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Freitag, 28. April 2017

„Sie stören, das ist der wahre Grund der Diffamierungskampagne“



Derzeit findet in Italien eine massive Medienhetze gegen die zivilen Seenotrettungs-
Organisationen im Mittelmeer statt. Nicht nur Frontex, auch Staatsanwaltschaften und Politiker*innen versuchen, die NGOs zu diskreditieren. Eine Lagebeschreibung aus Italien
Von Judith Gleitze, borderline-europe Sizilien

„Es ist eine unerträgliche Heuchelei, vor allem, wenn diese Angriffe von jemandem kommen, der eine politische Rolle bekleidet [] Die Existenz der „Schmuggler“, des kriminellen Systems, das diese Überfahrten der Migrant*innen nach Europa in den meisten der Fälle organisiert, sind eine direkte Folge der europäischen und der nationalen Migrationspolitiken (und dies seit dem Schengener Abkommen 1985).“ So Antonio Cinieri auf seinem Blog „Migr-azioni“ (5).

Seit öffentlich wurde, dass nicht nur Frontex gegen die NGOs schießt, die im Mittelmeer Menschenleben retten, ist das Thema in Italien hochgekocht. Die italienische Staatsanwaltschaft, hier federführend Carmelo Zuccaro aus Catania (aber auch die Staatsanwaltschaften in Palermo und Cagliari untersuchen die Zusammenhänge NGOs-Libyen), betont immer wieder, es gebe Anzeichen dafür, dass „einige NGOs und die Trafficker in Libyen in direktem Kontakt stehen“. Man sei „ziemlich sicher“, so Zuccaro, dass das stimme(4). Aber ziemlich sicher ist eine mehr als vage Aussage eines Staatsanwaltes, der seit dem Unglück vom Dritten Oktober 2013 vor Lampedusa in einer fünfköpfigen Kommission zur Untersuchung von Schiffsunglücken (von Flüchtlingsbooten) arbeitet. Es ist zudem mehr als fraglich, warum ein Staatsanwalt sich mit diesen Äußerungen immer wieder aus dem Fenster lehnen muss. Seine Rolle sollte schließlich nicht die eines Politikers sein, der auf Wählerstimmenfang geht, sondern die eines Mann des Gesetzes, und als solcher hat er entweder Beweise oder er hat keine – „ziemlich sicher“ ist da eine sehr unglückliche Aussage. Doch sei auch nach den Anhörungen vor der Schengen-Kommission in Rom, in der u.a. Proactiva und SOS Mediteranée neben Eunavfor Med angehört wurden, doch „klar, was los ist“, so Zuccaro. „Während der Ostertage sind 8.500 Menschen angekommen. An der libyschen Küste warteten in den letzten Tagen viele Schiffe darauf loszufahren, das wirkte wie die Anlandung der Alliierten in der Normandie. Wir müssen uns beeilen. Wichtig ist es, dem Phänomen zu begegnen: nicht nur in juristischer Weise, denn es kann nicht nur hier gelöst werden, sondern ein komplexes Vorgehen ist vonnöten(1)“. Was auch immer das bedeuten mag. Zuccaro hat sich vor allem an der Finanzierung der NGOs festgebissen, da er sich nicht vorstellen kann, dass es tatsächlich eine breite öffentliche Zustimmung für die Rettungsaktionen gibt, die sich auch in Spendengeldern niederschlägt. Als wäre es eine illegitime Handlung wirft er die Frage auf, warum sich die NGOs vom Multimilliardär George Soros finanzieren lassen(4). Abgesehen davon, dass Soros mit seiner Open Society Foundation sehr viele Projekte in Italien unterstützt und darin also zumindest nichts unrechtsmäßiges zu sehen ist, erhält keine der NOGs Mittel von Soros. Zudem legt jede NGO ihre Jahresbilanz offen, geheime Gelder aus libyschen Schlepperorganisationen sind dort ganz sicher nicht zu finden. Doch Zuccaro lässt nicht locker: Am 27. April werden Mitschnitte aus einer Fernsehsendung des Vorabends veröffentlicht, in der der Staatsanwalt noch weiter geht. Deutschen NGOs und MOAS (über die Spanier verliert er nie ein Wort, MSF und Save the Children nimmt er auch hier wieder aus) unterstellt er, dass einige der NGOs direkt über die Trafficker finanziert sein könnten, er wisse von Kontakten. Dieser traffic laufe genauso gut wie der Drogenhandel. Noch beunruhigender sei, dass einige der NGOs vielleicht ganz andere Ziele haben, so z.B. die italienische Wirtschaft zu destabilisieren. Die Untersuchungen seien noch nicht abgeschlossen, von Beweisen könne man erst sprechen, wenn man vor Gericht gehe. Es gebe jedoch direkte Kontakte zu Menschen in Libyen, die die Abfahrt von Booten ankündigen. Und es gebe NGOs, die nicht die Regeln einhalten, so Zuccaro(7a).

In diesen Reigen haben sich nun auch Beppe Grillo und Luigi Di Maio eingereiht, Gründer und Vizevorsitzender der Abgeordnetenkammer der Partei „Movimento 5 stelle“. Man müsse die Rollen der NGOs genau beleuchten, schließlich seien ja auch Frontex und die Staatsanwaltschaft dem Übel auf der Spur, man stehe als Partei „5 stelle“ ja nicht alleine da mit dieser Meinung. Wer sich da wehre, der habe sicher etwas zu verbergen [sic!]. Die Partei hat nun eine „vorrangige Anhörung“ vor der europäischen Kommission beantragt, um die Rolle der NGOs im Mittelmeer zu klären(1). Aber auch die Lega Nord schreit nun danach, die NGO-Schiffe zu blockieren und ihnen die Einfahrt in italienische Gewässer zu verbieten(7a).
Besonders übel in dieser Verleumdungskampagne ist der Versuch, einen Keil zwischen die verschiedenen NGOs zu treiben. Zuccaro hat in einem Interview mit der Tageszeitung „La Stampa“ (8) explizit die beiden mit Italien verbundenen NGOs MSF (Ärzte ohne Grenzen) und Save the Children von den  Vorwürfen ausgenommen und richtet seine Angriffe gezielt auf die deutschen NGOs und die maltesische MOAS(1). Einer der Vorwürfe – abgesehen von den angeblichen direkten Telefonaten  mit den Schleppern in Libyen – ist, dass die NGO-Schiffe des nachts beleuchtet seien und damit die Richtung für die Schlepper angeben würden. „Selbstverständlich sind unsere Schiffe bei Nacht beleuchtet, das ist Vorschrift.”, erklärt Axel Grafmanns von der Sea- Watch(7). Zuccaro fordert: „Für die unter Verdacht stehenden [NGOs] müssen wir feststellen, was sie machen. Für die Guten muss hingegen die Frage gestellt werden, ob es richtig und normal ist, dass die europäischen Regierungen es ihnen überlassen sollten zu entscheiden, wie und wo sie im Mittelmeer intervenieren“(4). Lässt man sich das einmal auf der Zunge zergehen bedeutet das: Zuccaro ruft die die Nationalstaaten auf ihre NGOs, die in internationalen Gewässern(!) operieren, zurückzupfeifen! Betont werden sollte hierbei vielleicht noch einmal: alle NGOs kooperieren in den Rettungsoperationen immer mit der Einsatzzentrale der Seenotrettung, dem Maritime Rescue Coordination Center (MRCC) in Rom und handeln nicht auf eigene Faust!

Und da kommen wir auch schon zu der unschönen „Pull-Faktor“ Diskussion: mehr NGO-Schiffe bedeuten mehr Abfahrten. Diese Unterstellung hat nun gerade eine Studie widerlegt, in der dieser Zusammenhang untersucht wurde. Es zeigte sich, dass gerade bei weniger Rettungsschiffen mehr Geflüchtete losgefahren sind (1a). Andrea Spinelli Barrile erklärt in seinem Artikel in der International Business Times: Die Polemik hätte begonnen, als die Financial Times (1b) einen Frontex-Bericht veröffentlichte, in dem von „ungewollten Konsequenzen“ – also dem „Pull-Faktor“ – die Rede war.
