im  Zentrum  von  Mineo  untergebrachten  Asylantragssteller,  die  Schlagzeilen. Bei  der  bisher  letzten Demonstration  am 19. Dezember 2013 wurden im wesentlichen dieselben Anliegen vorgebracht wie bereits  bei  der  ersten  Demonstration  am  10.  Mai  2011: 
  • abnormal  lange  Wartezeiten  bis  zur Einberufung bei der Territorialkommission, welche für die Bearbeitung der Asylanträge zuständig ist;
  • ungenügende Anzahl von Anhörungen pro Woche, bei der besagten Kommission;
  • eine hohe Rate von Ablehnungen des Asylantrages;
  • im Falle einer Berufung, endlose Wartezeit bis zur Vernehmung vor Gericht; 
  • unzureichende  medizinische  Versorgung  im  Verhältnis  zur  Zahl  der  zu  versorgenden
  • Personen;
  • Taschengeld (meist ersetzt durch Zigaretten oder Karten zum Aufladen (Telefongesellschaft Wind)  des  Mobiltelefons); 
  • sehr  schlechte  Anbindung  der  öffentlichen  Verkehrsmittel  an  urbane Zentren.

Es  ist  an  dieser  Stelle  erwähnenswert,  dass sich  durch  die  zahlreichen  Manifestationen  zunehmend Gefühl der Intoleranz gegenüber den Asylantragsstellern von Seiten vieler Bewohner der Gemeinden, allen  voran  Mineo,  festgestellt  werden  konnte.  Das  Risiko, dass  jene  Abneigung  instrumentalisiert werden  könnte  ist  ernst  und  nicht  zu unterschätzten. Leider  banalisieren,  mit  einigen  Ausnahmen, Medien,  Politiker  und  die  Führung  des  CARA  das  Problem. Sie  vereinfachten  es  durch  die oberflächlichen Unterteilung in zwei  gegensätzliche Lager: „für das Aufnahmezentrum“ und „gegen das Aufnahmezentrum“. Unserer Meinung  nach muss  das  Problem  aber  von  allen  Seiten  beleuchtet werden.  Einmal  ist  da  der  staatliche  und regionale  rechtliche  Rahmen,  der  ein  chaotisches  und bruchstückhaftes  Aufnahmesystems  zur  Folge  hat,  geleitet  von  Präfekten  welche systematisch  zum Notfallplan greifen. Das CARA von Mineo ist sicherlich Sinnbild für dieses „System“ aber es ist nicht das einzige Beispiel, denken wir nur an die diversen Zentren, die im vergangenen Jahr eröffnet wurden:
Die ehemalige Schule Umberto I in Siracusa, die Zeltstadt am PalaNebiolo in Messina, die zum  Glück  geschlossenen  Tore  der  Turnhalle  am  Sportplatz  von  Pozzallo  und  das  Sportstadium „Palaspedini“  in  Catania,  und  so  weiter.  Dazu  kommt  noch  die  Idee  zur  Errichtung  eines  „Mega CARA“, wie im bereits erwähnten Schreiben 47208 der Präfektur von Catania bestätigt wird.
Zum anderen ist die Situation vor Ort nicht weniger komplex und scheint auf dramatische Weise mit  wirtschaftlichen  und  politischen  Interessensansprüchen  verbunden  zu  sein.  Stolz  präsentiert  die Genossenschaft  Cara  Mineo  über  ihre  verschiedenen  Kommunikationskanäle  ­  von  sozialen Netzwerken  über  den Blog  bis  hin  zur Zeitschrift CARA News ­  ihr  „Werk“. Dabei  definiert sie  das CARA  von  Mineo  als  größtes  Unternehmen  im  Calatino,  als  größte  Fabrik  von  menschlichen Beziehungen,  als  einen  Ort  der  Liebe,  Solidarität  und  Integration.  Zudem  machen  die  politischen Förderer der Genossenschaft auf die Bedeutung aufmerksam, die das Zentrum erreicht hat, indem es zum wichtigsten wirtschaftlichen Triebwerk der Region sowie zu einer Arbeitsquelle für ungefähr 300 Sozialarbeiter aus der Gegend wurde.
Das Lager der „Gegner“ ist hingegen alles andere als homogen: da  gibt  es  jene,  welche  die  Revolten  der  Einwanderer  instrumentalisieren  und  auf  die  Politik  des Schreckens zurückgreifen; jene die ausschließlich die Ämterpatronage der Leitung des Zentrums bei der  Einstellung  von Mitarbeitern  anfechten;  jene die nur dagegen  sind,  dass das CARA in einer privaten Struktur wie dem Pizzarotti & C. A.G. untergebracht ist, welche dadurch Millionen von Euro verdient. Außerdem die Gruppe der Bauern, welche die Schäden in den Orangenhainen gegenüber dem Zentrum  anklagen;  und  zu  guter  Letzt  die  direkt  Betroffenen,  die  über  4000  Asylantragssteller,  die nichts  zu sagen  haben. Den Letzteren  bleiben  nur  extreme Gesten,  um  auf  ihre Lebensbedingungen aufmerksam zu machen. Oft wählten sie dazu die Form friedlicher Proteste wie die Demonstration am 19. Dezember 2013, bei denen die Medien allerdings nur die Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Ordnungskräften hochspielten und dabei „vergaßen“ über die anschließende Versammlung in der Gemeinde Palagonia zu berichten, in der die Demonstranten den Bürgern und dem Bürgermeister die Gründe der Protestaktion erklärten.
Manchmal kam es auch zu extremen Taten, wie im Fall von Mulue Ghirmay,  einem  21 Jahre  alten  Eritreer,  der  sich  am  vergangenen  14.  Dezember  im  Zentrum  von Mineo das Leben nahm.

