Agenzia.redattoresociale.it - Ein Bericht der Organisation Borderline Sicilia bringt Tatsachen ans Licht über die Verhaftungen von Migrant*innen, die Boote steuern: "Wir stellen oft fest, dass sich die Ermittler*innen in Personen verbeißen, die weder kriminell und schon gar keine Menschenhändler sind, sondern Opfer wie alle anderen."
PALERMO – "Die Kriminalisierung der Flucht und der Hilfe an Migrant*innen auf der Durchreise" muss ein Ende haben. Das verlangt Borderline Sicilia während der gestrigen Präsentation ihres internationalen Berichtes in der Ex Real Fonderia in Palermo. Dieser hat die letzten 18 Monate die Situation in Deutschland, Italien, Österreich und Griechenland verfolgt. Diese Untersuchung wurde gestern gleichzeitig auch in Berlin und Wien vorgestellt. Sie soll die komplexe Realität der unterschiedlichen Motivationen zur Flucht und die damit verbundene Gefahr des Menschenhandels ans Licht bringen. So haben die Organisationen Borderline-Europe (Deutschland), Borderline Sicilia (Italien), Asyl in Not (Österreich) und Diktio (Griechenland) diese Themen untersucht und auf welche Art und Weise sie in der europäischen Migrationspolitik angegangen werden. Zu diesem Zweck wurden internationale Vereinbarungen (wie zum Beispiel das "Facilitor's Package") und ihre Umsetzung in europäische Richtlinien und nationale Gesetzgebungen analysiert. Parallel dazu wurde die Strafverfolgung von vermeintlichen Schlepper dokumentiert, die von "Rassismus und Diskriminierung" geprägten institutionellen Praktiken, und die "Stigmatisierung der Fluchthelfer*innen“ und der Geflüchteten selbst.
Judith Gleitze von Borderline-Europe erklärt: "Wir haben in den letzten Jahren festgestellt, dass immer häufiger (und das vor allem in Italien) sogenannte Schlepper verhaftet werden. Später stellt sich heraus, dass auch sie Migrant*innen auf der Flucht und Opfer des Menschenhandels in Libyen sind. Sie werden bei ihrer Ankunft verhaftet, aufgrund der Tatsache, dass sie einen Kompass oder das Steuerruder der Boote in der Hand hielten. Wir wissen, dass in den meisten Fällen die Leute unter Gewaltanwendung gezwungen wurden, das Boot zu steuern. Darum verlangen wir vor allem von den zuständigen Institutionen aber auch von den Medien, den vermeintlichen Schlepper, ein Geflüchteter wie alle anderen Migranten, von den skrupellosen Menschenschmugglern zu unterscheiden, denn das ist ein gewaltiger Unterschied."
Lucia Borghi, die Projektverantwortliche für Italien von Borderline-Sicilia unterstreicht: "Weil es keine legalen Einreisemöglichkeiten gibt suchen die Migranten nach Alternativen für den Eintritt in die EU, die sie unweigerlich in die Fänge der libyschen Menschenhändler treiben. Die vielen individuellen Berichte die wir gesammelt haben zeigen, dass die Rechte und Gesetze zum Schutz des Individuums nicht mehr gelten, sobald einer als Schleuser verdächtigt und somit kriminalisiert wird, und hierbei dem stereotypen Bild des Schuldigen unter allen Umständen gefolgt wird.“
Lucia Borghi erläutert weiter: "Leider stellen wir bei jeder Anlandung den klaren Willen fest, „notwendigerweise“ „schuldige vermeintliche Schlepper“ ausfindig zu machen, die möglicherweise später aber dank der Intervention von Anwält*innen wieder frei gelassen werden. Wir haben es also mit einer italienischen Strategie zu tun: vor allem Europa muss mit Zahlen gefüttert werden. Diese Strategie wird auch noch weiter von der Rolle der Massenmedien angetrieben, die die vermeintlichen Schleuser zum Kriminellen erklären, die der Justiz zugeführt werden müssen. Wir halten aber fest, dass ein großes Stück Arbeit bei der kulturellen Sensibilisierung geleistet werden muss, um Klarheit zu schaffen zwischen einem vermeintlichen Schleuser und dem wirklich kriminellen Menschenhändler."
"Es dürfen keine Menschen benützt werden, um Europa Antworten zu liefern", betont auch Alberto Biondo von Borderline Sicilia. "Es muss einfach klargemacht werden, was im Mittelmeer und vor der libyschen Küsten geschieht, ohne Menschen auszunutzen.“
Michele Telaro von Ärzte ohne Grenzen erläutert: "Für uns ist klar, dass jemand, der auf diesen Seereisen unter diesen Bedingungen sein Leben riskiert, nicht kriminalisiert werden kann. Vor einigen Jahren mag das noch so gewesen sein, dass gewisse Boote von tatsächlichen Kriminellen gesteuert wurden. Heute wissen wir, dass auch einer, der ein Boot führt, ein*e Migrant*in wie alle anderen ist und häufig unter Gewaltandrohung dazu gezwungen wurde oder die Aufgabe übernommen hat, um sich damit die Reise zu finanzieren. Wir haben absolut nichts dagegen, dass die Justizbehörden ihre Arbeit machen, aber wir denken, dass das heute anders ablaufen sollte. Allzu oft erleben wir aggressive Verhöre der Migrant*innen, die weder kriminell und noch weniger Menschenhändler sind, sondern Opfer wie alle anderen.“
Die Anwältin Germana Graceffo, Mitarbeiterin der Studie, bestätigt: "Die Arbeit der Anwält*innen, die diese Migrant*innen betreuen, ist ausschlaggebend für ihre Freilassung. Auf nationaler Ebene fordern wir erhöhte Aufmerksamkeit, was die Nichteinhaltung der Menschenrechte der Migrant*innen auf der Durchreise betrifft. Bereits früher haben wir auf internationaler Ebene das Greta (Expertengruppe der Europäischen Union für Menschenhandel) aufgefordert, in die Definition der Opfer von Menschenhandel auch die verdächtigten Bootsführer aufzunehmen. Es handelt sich um Opfer, die wie alle andern ihr Leben riskieren, denn sie werden wie Sklaven der libyschen Menschenhändler gezwungen, das Steuer der Boote zu übernehmen. Sie dürfen nicht kriminalisiert werden, wenn man bedenkt, welche Notwendigkeit sie dazu geführt hat, die Meeresüberfahrt zu wagen."
Serena Termini
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne
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Freitag, 19. Mai 2017
Migrant*innen, Borderline Sicilia: " Die Unterscheidung zwischen vermeintlichen Schleusern und Menschenhändlern"
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