Im Übrigen ist es nicht wahr, wie z.B Grillo und Di Maio behaupten, dass in dem Frontex-Bericht etwas von NGOs als „Taxis für Geflüchtete“ steht(2a). In einem Interview in der deutschen Tageszeitung „Die Welt“ (1c) wurde dann Fabrice Leggeri, Direktor der Grenzschutzagentur Frontex, zitiert, der diesen Vorwurf aufgriff. Wie aber, so Spinelli Barrile, könne man von einem „Pull-Faktor“ sprechen, als ob die Geflüchteten in Libyen irgendeine Freiheit hätten, wann, wie und von wo sie losfahren oder eben auch nicht losfahren?
„Vielleicht sollte man diese Diskussion einmal umkehren: Was, wenn die zurückweisende und sicherheitsdenkende Politik der „Pull-Faktor“ wäre und nicht die NGOs? Laut Samer Haddadin, Leiter des UNHCR in Tripolis versuchen umso mehr Migrant*innen Libyen schnellstens auf dem Seeweg zu verlassen je lauter die europäischen Politiker*innen die Invasion und die Zurückweisungen beschreien. Heute sagt ein Trafficker zu seinen Opfern: ‚Wenn du nicht jetzt losfährst, wo Europa noch gut zu erreichen ist, wirst du morgen nicht mehr die Sicherheit haben zu fahren (…) Es handelt sich um eine Marketing-Technik (4).“ Sprich: ob nun NGO-Rettungsschiffe vor der Küste liegen oder nicht, es heißt jetzt loszufahren. Diese Aussage hat sich auch in den ersten Monaten des Jahres bewahrheitet, in denen nur zwei zivile Rettungsschiffe in der Zone unterwegs waren, aber trotz des schlechten Wetters 15.844 Geflüchtete abgefahren sind (interne Daten des Innenministeriums vom 01.01.- 06.03.2017). Im Jahr zuvor waren es im gleichen Zeitraum 9.101 Personen. Frontex hingegen hält sich vornehm zurück.
In einem Interview mit Zach Campbell in „The Intercept“ (10) sagte ein Frontex – Mitarbeiter, der nicht genannt werden möchte: „Um nicht zum „Pull-Faktor“ zu werden patrouillieren unsere Schiffe nur nördlich von Malta. Wir fahren nicht runter bis zu den libyschen Gewässern.“ Davon, so der Mitarbeiter, ließen sich die Migrant*innen abhalten und führen nicht los. Doch die IOM (International Organisation for Migration) sieht das anders: Anfang April seien schon ca. 25.000 Menschen losgefahren und mehr als 600 seien umgekommen. Viele der Migrant*innen seien auch bis in das Gebiet nördlich von Malta gekommen, doch seien sie keinen NGO-Schiffen begegnet. Und dort wohl auch keinem vom Frontex… Mit dem Anstieg der Abfahrtszahlen und der europäischen Illusion durch die Verträge mit Staaten wie der Türkei und Libyen ließe sich einfach alles regeln, habe man nur die NGOs auf den Plan getrieben, so Spinelli Barrile (4). „Die Zahl der NGOs im Mittelmeer ist aufgrund der Abwesenheit von Frontex angestiegen. Internationale Verpflichtungen wie die Seenotrettung sind nicht optional, und die NGOs helfen letztendlich den europäischen Regierungen, diese Verpflichtungen einzuhalten – [das ist die Realität], und nicht das Gegenteil(4).“ Das unterstützt auch die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF): „Es gibt keine Beweise, dass die Rettungen einen „Pull-Faktor“ haben. Verzweifelte Menschen, gefolterte Menschen, die Kriege, Verfolgung und Armut erlebt haben werden weiterhin über das Mittelmeer fahren und dort sterben. Und das werden sie so lange tun, bis es legale und sichere Einreisewege gibt um in Europa Schutz zu finden und ein europäisches System, das hilft und auf See rettet(1).“

Doch inzwischen werden auch exil-eritreische Persönlichkeiten wie Don Mussie Zerai  und Meron Estefanos angegriffen. Zerai ist ein eritreischer Pater mit Wohnsitz in der Schweiz, dessen Telefonnummer seit Jahren unter den eritreischen Geflüchteten weitergegeben wird und der dadurch sehr viele Notrufe erhält. Estefanos lebt in Schweden und erhielt im Jahr 2010 den ersten Notruf eritreischer Geflüchteter in Seenot. Seitdem wird auch sie regelmäßig von Geflüchteten kontaktiert(4). Zerai hat über Jahre die Notrufe über Facebook öffentlich gemacht. Heute gibt er sie, wenn es ihm an Kapazitäten mangelt, auch an die Kolleg*innen des Alarm Phone weiter (www.alarmphone.org). Nun wird Zerai und Estefanos vorgeworfen, sie seien die „Mittelsmenschen“ zwischen den Traffickern und den Geflüchteten(11).
Ärzte ohne Grenzen sind nicht nur mit ihrem Rettungsschiff auf dem Mittelmeer aktiv, sie gehen in Libyen auch in sieben Haftzentren für Migrant*innen. Der Generaldirektor von MSF, Arjan Hehenkamp, sieht die Schuldzuweisungen gegen die NGOs vor allem in den anstehenden Wahlen begründet: „Wir sind im Wahlkampf. Frankreich, Deutschland und Italien, das politische Risiko ist sehr hoch. Das Ziel ist es, die Abfahrten zu stoppen, den Mut zu nehmen, um die öffentliche Meinung zufriedenzustellen. Es ist eine Einschüchterungskampagne gegen die NGOs im Gange um auch die Spendenfreudigkeit der Bürger*innen einzudämmen[] Die Polemiken haben keine Grundlage und es ist mehr als traurig, dass man das auch noch erklären muss(12).“ Hehenkamp sagt, dass man alles daransetzen müsse, den Migrant*innen zur Flucht aus Libyen zur verhelfen, die Hilfe der NGOs sei unbedingt notwendig(4).
MSF hat sich entschieden, am 2. Mai in einer Anhörung in der Verteidigungskommission des Senats in Rom an die Öffentlichkeit zu gehen, da die Organisation sich keine falschen Hoffnungen macht. Auch wenn Staatsanwalt Zuccaro sie aus der Schusslinie genommen hat, wissen sie doch sehr gut, dass sich das jeden Tag wieder ändern kann. „Die Anschuldigungen gegen die NGOs auf See sind schandbar, und noch schandbarer ist es, dass es Politiker*innen sind, die das Ganze mit falschen Verlautbarungen vorantreiben, die den Hass schüren und Organisationen diskreditieren, deren alleiniges Ziel die Rettung von Menschenleben ist“, so Loris De Filippi, Präsident von MSF Italien(1). Ebenso wie die anderen NGOs erklärt MSF, dass ihre Arbeit auf See rein privat finanziert sei, man folge dem Seerecht und operiere in internationalen Gewässern. In libysche Gewässer fahre man nur in Notfällen und mit Autorisierung der Behörden (Libyen, Italien) ein. Anrufe von Traffickern habe man niemals erhalten.
MSF wie auch die deutsche Organisation Sea-Watch sind gegebenenfalls bereit, Anzeige wegen Verleumdung zu erstatten. "Dass ein Vertreter der Justiz öffentlich Phantasievorwürfe gegen humanitäre Organisationen erhebt, ohne auch nur einmal mit den selbigen zu sprechen, ist ein Skandal. Zuccaro macht sich zum Teil einer Verleumdungskampagne gegen uns, die Vertreter von Frontex oder Lega Nord derzeit vorantreiben. Er sagt selbst, dass er noch nicht einmal weiß, wie er die angeblichen Beweise einsetzen will, und trotzdem beteiligt er sich an übler Stimmungsmache. Sea-Watch prüft deshalb derzeit die Rechtslage in Italien bezüglich einer Anzeige wegen übler Nachrede”, so Sea-Watch Geschäftsführer Axel Grafmanns(7). MSF überlegt, wie die Organisation nun zum eigenen Schutz handeln sollte, um die durch die Angriffe beschädigte Glaubwürdigkeit wiederherzustellen(3). Save the Children hingegen scheint die Rolle, die ihnen Staatsanwalt Zuccaro zugeteilt hat, indem dieser MSF und Save aus der Schusslinie genommen hat, dankbar anzunehmen. Ein unschöner Schritt in einer Zeit, in der alle Rettungs-NGOs zusammenhalten sollten. „Ich bin sehr froh über die Unterscheidung, die Staatsanwalt Zuccaro vom ersten Moment an vorgenommen hat (…), indem er uns und MSF als über jeden Verdacht erhaben bezeichnet. Und ich danke Gentiloni [italienischer Ministerpräsident, Anmerk. Der Autorin], dass man nicht einen Generalverdacht gegen NGOs, die seit vielen Jahren Menschen in allen Teilen der Welt helfen zu überleben, aussprechen sollte. Ich kenne nicht viele der anderen Menschenrechtsorganisationen, die in den letzten Jahren entstanden sind. Aber diese ganzen Animositäten gegen diejenigen, die Menschenleben vor dem Tode retten ist schon überraschend“, sagte der Generaldirektor von Save the Children Italien, Valerio Neri, der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“ (3). 
Die Organisationen INTERSOS (die sich ebenfalls mit unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten beschäftigen) und SOS Mediterranée (die selbst den Angriffen ausgesetzt ist) halten ebenso dagegen wie MSF, Sea-Watch und auch MOAS. Es ist jedoch wirklich unfassbar, dass sie sich überhaupt verteidigen müssen.
Das finden auch der Schriftsteller und Journalist Roberto Saviano (bekannt durch sein Buch „Gomorra“) und Erri de Luca, einer der bekanntesten zeitgenössischen Schriftsteller und Gelehrten Italiens. De Luca hat zwei Wochen auf der „Prudence“, dem Schiff von MSF, auf dem Meer zugebracht und die Rettungseinsätze selber erlebt. Saviano hingegen hatte sofort auf die ausfallenden Angriffe Di Maios von der Partei „5 stelle“ reagiert: „Das ist ein unverantwortliches Verhalten, solche vagen Anschuldigungen gegen diejenigen zu richten, die Leben retten und sie mit Schmutz zu bewerfen(3).“ Auch De Luca ist der Meinung, dass diese Anschuldigungen weder Hand noch Fuß haben. Eine wichtige Stimme in der derzeitigen Schlammschlacht. In einem Interview mit der Tageszeitung „Huffington Post” berichtet er über seine Zeit an Bord der „Prudence“: „Verdächtigungen, die man nur als Verleumdung bezeichnen kann: es gibt nichts, worauf sie sich stützen könnten. Die Trafficker haben es nicht nötig, mit den Rettern in Kontakt zu stehen. Denn dort, wo sie tätig sind, in der so genannten „Search and Rescue“ Zone, sind schon die libyschen Fischerboote, und die fischen da sicher keine Fische, sondern holen sich die Boote [respektive die Motoren, Anm. der Autorin] zurück. Die Libyer patrouillieren mit den Fischerbooten und wissen genau wer da ist und wer nicht. Sie schicken die Flüchtlingsboote, egal wer da gerade ist. Einzige Bedingung ist: das Meer muss ruhig sein. Nicht, weil sie so freundlich sind, sondern weil ein Boot mit 150 Menschen und einem Außenbordmotor mit 40 PS sonst keinen Meter vorankäme. Sie lassen sie losfahren sobald das Wetter gut ist. Und nun haben sie auch Eile, denn im Mai [wohl erst im Juni, Anmerk. der Autorin] wird Europa der libyschen Küstenwache die neuen Schiffe übergeben. Die Trafficker und Schlepper befreien sich also schnellstmöglich von ihrem „Übergepäck“, da man nicht weiß, was dann passiert. Wir haben von drei Booten erfahren, die nachts losgefahren sind. Wie wir davon erfahren haben? Ganz einfach: An Bord sind Personen, die Arabisch sprechen und die Social Media kontrollieren, mit Facebook ist es einfach, etwas über die Abfahrten zu erfahren. (…) Eine weitere wichtige Sache: wieso redet man laufend von den „Schleppern“, die es doch gar nicht mehr gibt an Bord? Auf den Booten sind keine Fahrer. Die Schlepper vertrauen das Steuer einem der Passagiere an, geben ihm einen Kompass und sagen ihnen, in drei Stunden seid ihr in Italien und viel Glück.“ De Luca berichtet im Zusammenhang mit der Unwissenheit der Migrant*innen am Steuer von einem Rettungseinsatz, bei dem MSF den Migranten am Steuer bat, den Motor auszustellen, doch er wusste nicht, wie das geht und ein Besatzungsmitglied von MSF musste an Bord des Schlauchbootes gehen, um den Motor auszuschalten.