Das CARA von Mineo ist unserer Meinung nach einen katastrophale Erfahrung und sollte so bald als möglich  geschlossen  werden.  Wir  halten  eine  würdevolle  Aufnahme,  welche  die  geltenden Mindeststandards respektiert, in Strukturen  einer solchen Größenordnung weder für vorstellbar noch für  realisierbar.  Anders  als  von  der  leitenden  Genossenschaft erklärt,  glauben  wir  nicht,  dass  ihr primäres  Ziel  die  Integration  der  Asylantragssteller  ist.  Alle  beschriebenen Aktivitäten  finden  im Inneren  des Zentrums statt,  während  externe Initiativen  in einen prall gefüllten Kalender eingetragen werden, bei denen aber die  Genossenschaft  entscheidet,  welche  und  wie  viele  Personen  daran teilnehmen dürfen und vor allem welches Bild vom Aufnahmezentrum übermittelt werden soll. Ein Beispiel dafür ist der kürzlich fertiggestellte Dokumentarfilm „Io sono io e tu sei tu“ (Ich bin ich und du bist du),  der  ausschließlich  innerhalb  des CARA  gedreht  wurde.  Produziert  wurde  das  Projekt  von  der Stiftung  Fondazione  Integra,  welche  direkt  auf  Sisifo  S.C.S,  der  führenden  Körperschaft  in  der Genossenschaft Cara Mineo zurückgeführt werden kann. Das erklärte Ziel des Films ist es „ein Model der Aufnahme zu fördern, dessen Strukturen den humanitären Notstand in Italien scheitern ließen.“ Am 2. Januar 2014 wurde in Mineo eine außerordentliche Gemeinderatssitzung abgehalten, bei der Anna Aloisi in ihrer Doppelrolle  als Bürgermeisterin von Mineo sowie  als Präsidentin der Genossenschaft „Calatino Terra d’Accoglienza” die  jüngsten  Neuigkeiten  erläuterte.  Darunter  stechen  hervor: 
  • die bevorstehende Einsetzung zweier Kommissionen in Catania, welche mit der Territorialkommission von Siracusa zusammenarbeiten werden und Anhörungen von Asylantragsstellern, untergebracht im CARA von  Mineo,  durchführen  werden; 
  • die  Genehmigung  der  Finanzierung  von  drei  Millionen  Euro  zu Gunsten des calatinischen Gebiets im Parlament;
  • die Wiederaufnahme des Projekts „Sichere Straßen“ durch das das Heer angefordert wird, um in der Zone für Sicherheit zu sorgen.
Die Entscheidung, auf einen Militäreinsatz  zurückzugreifen,  um somit  die  Sicherheit  des  Gebiets  zu  garantieren sowie  die Summe  von  drei  Millionen  Euro scheinen  erneut  kurzzeitliche  Notfalllösungen  zu sein,  die  darauf abzielen,  die  Unduldsamkeit  der  calatinischen  Bevölkerung  zu  besänftigen  und  ihnen  eine  erhöhte Sicherheit  zu  garantieren.  In  die  selbe  Richtung  kann  auch  der  Plan  zur  Einführung  zweier Kommissionen  in  Catania  gedeutet  werden,  welche  zur  Reduzierung  der  Bewohnerzahl  des  CARA führen sollte. In  diesem  Fall  zumindest, wenn  auch  viel  zu spät,  handelt  es sich sicherlich  um  eine positive  Lösung,  da  sich  die  Zeiten  zur  Überprüfung  der  Ansuchen  der  Gäste  des  Zentrums  auf Internationalen Schutz, beschleunigen müssten.

Nach all dem, was bis jetzt ans Tageslicht kam, finden wir, dass die „Zeitbombe“ noch nicht entschärft ist  und  auch  in  Zukunft  nicht  entschärfen  werden  kann,  solange  sich  die  Herangehensweise  aller Verantwortlichen  nicht ändert.

Die Redaktion von Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner