siciliamigranti.blogspot.com ist ein italienischsprachiges Monitoringprojekt zur Situation der Flüchtlinge in Sizilien, dort finden Sie die Original-Berichte, hier finden Sie die deutschen Übersetzungen. Klicken Sie auf die auf die Namen der Schlagworte (keywords), wenn Sie bestimmte Themen suchen.

Mittwoch, 19. Juli 2017

Newsletter SICILIAMIGRANTI - Juni 2017

  • Ein System, das die Menschenwürde mit Füßen tritt: von der Prozedur der Identifikation bis hin zum Leben in den Aufnahmezentren.
  • Schuldig aufgrund von Solidarität. Die Kriminalisierungskampagne gegen die Hilfeleistung für Migrant*innen geht weiter
  • Die behelfsmäßige Aufnahme der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten: Business auf dem Rücken der Jüngsten.
  • Aus den Augen verloren. Besuch im CAS* “MONDONUOVO” von Testa dell’Acqua (SR)
  • Weiter Rückführungen aus Lampedusa, während sich die Situation in den Hotspots verschlechtert.
  • News: Trapani, im Hotspot das stündlich fünf Migrant*innen aufnimmt (seit Dezember 2015). Auf dem Weg zu einer Zink-Barackenstadt für Migrant*innen in Messina-Bisconte.
  • Events: Kontroversen in der europäischen Migrationspolitik – Schutzgewährung versus Grenzsicherung (KideM). Startschuss für die Crowdfundingkampagne von Thraedable, einem sozial engagierten Unternehmen, das von Ausgrenzung erzählende Schicksale in faire Kleidung verwandelt.
  • Informationen und Kontakt

EIN SYSTEM, DAS DIE MENSCHENWÜRDE MIT FÜßEN TRITT: VON DER PROZEDUR DER IDENTIFIKATION BIS HIN ZUM LEBEN IN DEN AUFNAHMEZENTREN

Das Fehlen von Aufenthaltsräumen, mangelhafte hygienische Bedingungen, systematische Vorenthaltung der eigenen Rechte, gemischte Unterbringung: das ist das Bild, das der erste Bericht des Staatsbeauftragten für die Rechte der Inhaftierten und der Freiheitsberaubten über die Lage in den Erstaufnahmezentren zeichnet. Laut diesem werden in den CIE* und in den Hotspots die „grundsätzlichen Bedingungen der persönlichen Würde“ nicht garantiert. Kritisiert werden außerdem die Identifikationsverfahren. Diese verlangsamen die Ankunftsprozedur und muten den Migrant*innen aufreibende Wartezeiten zu.



Am 28 Mai legt das Schiff Vos Thalassa mit 1.040 Menschen in Palermo an. Männer, Frauen und Kinder, zusammengepfercht wie Tiere. Die geretteten Migrant*innen blieben vier Tage auf dem Schiff. Ihnen stand nur eine einzige sanitäre Einrichtung zur Verfügung. Ausreichend Nahrung gab es nicht. Durchnässt schliefen sie im Freien. Sie reisten Seite an Seite mit sieben geborgenen Leichen, die von fünf Frauen und zwei Jugendlichen.


Auch für die auf dem Meer Gestorbenen, ist das Aufnahmesystem weit davon entfernt, Würde und Respekt zu garantieren. Erst vier Monate nach dem Tod der 5 und 8-jährigen Geschwister aus der Elfenbeinküste am 29. Januar dieses Jahrs sind diese endlich in der Gemeinde Valderice (TP) bestattet worden. Es waren einige Gäste anwesend, darunter ein paar Bewohner*innen des nahen Aufnahmezentrums sowie die 16-jährige Schwester der Verstorbenen, die endlich von ihren Geschwistern Abschied nehmen durfte und ihre Mutter damit trösten konnte, dass sie endlich in dem nackten Boden bestattet wurden.



SCHULDIG AUFGRUND VON SOLIDARITÄT. DIE KRIMINALISIERUNGSKAMPAGNE GEGEN DIE HILFELEISTUNG FÜR MIGRANT*INNEN GEHT WEITER

Heute wird es immer schwieriger, die Migrant*innen über ihre Rechte zu informieren oder die Pflicht auszuüben, ihnen zu Hilfe zu eilen oder sie zu unterstützen. Die diffamierende Kampagne gegen die NGOs im Mittelmeer erreicht nun ihren Tiefpunkt, aber es werden auch Anwält*innen, Mitarbeiter*innen, Aktivist*innen oder einfache Bürger*innen ins Visier genommen, die alle in Wirklichkeit lediglich ihre Pflicht erfüllen und die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit respektieren, die von den internationalen Abkommen und von unserer Verfassung vorgegeben sind.


