Derzeit findet in Italien eine massive Medienhetze
gegen die zivilen Seenotrettungs-
Organisationen im Mittelmeer statt. Nicht nur
Frontex, auch Staatsanwaltschaften und Politiker*innen versuchen, die NGOs zu
diskreditieren. Eine Lagebeschreibung aus Italien
Von Judith Gleitze,
borderline-europe Sizilien
„Es ist eine unerträgliche Heuchelei, vor allem,
wenn diese Angriffe von jemandem kommen, der eine politische Rolle bekleidet […] Die Existenz der „Schmuggler“, des kriminellen Systems, das diese
Überfahrten der Migrant*innen nach Europa in den meisten der Fälle organisiert,
sind eine direkte Folge der europäischen und der nationalen Migrationspolitiken
(und dies seit dem Schengener Abkommen 1985).“ So Antonio Cinieri auf seinem
Blog „Migr-azioni“ (5).
Seit öffentlich wurde, dass nicht nur Frontex
gegen die NGOs schießt, die im Mittelmeer Menschenleben retten, ist das Thema
in Italien hochgekocht. Die italienische Staatsanwaltschaft, hier federführend
Carmelo Zuccaro aus Catania (aber auch die Staatsanwaltschaften in Palermo und
Cagliari untersuchen die Zusammenhänge NGOs-Libyen),
betont immer wieder, es gebe Anzeichen dafür, dass „einige NGOs und die Trafficker in Libyen in direktem Kontakt
stehen“. Man sei „ziemlich sicher“, so Zuccaro, dass das stimme(4). Aber
ziemlich sicher ist eine mehr als vage Aussage eines Staatsanwaltes, der seit dem
Unglück vom Dritten Oktober 2013 vor Lampedusa in einer fünfköpfigen Kommission
zur Untersuchung von Schiffsunglücken (von Flüchtlingsbooten) arbeitet. Es ist
zudem mehr als fraglich, warum ein Staatsanwalt sich mit diesen Äußerungen
immer wieder aus dem Fenster lehnen muss. Seine Rolle sollte schließlich nicht
die eines Politikers sein, der auf Wählerstimmenfang geht, sondern die eines Mann
des Gesetzes, und als solcher hat er entweder Beweise oder er hat keine –
„ziemlich sicher“ ist da eine sehr unglückliche Aussage. Doch sei auch nach den
Anhörungen vor der Schengen-Kommission in Rom, in der u.a. Proactiva und SOS
Mediteranée neben Eunavfor Med angehört wurden, doch „klar, was los ist“, so
Zuccaro. „Während der Ostertage sind 8.500 Menschen angekommen. An der
libyschen Küste warteten in den letzten Tagen viele Schiffe darauf loszufahren,
das wirkte wie die Anlandung der Alliierten in der Normandie. Wir müssen uns
beeilen. Wichtig ist es, dem Phänomen zu begegnen: nicht nur in juristischer
Weise, denn es kann nicht nur hier gelöst werden, sondern ein komplexes
Vorgehen ist vonnöten(1)“. Was auch immer das bedeuten mag. Zuccaro hat sich
vor allem an der Finanzierung der NGOs festgebissen, da er sich nicht
vorstellen kann, dass es tatsächlich eine breite öffentliche Zustimmung für die
Rettungsaktionen gibt, die sich auch in Spendengeldern niederschlägt. Als wäre
es eine illegitime Handlung wirft er die Frage auf, warum sich die NGOs vom
Multimilliardär George Soros finanzieren lassen(4). Abgesehen davon, dass Soros
mit seiner Open Society Foundation sehr viele Projekte in Italien unterstützt
und darin also zumindest nichts unrechtsmäßiges zu sehen ist, erhält keine der
NOGs Mittel von Soros. Zudem legt jede NGO ihre Jahresbilanz offen, geheime
Gelder aus libyschen Schlepperorganisationen sind dort ganz sicher nicht zu
finden. Doch Zuccaro lässt nicht locker: Am 27. April werden Mitschnitte aus
einer Fernsehsendung des Vorabends veröffentlicht, in der der Staatsanwalt noch
weiter geht. Deutschen NGOs und MOAS (über die Spanier verliert er nie ein
Wort, MSF und Save the Children nimmt er auch hier wieder aus) unterstellt er, dass
einige der NGOs direkt über die Trafficker
finanziert sein könnten, er wisse von Kontakten. Dieser traffic laufe genauso gut wie der Drogenhandel. Noch beunruhigender
sei, dass einige der NGOs vielleicht ganz andere Ziele haben, so z.B. die
italienische Wirtschaft zu destabilisieren. Die Untersuchungen seien noch nicht
abgeschlossen, von Beweisen könne man erst sprechen, wenn man vor Gericht gehe.