„Wer von Abkommen zwischen NGOs und Schleppern spricht redet unüberlegtes Zeug. Sache ist doch die: die Präsenz der unabhängigen Einheiten auf See stört. MSF hat Gelder der EU abgelehnt, um freier agieren zu können. Sie stören, das ist der wahre Grund der Diffamierungskampagne. Man will die Organisationen treffen, die die Einzigen da draußen sind, um Menschenleben zu retten. Ohne sie wäre es eine Katastrophe. Es geht immer darum, wer in der Politik die meisten Wählerstimmen bekommt. Aber diese Rechnungen mitten auf See sind zu nichts nütze: dort gibt es keine Wählerstimmen(2).“

Wohin führen also Diffamierungskampagnen gegen die Rettungs-NGOs auf dem Mittelmeer? Oder besser, wem nützen sie? Wie Erri De Luca sagt: der Politik, die sich mit diesem Kampf ein geschlossenes Europa auf dem Rücken der Flüchtenden erhofft. Sollte man nicht das Pferd einmal andersherum aufzäumen und davon sprechen, dass die Zerstörung der Motoren und Schiffe durch den Einsatz der europäischen  Mission „Sofia“ von Eunavfor Med ebenso dazu beigetragen hat, dass Menschen auf See sterben? Nicht die NGOs sind der „Pull-Faktor“, die Menschen werden ohne legale Einreisewege weiterhin die gefährliche Route über das Mittelmeer und die Dienste von oftmals skrupellosen Traffickern und Schleppern in Anspruch nehmen, da sie gar keine andere Chance haben. Diese aber reagieren auf die Zerstörung ihrer Einsatzmittel, nicht auf die NGO-Schiffe. Wenn man ihnen Motoren und Boote nimmt, setzen sie die Migrant*innen auf billige und hochseeuntaugliche Schlauchboote mit schlechten Motoren. Nur so lässt sich ihr ökonomischer Verlust in Grenzen halten.
Antonio Ciniero führt aus: „Es gibt nur einen einfachen Weg: die Grenzen zu öffnen und eine neue Migrationspolitik zu entwickeln, die Ankünfte in einer legalen und sicheren Weise für diejenigen ermöglichen, die sich entscheiden zu emigrieren und flüchten müssen. Das bedeutet, dass auch an einem neuen Modell der Produktion und der Verteilung des Reichtums gearbeitet werden muss, ein Modell, das den Menschen ins Zentrum des Ganzen setzt. Ein Modell, das die ökonomischen Belange in die sozialen Beziehungen zurückführt. Ein System, das die aktuellen weltweiten Machtverhältnisse zur Diskussion stellt. Die heutige Migration ist nichts weiter als ein Zeichen für die Untragbarkeit des jetzigen politischen und wirtschaftlichen Systems(5).“

In der ausführlichen Abhandlung der Schriftstellerin Daniela Padoan zitiert sie im letzten Kapitel zwei Wissenschaftler*innen der Universität Oxford: „Soll das die Lösung der europäischen Politiker*innen zur Flüchtlingskrise sein? Freiwillige bedrohen, um die Unterstützung abzuschwächen? (…) Mit der Kriminalisierung von Freiwilligen wird versucht, die europäische Zivilgesellschaft einzuschüchtern“, so Nando Sigona. Jennifer Allsopp ergänzt: „Das einzige Mittel gegen die Kriminalisierung derer die Migrant*innen und Geflüchteten helfen, geht von einer konstanten und dauerhaften Mobilisierung der Zivilgesellschaft aus(13).“
Aus diesem Grunde ist es so wichtig, dass das Vertrauen in die Rettungs-NGOs im Mittelmeer nicht verloren geht. Sie machen eine gute und im Moment die einzig richtige Arbeit, um Menschenleben zu retten. Der maßlosen und tötenden Diffamierung, die nur vom eigentlichen Problem der europäischen Ratlosigkeit und Verstocktheit ablenken will, muss endlich Einhalt geboten werden.

(1c) https://www.welt.de/politik/deutschland/article162394787/Rettungseinsaetze-vor-Libyen-muessen-auf-den-Pruefstand.html
(2a) http://www.unita.tv/focus/di-maio-saviano-le-ong-e-i-taxi-del-meditteraneo-la-polemica-continua/