Trotz allem bleibt die Rolle der Nichtregierungsorganisationen sehr wichtig. Nicht nur aufgrund der Rettung von hunderten von Menschenleben auf dem Meer, sondern vor allem, weil die geretteten Migrant*innen als Menschen anerkannt und auch wie solche behandelt werden. Die Reflexion von Pater Domenico Guarino, Combonianer-Missionar, ist auf zwei Ankünfte in Palermo innerhalb von acht Tagen begründet. Die des Schiffes Vos Prudence von Ärzte ohne Grenzen (MsF) und die des Schiffes Diciotti der Küstenwache. Es stellt so zwei verschiedene Arten der Herangehensweise an die Realität der Einwanderung einander gegenüber.  




DIE BEHELFSMÄßIGE AUFNAHME DER UNBEGLEITETEN MINDERJÄHRIGEN GEFLÜCHTETEN: BUSINESS AUF DEM RÜCKEN DER JÜNGSTEN

K., 16 Jahre alt, ist vor sechs Monaten in Trapani angekommen. Nach seiner Identifizierung im Hotspot von Milo wurde er in einem Erstaufnahmezentrum für unbegleitete minderjährige Geflüchtete in der Provinz Palermo untergebracht. Auf einem Ohr hört er nur sehr wenig, weil er grausam verprügelt wurde, und auf den Schultern sind wie es scheint Brandzeichen von Feuer. Wir haben ihn auf der Straße angetroffen, zusammen mit vielen anderen Jugendlichen, welche die Zentren für unbegleitete Minderjährige verlassen. Diese werden problemlos in ganz Sizilien eröffnet, ohne jegliche Logik oder Planung, nur mit Gedanken an das „Aufnahme-Business“.



Das Erstaufnahmezentrum für unbegleitete minderjährige Geflüchtete „Il Nespolo“ in Butera, in der Region Caltanissetta, hat seit seiner Eröffnung dutzende Fälle von Flucht registriert. Ein weiterer Fall, in dem die kritische Situation und Problematik, die durch die improvisierte Aufnahme entstehen, die jungen Migrant*innen dazu veranlassen, sich von den Strukturen zu entfernen. Somit erhöht sich die Zahl der Unsichtbaren weiter.



AUS DEN AUGEN VERLOREN. BESUCH IM CAS* “MONDONUOVO” VON TESTA DELL’ACQUA (SR)

Das CAS* “MONDONUOVO” befindet sich auf dem Land, zwei Kilometer von Testa dell’Acqua entfernt, einem Ortsteil von Noto, mit kaum mehr als 500 Einwohner*innen. Der Ort liegt sowohl von Syrakus wie auch von Palazzolo Acreide 15 Km entfernt. Das Zentrum hat die Erlaubnis bis zu 25 Personen zu beherbergen. Aktuell leben hier 55 Migrant*innen, mit Herkunft aus Bangladesch, Pakistan, Nigeria, Mali, Ghana und Libyen: alle mit einer Vergangenheit voller Gewalt, Armut und Missbrauch und einer Gegenwart voller Diskriminierung und Verlassenheit. 



WEITERE RÜCKFÜHRUNGEN AUS LAMPEDUSA, WÄHREND SICH DIE SITUATION IN DEN HOTSPOTS VERSCHLECHTERT

Auf Lampedusa werden regelmäßig Flüge für die Rückführung von Ägypter*innen, Nigerianer*innen und Tunesier*innen organisiert. Die letzten betrafen 19 Ägypter*innen und 20 Tunesier*innen. Jede Person wurde in Handschellen von mindestens zwei Beamt*innen in ein Flugzeug der Gesellschaft Smartwings begleitet. Obwohl auf Lampedusa der Betreiber der Hotspots gewechselt hat, scheint sich die Situation sogar verschlechtert zu haben. In der vergangenen Woche liefen Menschen im Stadtzentrum in Schlafanzügen herum, weil die Kleidervorräte zur Neige gegangen waren und nicht genügend Betten und Decken zur Verfügung standen, wodurch die Ankömmlinge gezwungen waren im Freien zu schlafen.