Es gebe jedoch direkte Kontakte zu Menschen in Libyen, die die Abfahrt von
Booten ankündigen. Und es gebe NGOs, die nicht die Regeln einhalten, so Zuccaro(7a).
In diesen Reigen haben sich nun auch Beppe Grillo
und Luigi Di Maio eingereiht, Gründer und Vizevorsitzender der
Abgeordnetenkammer der Partei „Movimento 5 stelle“. Man müsse die Rollen der
NGOs genau beleuchten, schließlich seien ja auch Frontex und die Staatsanwaltschaft
dem Übel auf der Spur, man stehe als Partei „5 stelle“ ja nicht alleine da mit
dieser Meinung. Wer sich da wehre, der habe sicher etwas zu verbergen [sic!].
Die Partei hat nun eine „vorrangige Anhörung“ vor der europäischen Kommission
beantragt, um die Rolle der NGOs im Mittelmeer zu klären(1). Aber auch die Lega
Nord schreit nun danach, die NGO-Schiffe zu blockieren und ihnen die Einfahrt
in italienische Gewässer zu verbieten(7a).
Besonders übel in dieser Verleumdungskampagne ist
der Versuch, einen Keil zwischen die verschiedenen NGOs zu treiben. Zuccaro hat
in einem Interview mit der Tageszeitung „La Stampa“ (8) explizit die beiden mit
Italien verbundenen NGOs MSF (Ärzte ohne Grenzen) und Save the Children von
den Vorwürfen ausgenommen und richtet
seine Angriffe gezielt auf die deutschen NGOs und die maltesische MOAS(1).
Einer der Vorwürfe – abgesehen von den angeblichen direkten Telefonaten mit den Schleppern in Libyen – ist, dass die
NGO-Schiffe des nachts beleuchtet seien und damit die Richtung für die
Schlepper angeben würden. „Selbstverständlich sind unsere Schiffe bei Nacht
beleuchtet, das ist Vorschrift.”, erklärt Axel Grafmanns von der Sea- Watch(7).
Zuccaro fordert: „Für die unter Verdacht stehenden [NGOs] müssen wir
feststellen, was sie machen. Für die Guten muss hingegen die Frage gestellt werden,
ob es richtig und normal ist, dass die europäischen Regierungen es ihnen
überlassen sollten zu entscheiden, wie und wo sie im Mittelmeer intervenieren“(4).
Lässt man sich das einmal auf der Zunge zergehen bedeutet das: Zuccaro ruft die
die Nationalstaaten auf ihre NGOs, die in internationalen Gewässern(!)
operieren, zurückzupfeifen! Betont werden sollte hierbei vielleicht noch
einmal: alle NGOs kooperieren in den Rettungsoperationen immer mit der
Einsatzzentrale der Seenotrettung, dem Maritime Rescue Coordination Center (MRCC)
in Rom und handeln nicht auf eigene Faust!
Und da kommen wir
auch schon zu der unschönen „Pull-Faktor“ Diskussion: mehr NGO-Schiffe bedeuten
mehr Abfahrten. Diese Unterstellung hat nun gerade eine Studie widerlegt, in
der dieser Zusammenhang untersucht wurde. Es zeigte sich, dass gerade bei
weniger Rettungsschiffen mehr Geflüchtete losgefahren sind (1a). Andrea
Spinelli Barrile erklärt in seinem Artikel in der International Business Times:
Die Polemik hätte begonnen, als die Financial Times (1b) einen Frontex-Bericht
veröffentlichte, in dem von „ungewollten Konsequenzen“ – also dem „Pull-Faktor“
– die Rede war.
Im Übrigen ist es
nicht wahr, wie z.B Grillo und Di Maio behaupten, dass in dem Frontex-Bericht
etwas von NGOs als „Taxis für Geflüchtete“ steht(2a). In einem Interview in der
deutschen Tageszeitung „Die Welt“ (1c) wurde dann Fabrice Leggeri, Direktor der
Grenzschutzagentur Frontex, zitiert, der diesen Vorwurf aufgriff. Wie aber, so
Spinelli Barrile, könne man von einem „Pull-Faktor“ sprechen, als ob die
Geflüchteten in Libyen irgendeine Freiheit hätten, wann, wie und von wo sie
losfahren oder eben auch nicht losfahren?
„Vielleicht sollte
man diese Diskussion einmal umkehren: Was, wenn die zurückweisende und
sicherheitsdenkende Politik der „Pull-Faktor“ wäre und nicht die NGOs? Laut
Samer Haddadin, Leiter des UNHCR in Tripolis versuchen umso mehr Migrant*innen
Libyen schnellstens auf dem Seeweg zu verlassen je lauter die europäischen
Politiker*innen die Invasion und die Zurückweisungen beschreien. Heute sagt ein
Trafficker zu seinen Opfern: ‚Wenn du
nicht jetzt losfährst, wo Europa noch gut zu erreichen ist, wirst du morgen
nicht mehr die Sicherheit haben zu fahren (…) Es handelt sich um eine Marketing-Technik
(4).“ Sprich: ob nun NGO-Rettungsschiffe vor der Küste liegen oder nicht, es
heißt jetzt loszufahren. Diese Aussage hat sich auch in den ersten Monaten des
Jahres bewahrheitet, in denen nur zwei zivile Rettungsschiffe in der Zone
unterwegs waren, aber trotz des schlechten Wetters 15.844 Geflüchtete abgefahren
sind (interne Daten des Innenministeriums vom 01.01.- 06.03.2017). Im Jahr
zuvor waren es im gleichen Zeitraum 9.101 Personen. Frontex hingegen hält sich
vornehm zurück.
In einem Interview mit
Zach Campbell in „The Intercept“ (10) sagte ein Frontex – Mitarbeiter, der
nicht genannt werden möchte: „Um nicht zum „Pull-Faktor“ zu werden
patrouillieren unsere Schiffe nur nördlich von Malta. Wir fahren nicht runter
bis zu den libyschen Gewässern.“ Davon, so der Mitarbeiter, ließen sich die
Migrant*innen abhalten und führen nicht los. Doch die IOM (International
Organisation for Migration) sieht das anders: Anfang April seien schon ca.
25.000 Menschen losgefahren und mehr als 600 seien umgekommen. Viele der
Migrant*innen seien auch bis in das Gebiet nördlich von Malta gekommen, doch
seien sie keinen NGO-Schiffen begegnet. Und dort wohl auch keinem vom Frontex…
Mit dem Anstieg der Abfahrtszahlen und der europäischen Illusion durch die
Verträge mit Staaten wie der Türkei und Libyen ließe sich einfach alles regeln,
habe man nur die NGOs auf den Plan getrieben, so Spinelli Barrile (4). „Die
Zahl der NGOs im Mittelmeer ist aufgrund der Abwesenheit von Frontex
angestiegen. Internationale Verpflichtungen wie die Seenotrettung sind nicht
optional, und die NGOs helfen letztendlich den europäischen Regierungen, diese
Verpflichtungen einzuhalten – [das ist die Realität], und nicht das Gegenteil(4).“
Das unterstützt auch die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF): „Es gibt keine Beweise, dass die Rettungen einen „Pull-Faktor“ haben.
Verzweifelte Menschen, gefolterte Menschen, die Kriege, Verfolgung und Armut erlebt
haben werden weiterhin über das Mittelmeer fahren und dort sterben. Und das
werden sie so lange tun, bis es legale und sichere Einreisewege gibt um in
Europa Schutz zu finden und ein europäisches System, das hilft und auf See
rettet(1).“
Doch inzwischen
werden auch exil-eritreische Persönlichkeiten wie Don Mussie Zerai und Meron Estefanos angegriffen. Zerai ist
ein eritreischer Pater mit Wohnsitz in der Schweiz, dessen Telefonnummer seit
Jahren unter den eritreischen Geflüchteten weitergegeben wird und der dadurch
sehr viele Notrufe erhält. Estefanos lebt in Schweden und erhielt im Jahr 2010
den ersten Notruf eritreischer Geflüchteter in Seenot. Seitdem wird auch sie
regelmäßig von Geflüchteten kontaktiert(4). Zerai hat über Jahre die Notrufe über
Facebook öffentlich gemacht. Heute gibt er sie, wenn es ihm an Kapazitäten
mangelt, auch an die Kolleg*innen des Alarm Phone weiter (www.alarmphone.org). Nun wird
Zerai und Estefanos vorgeworfen, sie seien die „Mittelsmenschen“ zwischen den Traffickern und den Geflüchteten(11).
