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Freitag, 4. August 2017

Nach der Ankunft bleiben die Menschenrechte auf der Strecke. Der Fall des Außerordentlichen Aufnahmezentrums von Rosolini

Mohamed und Ahmed (Namen von der Redaktion geändert) kommen am ersten Juli auf Sizilien an. Das schwedische Schiff Bkv 002, das sie mitten auf dem Meer aufgenommen hat, bringt sie zusammen mit weiteren 650 Migrant*innen und neun Leichnamen in den Hafen von Catania. „Es war unglaublich, als Europa nur noch zwei Schritte entfernt war“, beschreiben sie ihre Landung. So enthusiastisch klingen sie jedenfalls noch bei unserer ersten Begegnung im Hafen von Catania. 

Migrant*innen im Hafen von Augusta (Provinz Syrakus)


Überfüllte Einrichtungen und der Weg in die Unsichtbarkeit

Es dauert mehr als einen Tag, bis alle Passagiere des schwedischen Schiffs an Land gelassen werden. Mohamed und Ahmed, die sich vor vielen Monaten in Libyen kennengelernt haben und die das Schicksal bis zum heutigen Tag zusammengeschweißt hat, werden in einen Bus gesetzt, der sie auf einer mehrstündigen Fahrt durch finsterste Dunkelheit in ein Lager mit Hunderten weiteren Personen bringt.

„Unser Lager ist nicht gut, wir sind mehr als 200 Leute“, erzählen sie, als wir sie und weitere zehn Freunde einige Tage später in Pozzallo treffen. Bereits nach wenigen Rückfragen haben wir Gewissheit: Wie wir erwartet haben, wurden auch sie, genauso wie viele andere Migrant*innen in dieser Gegend, im Außerordentlichen Aufnahmezentrum (CAS) von Rosolini untergebracht.

Das von der Kommanditgesellschaft Alessandro Frasca SAS verwaltete Außerordentliche Aufnahmezentrum von Rosolini in der Provinz von Syrakus ist seit mehr als zwei Jahren in Betrieb. Es befindet sich in den Räumlichkeiten der ehemaligen Diskothek Piccadilly, fern des Stadtzentrums auf der langen Straße zu den Felsschluchten, die das Städtchen Rosolini von der nächsten Wohnsiedlung trennen. Wir wissen, dass das Obergeschoss des Gebäudes vor einigen Monaten restauriert wurde und dass seither regelmäßig die vorgesehene Obergrenze von 90 Personen überschritten wird. Dies führt zu eben jenen inakzeptablen Überfüllungszuständen, von denen Mohamed uns nun berichtet. „Als wir angekommen sind, haben sie uns neue Kleidung, ein Paar Schuhe, ein Handtuch und eine Zahnbürste ohne Zahnpasta gegeben. Für Duschgel oder Shampoo müssen wir uns jedes Mal bei den Angestellten des Zentrums melden. Wir sind jetzt seit sieben Tagen hier und das bedeutet, dass wir kein einziges mal unsere Anziehsachen gewaschen haben, weil wir ja keine anderen haben.“ Derart ihrer Würde und Rechte beraubt, aus Libyen nach Italien geflohen, nur um einmal mehr Nummer statt Person zu sein, fühlen sich Mohamed und Ahmed nun orientierungslos, verwirrt und der Warterei überdrüssig. Seit sie in Catania gelandet sind – wohlgemerkt auf dem selben Schiff, das auch die Toten ihrer Überfahrt transportierte – suchen sie jemanden, der sie wenigstens einmal nach Hause telefonieren lässt, um ihren Familien mitzuteilen, dass sie lebend angekommen sind. Bisher hat ihnen dies noch niemand gewährt.

Ihr tadelloses Englisch gestattet ihnen eine relativ problemfreie Kommunikation mit den Angestellten des Zentrums, aber die Informationen, die sie erhalten, sind unzureichend oder falsch. Tatsächlich meint keine*r der anwesenden Migrant*innen, mit denen wir ins Gespräch kommen – aus Pakistan, Afghanistan, Sierra Leone, Gambia und anderen subsaharischen Ländern – , genau verstanden zu haben, welche Schritte nun folgen müssen, um Papiere in Italien zu bekommen. Einige von ihnen sind erstaunt, als wir ihnen erklären, wo genau Sizilien im Vergleich zu anderen italienischen Städten liegt, andere glauben, dass Rosolini an den Grundstücksgrenzen des Aufnahmezentrums endet, denn bis heute hat man ihnen verboten, unbegleitet das Zentrum zu verlassen.

Das Verbot, sich alleine vom Zentrum zu entfernen und die große Einschränkung der Bewegungsfreiheit gehören zu den unrechtmäßigen Praktiken, die im CAS von Rosolini seit seiner Eröffnung gepflegt werden. Wie wir es in den letzten Jahren immer wieder öffentlich denunziert haben, verweigern die Verantwortlichen des Zentrums den Geflüchteten unter dem Vorwand, sie vor Erfahrungen mit Xenophobie und rassistischen Angriffen durch die Bewohner*innen von Rosolini zu schützen, den freien Ausgang aus der Einrichtung. Diese Entscheidung lässt sich nicht rechtfertigen, und doch hält das Leitungsteam des Zentrums an ihr und sucht akribisch nach Möglichkeiten, die Schwere ihrer Konsequenzen herunterzuspielen, zum Beispiel, indem es drei Mal in der Woche Busausflüge für kleinere Gruppen von „Gästen“ nach Pozzallo organisiert.

„Wir hausen in Schlafsälen mit zehn bis 20 Personen, manchmal sogar mehr. In den Zimmern ist der Boden komplett mit Matratzen bedeckt, der gesamte Platz wird zum Schlafen gebraucht und man kann nirgendwo mehr entlanglaufen. Es gibt ungefähr acht Duschen auf zwei Stockwerken, aber im Prinzip verbringen wir unsere Tage mit Schlangestehen: beim Mittagessen, beim Abendessen, vor den Badezimmern“, erzählt uns C. aus Gambia, der vor fast etwa einem Monat in Rosolini angekommen ist. „Seit Wochen bitte ich darum, einen Arzt aufsuchen zu dürfen, weil ich starken Husten habe, aber die Antwort lautet immer ‚Morgen, morgen‘ und so gehen die Schmerzen nicht weg.“ Die anderen Bewohner*innen bestätigen uns, dass im Zentrum seit Monaten Migrant*innen mit eindeutig prekärem Gesundheitszustand untergebracht sind. Es scheint, als sei die einzige Möglichkeit, ärztliche und sanitäre Hilfe zu bekommen, der Polibus der Hilfsorganisation Emergency, der dreimal in der Woche vor dem Zentrum Halt macht. 


Von der Landung zur Aufnahme: Kampf um Rechte
Im Zentrum von Rosolini leben auch zahlreiche pakistanische Jugendliche, die aus der Türkei kommend die sizilianische Küste erreicht haben und somit zu den nunmehr häufigen autonomen Schiffslandungen zählen, die in der Umgebung Syrakus‘ registriert werden. „Wir waren acht Tage auf dem Meer, bevor wir die italienische Küste gesehen haben. Wenig Essen und extrem wenig Wasser, die für viel Geld an uns verkauft wurden. Als die Polizei uns aufgriff, waren viele von uns noch im Delirium, aber man hat uns trotzdem viele, viele Tage im Hafen von Augusta festgehalten“, erzählt einer von ihnen, dessen Bekanntschaft wir wiederum in Pozzallo machen, einige Wochen nach unserer Begegnung mit Mohamed und Ahmed. Aus seiner Gruppe ist er der einzige, der Englisch spricht. „Am Hafen haben sie uns stark unter Druck gesetzt, damit wir die Fingerabdrücke abgeben – aber sie haben uns nichts erklärt. Werden wir deportiert? Können wir in ein anderes Zentrum gehen? Was passiert, wenn wir Italien verlassen? Ein paar von denen, die vor uns angekommen sind, haben ein paar Informationen bekommen, aber wir nicht. Abgesehen von denen hat niemand auf unsere Fragen geantwortet.“