NEWS: TRAPANI, IM HOTSPOT DAS STÜNDLICH FÜNF MIGRANT*INNEN AUFNIMMT (SEIT DEZEMBER 2015). AUF DEM WEG ZU EINER ZINK-BARACKENSTADT FÜR MIGRANT*INNEN IN MESSINA-BISCONTE.

Italien zählt acht Hotspots. Über diese Einrichtungen kommen die Migrant*innen von Afrika und dem Mittleren Osten nach Europa. Hier werden ihnen die Fingerabdrücke abgenommen und sie werden identifiziert, bevor sie auf die Aufnahmezentren verteilt werden. In Trapani haben seit Dezember 2015 25.800 Personen das Zentrum in der Gegend Milo passiert.
Im Moment beträgt die Aufenthaltsdauer für unbegleitete Minderjährige nur vier Tage. Die Erwachsenen bleiben etwas länger als fünf Tage.


Den Asylsuchenden, die für die nächsten Monate in der ehemaligen Kaserne “Bisconte” in Messina bleiben, werden keine Unterkunft in den Holz-Fertighäuschen finden, die für die Erdbebenopfer in Mittelitalien genutzt wurden. Stattdessen sollen graue stählerne Zinkblöcke eingesetzt werden. 
In dem Rennen um die Ausschreibung für die Errichtung der neuen “Zeltstadt” für Migrant*innen (die in Wirklichkeit eine Barackenstadt aus Zink sein wird) hat am Ende, so scheint es, die Logik des Sparens an allen Ecken überwogen, offensichtlich auf Kosten der zukünftigen ausländischen „Gäste“.



EVENTS: KONTROVERSEN IN DER EUROPÄISCHEN MIGRATIONSPOLITIK – SCHUTZGEWÄHRUNG VERSUS GRENZSICHERUNG (KIDEM). STARTSCHUSS FÜR DIE CROWDFUNDINGKAMPAGNE VON THRAEDABLE, EINEM SOZIAL ENGAGIERTEN UNTERNEHMEN, DAS VON AUSGRENZUNG ERZÄHLENDE SCHICKSALE IN FAIRE KLEIDUNG VERWANDELT.

Im Rahmen des EU-Programms „Europe For Citizens“ haben Asyl in Not (A), Borderline Sicilia (I) und borderline-europe (D, Projektkoordination) in Zusammenarbeit mit Diktio (GR) vom 01.10.2015 bis zum 31.03.2017 umfassende Recherchen und Veranstaltungsreihen durchgeführt, in denen dieser grundlegende Konflikt länderspezifisch untersucht werden sollte. Unter diesem Link finden sich alle Events, die Produkte und der Abschlussbericht des Projektes.



Am 5. Juni hat die Crowdfundingkampagne von Thraedable begonnen. Indem man die T-Shirts und Taschen der 2017er Kollektion vorbestellt, kann man die gemeinnützigen Vereine, die in Tunesien, Sizilien und auf Lesbos arbeiten, unterstützen. Diese setzen sich ein für die Rechte von Kindern, die auf Sonnenlicht hypersensibel reagieren und deshalb gesellschaftlich isoliert aufwachsen, benachteiligte Jugendlichen, die sich bemühen, engagierte Staatsbürger*innen zu werden, Migrant*innen und Geflüchtete, die widerrechtlich in Haft genommen wurden und unbegleitete minderjährige Geflüchtete, die vom europäischen Aufnahmesystem ausgeschlossen werden.





INFORMATIONEN UND KONTAKT

Für weitere Informationen zu Spenden an Borderline Sizilia Onlus - Banca Etica Popolare di Palermo Agenzia di Via Catania, 24 IBAN IT 28 Q 0501804600000000141148 Codice BIC CCRTIT2T84A – und Neuigkeiten zur Lage in Sizilien, besuchen Sie unseren Blog.

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borderline-sicilia@libero.it 

*CAS - Centro di accoglienza straordinaria, außerordentliches Aufnahmezentrum

*CIE - Centro di Identificazione ed Espulsione: Abschiebungshaft

Übersetzung aus dem Italienischen von Moira-Lou Kröll