Ärzte ohne Grenzen sind
nicht nur mit ihrem Rettungsschiff auf dem Mittelmeer aktiv, sie gehen in
Libyen auch in sieben Haftzentren für Migrant*innen. Der Generaldirektor von
MSF, Arjan Hehenkamp, sieht die Schuldzuweisungen
gegen die NGOs vor allem in den anstehenden Wahlen begründet: „Wir sind im
Wahlkampf. Frankreich, Deutschland und Italien, das politische Risiko ist sehr
hoch. Das Ziel ist es, die Abfahrten zu stoppen, den Mut zu nehmen, um die
öffentliche Meinung zufriedenzustellen. Es ist eine Einschüchterungskampagne
gegen die NGOs im Gange um auch die Spendenfreudigkeit der Bürger*innen
einzudämmen[…] Die Polemiken haben keine Grundlage und es ist mehr als traurig, dass man
das auch noch erklären muss(12).“ Hehenkamp sagt, dass man alles daransetzen
müsse, den Migrant*innen zur Flucht aus Libyen zur verhelfen, die Hilfe der
NGOs sei unbedingt notwendig(4).
MSF hat
sich entschieden, am 2. Mai in einer Anhörung in der Verteidigungskommission
des Senats in Rom an die Öffentlichkeit zu gehen, da die Organisation sich
keine falschen Hoffnungen macht. Auch wenn Staatsanwalt Zuccaro sie aus der Schusslinie
genommen hat, wissen sie doch sehr gut, dass sich das jeden Tag wieder ändern
kann. „Die Anschuldigungen gegen die NGOs auf See sind schandbar, und noch
schandbarer ist es, dass es Politiker*innen sind, die das Ganze mit falschen
Verlautbarungen vorantreiben, die den Hass schüren und Organisationen
diskreditieren, deren alleiniges Ziel die Rettung von Menschenleben ist“, so
Loris De Filippi, Präsident von MSF Italien(1). Ebenso wie die anderen NGOs
erklärt MSF, dass ihre Arbeit auf See rein privat finanziert sei, man folge dem
Seerecht und operiere in internationalen Gewässern. In libysche Gewässer fahre
man nur in Notfällen und mit Autorisierung der Behörden (Libyen, Italien) ein.
Anrufe von Traffickern habe man
niemals erhalten.
MSF wie
auch die deutsche Organisation Sea-Watch sind gegebenenfalls bereit, Anzeige
wegen Verleumdung zu erstatten. "Dass ein Vertreter der Justiz öffentlich
Phantasievorwürfe gegen humanitäre Organisationen erhebt, ohne auch nur einmal
mit den selbigen zu sprechen, ist ein Skandal. Zuccaro macht sich zum Teil
einer Verleumdungskampagne gegen uns, die Vertreter von Frontex oder Lega Nord
derzeit vorantreiben. Er sagt selbst, dass er noch nicht einmal weiß, wie er
die angeblichen Beweise einsetzen will, und trotzdem beteiligt er sich an übler
Stimmungsmache. Sea-Watch prüft deshalb derzeit die Rechtslage in Italien
bezüglich einer Anzeige wegen übler Nachrede”, so Sea-Watch Geschäftsführer
Axel Grafmanns(7). MSF überlegt, wie die Organisation nun zum eigenen Schutz handeln sollte,
um die durch die Angriffe beschädigte Glaubwürdigkeit wiederherzustellen(3). Save the Children hingegen scheint die
Rolle, die ihnen Staatsanwalt Zuccaro zugeteilt hat, indem dieser MSF und Save
aus der Schusslinie genommen hat, dankbar anzunehmen. Ein unschöner Schritt in
einer Zeit, in der alle Rettungs-NGOs zusammenhalten sollten. „Ich bin sehr
froh über die Unterscheidung, die Staatsanwalt Zuccaro vom ersten Moment an
vorgenommen hat (…), indem er uns und MSF als über jeden Verdacht erhaben
bezeichnet. Und ich danke Gentiloni [italienischer Ministerpräsident, Anmerk.
Der Autorin], dass man nicht einen Generalverdacht gegen NGOs, die seit vielen
Jahren Menschen in allen Teilen der Welt helfen zu überleben, aussprechen
sollte. Ich kenne nicht viele der anderen Menschenrechtsorganisationen, die in
den letzten Jahren entstanden sind. Aber diese ganzen Animositäten gegen
diejenigen, die Menschenleben vor dem Tode retten ist schon überraschend“,
sagte der Generaldirektor von Save the Children Italien, Valerio Neri, der
italienischen Tageszeitung „La Repubblica“ (3).