Seit Monaten schon erzählen uns Migrant*innen im Hafen von Augusta ähnliche Geschichten: „Da waren auch Familien mit kleinen Kindern, die man ohne Essen festgehalten hat, bis sie sich dazu bereit erklärten, die Fotoidentifizierung machen zu lassen“, sagt C., der wenige Tage nach seiner Ankunft aus Italien geflohen ist. „Die Fingerabdrücke habe ich zwar abgegeben, aber ich weigere mich, mich einem Gesetz zu unterwerfen, dass jeden einzelnen meiner Schritte kontrollieren will, nur weil ich kein Europäer bin. Deswegen habe ich gleich die Flucht ergriffen.“ Ein Großteil der Migrant*innen, denen wir in den Zentren begegnen, scheint nicht angemessen über die Konsequenzen der Identifikationsmaßnahmen und über das Dublin-III-Abkommen aufgeklärt worden zu sein. Unrechtmäßige Praktiken sind immer noch an der Tagesordnung und das gleiche Recht auf Schutz scheint mehr und mehr zu einer Frage des Glücks und des Zufalls zu verkommen. Obwohl sich die Situation im Zeltlager von Augusta offenbar nur verschlechtert, wurde vonseiten der sogenannten Hilfsorganisationen, die seit Jahren Tag für Tag dort arbeiten, noch keine einzige Beschwerde laut.

Der Begriff „Deportation“ löst indes vonseiten der Migrant*innen einen ganzen Sturm von Sorgen und Fragen aus. „Wir verstehen überhaupt nichts von unserer Lage. Wir wissen nur, dass wir warten müssen, aber niemand sagt uns, worauf.“ Bedingungen, die so gerade das Überleben ermöglichen, und ein mehrere Monate währender Dauerzustand der Unwissenheit und prekärem Dasein – das sind die Umstände, die das Empfinden vieler „Gäste“ des Zentrums von Rosolini bestimmen. Und die Präfektur hört trotz Überfüllung mit 250 Personen nicht auf, weiterhin Ankömmlinge dorthin zu schicken, manchmal sogar aus dem entfernten Hotspot von Milo.

„Vor zwei Tagen hat sich eine Gruppe von etwa fünfzig Personen, vornehmlich pakistanischer Herkunft, selbstständig von der Einrichtung entfernt. Sie befanden sich am Rande des Erträglichen. Nach knapp 24 Stunden und vielen Kilometern Fußmarschs inmitten des Nichts sind sie zum Zentrum zurückgekehrt. Die Leiter*innen des Zentrums haben die Polizei gerufen. Nach der Unterredung mit den Beamt*innen und einer Nacht auf der Straße wurden sie wieder ins Zentrum gelassen – in der Hoffnung, so bald wie möglich versetzt zu werden.“ Offenbar ist C. besonders daran gelegen, uns diese Geschichte zu erzählen. Gleichzeitig übersetzt er unsere Unterhaltung für die anderen anwesenden Jugendlichen in Urdu, so, wie er es auch für die alltägliche Kommunikation mit den Angestellten des Zentrums tut. Nicht einer der Pakistaner*innen konnte bisher einen Integrationshelfer treffen, obwohl doch einige von ihnen schon vor drei Monaten angekommen sind.

Einige Wochen später sieht die Situation im CAS immer dramatischer aus – wozu unter anderem die unerträgliche Hitze, weitere Neuzugänge und die Erschöpfung der Angestellten beitragen. „Uns geht es nicht einfach nur ums Überleben, wir wollen uns eine Zukunft aufbauen, wie es jede*r andere Italiener*in auch tun könnte“, sagt C. „So wie ich es geschafft habe hierherzkommen, glaube ich auch, dass es mir gelingen wird, bessere Lebensbedingungen zu finden. Viele zu sein bedeutet einerseits, dass viele nicht gehört werden, andererseits bedeutet es aber auch, eine Gruppe von Personen um sich zu haben, auf die man zählen kann.“


Lucia Borghi

Borderline Sicilia



Aus dem Italienischen übersetzt von Laura Strack