Die Organisationen INTERSOS (die sich ebenfalls mit
unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten beschäftigen) und SOS Mediterranée
(die selbst den Angriffen ausgesetzt ist) halten ebenso dagegen wie MSF, Sea-Watch
und auch MOAS. Es ist jedoch wirklich unfassbar, dass sie sich überhaupt
verteidigen müssen.
Das finden auch der Schriftsteller und Journalist
Roberto Saviano (bekannt durch sein Buch „Gomorra“) und Erri de Luca, einer der
bekanntesten zeitgenössischen Schriftsteller und Gelehrten Italiens. De Luca
hat zwei Wochen auf der „Prudence“, dem Schiff von MSF, auf dem Meer zugebracht
und die Rettungseinsätze selber erlebt. Saviano hingegen hatte sofort auf die
ausfallenden Angriffe Di Maios von der Partei „5 stelle“ reagiert: „Das ist ein
unverantwortliches Verhalten, solche vagen Anschuldigungen gegen diejenigen zu
richten, die Leben retten und sie mit Schmutz zu bewerfen(3).“ Auch De Luca ist
der Meinung, dass diese Anschuldigungen weder Hand noch Fuß haben. Eine
wichtige Stimme in der derzeitigen Schlammschlacht. In einem Interview mit der
Tageszeitung „Huffington Post” berichtet er über seine Zeit an Bord der
„Prudence“: „Verdächtigungen, die man nur als Verleumdung bezeichnen kann: es
gibt nichts, worauf sie sich stützen könnten. Die Trafficker haben es nicht nötig, mit den Rettern in Kontakt zu
stehen. Denn dort, wo sie tätig sind, in der so genannten „Search and Rescue“
Zone, sind schon die libyschen Fischerboote, und die fischen da sicher keine
Fische, sondern holen sich die Boote [respektive die Motoren, Anm. der Autorin]
zurück. Die Libyer patrouillieren mit den Fischerbooten und wissen genau wer da
ist und wer nicht. Sie schicken die Flüchtlingsboote, egal wer da gerade ist.
Einzige Bedingung ist: das Meer muss ruhig sein. Nicht, weil sie so freundlich
sind, sondern weil ein Boot mit 150 Menschen und einem Außenbordmotor mit 40 PS
sonst keinen Meter vorankäme. Sie lassen sie losfahren sobald das Wetter gut
ist. Und nun haben sie auch Eile, denn im Mai [wohl erst im Juni, Anmerk. der
Autorin] wird Europa der libyschen Küstenwache die neuen Schiffe übergeben. Die
Trafficker und Schlepper befreien
sich also schnellstmöglich von ihrem „Übergepäck“, da man nicht weiß, was dann
passiert. Wir haben von drei Booten erfahren, die nachts losgefahren sind. Wie
wir davon erfahren haben? Ganz einfach: An Bord sind Personen, die Arabisch
sprechen und die Social Media kontrollieren, mit Facebook ist es einfach, etwas
über die Abfahrten zu erfahren. (…) Eine weitere wichtige Sache: wieso redet
man laufend von den „Schleppern“, die es doch gar nicht mehr gibt an Bord? Auf
den Booten sind keine Fahrer. Die Schlepper
vertrauen das Steuer einem der Passagiere an, geben ihm einen Kompass und
sagen ihnen, in drei Stunden seid ihr in Italien und viel Glück.“ De Luca
berichtet im Zusammenhang mit der Unwissenheit der Migrant*innen am Steuer von
einem Rettungseinsatz, bei dem MSF den Migranten am Steuer bat, den Motor
auszustellen, doch er wusste nicht, wie das geht und ein Besatzungsmitglied von
MSF musste an Bord des Schlauchbootes gehen, um den Motor auszuschalten.
„Wer von Abkommen zwischen NGOs und Schleppern
spricht redet unüberlegtes Zeug. Sache ist doch die: die Präsenz der
unabhängigen Einheiten auf See stört. MSF hat Gelder der EU abgelehnt, um
freier agieren zu können. Sie stören, das ist der wahre Grund der Diffamierungskampagne.
Man will die Organisationen treffen, die die Einzigen da draußen sind, um
Menschenleben zu retten. Ohne sie wäre es eine Katastrophe. Es geht immer
darum, wer in der Politik die meisten Wählerstimmen bekommt. Aber diese
Rechnungen mitten auf See sind zu nichts nütze: dort gibt es keine
Wählerstimmen(2).“
Wohin
führen also Diffamierungskampagnen gegen die Rettungs-NGOs auf dem Mittelmeer?
Oder besser, wem nützen sie? Wie Erri De Luca sagt: der Politik, die sich mit
diesem Kampf ein geschlossenes Europa auf dem Rücken der Flüchtenden erhofft.
Sollte man nicht das Pferd einmal andersherum aufzäumen und davon sprechen,
dass die Zerstörung der Motoren und Schiffe durch den Einsatz der
europäischen Mission „Sofia“ von
Eunavfor Med ebenso dazu beigetragen hat, dass Menschen auf See sterben? Nicht
die NGOs sind der „Pull-Faktor“, die Menschen werden ohne legale Einreisewege
weiterhin die gefährliche Route über das Mittelmeer und die Dienste von oftmals
skrupellosen Traffickern und
Schleppern in Anspruch nehmen, da sie gar keine andere Chance haben. Diese aber
reagieren auf die Zerstörung ihrer Einsatzmittel, nicht auf die NGO-Schiffe.
Wenn man ihnen Motoren und Boote nimmt, setzen sie die Migrant*innen auf
billige und hochseeuntaugliche Schlauchboote mit schlechten Motoren. Nur so
lässt sich ihr ökonomischer Verlust in Grenzen halten.
Antonio
Ciniero führt aus: „Es gibt nur einen einfachen Weg: die Grenzen zu öffnen und
eine neue Migrationspolitik zu entwickeln, die Ankünfte in einer legalen und
sicheren Weise für diejenigen ermöglichen, die sich entscheiden zu emigrieren
und flüchten müssen. Das bedeutet, dass auch an einem neuen Modell der
Produktion und der Verteilung des Reichtums gearbeitet werden muss, ein Modell,
das den Menschen ins Zentrum des Ganzen setzt. Ein Modell, das die ökonomischen
Belange in die sozialen Beziehungen zurückführt. Ein System, das die aktuellen
weltweiten Machtverhältnisse zur Diskussion stellt. Die heutige Migration ist
nichts weiter als ein Zeichen für die Untragbarkeit des jetzigen politischen
und wirtschaftlichen Systems(5).“
In der ausführlichen Abhandlung der
Schriftstellerin Daniela Padoan zitiert sie im letzten Kapitel zwei
Wissenschaftler*innen der Universität Oxford: „Soll das die Lösung der
europäischen Politiker*innen zur Flüchtlingskrise sein? Freiwillige bedrohen,
um die Unterstützung abzuschwächen? (…) Mit der Kriminalisierung von
Freiwilligen wird versucht, die europäische Zivilgesellschaft einzuschüchtern“,
so Nando Sigona. Jennifer Allsopp ergänzt: „Das einzige Mittel gegen die
Kriminalisierung derer die Migrant*innen und Geflüchteten helfen, geht von
einer konstanten und dauerhaften Mobilisierung der Zivilgesellschaft aus(13).“
Aus diesem Grunde ist es so wichtig, dass das
Vertrauen in die Rettungs-NGOs im Mittelmeer nicht verloren geht. Sie machen
eine gute und im Moment die einzig richtige Arbeit, um Menschenleben zu retten.
Der maßlosen und tötenden Diffamierung, die nur vom eigentlichen Problem der
europäischen Ratlosigkeit und Verstocktheit ablenken will, muss endlich Einhalt
geboten werden.
(1c)
https://www.welt.de/politik/deutschland/article162394787/Rettungseinsaetze-vor-Libyen-muessen-auf-den-Pruefstand.html
(2a)
http://www.unita.tv/focus/di-maio-saviano-le-ong-e-i-taxi-del-meditteraneo-la-polemica-continua/
(6) http://www.internazionale.it/opinione/annalisa-camilli/2017/04/22/ong-criminalizzazione-mediterraneo
(7a) http://www.corriere.it/cronache/17_aprile_27/migranti-procuratore-catania-ong-forse-finanziate-trafficanti-87d5ae3c-2b26-11e7-9442-4fba01914cee.shtml; http://www.rainews.it/dl/rainews/media/Migranti-ad-Agora-Rai3-il-procuratore-di-Catania-Carmelo-Zuccaro-Alcune-Ong-finanziate-dai-trafficanti-e44f464e-fb75-4124-acfc-61851f6152cd.html
(12) http://it.ibtimes.com/libia-lunica-cosa-responsabile-da-fare-e-aiutare-la-gente-fuggire-1492916