Die Regierung erhält das Vertrauen vom Senat. Das Ziel des Innenministers ist es, die Verfahren zu entschlacken und klare Regeln für die Aufnahme zu gewährleisten. Doch es hagelt Kritik: von Sant’Egidio bis ARCI* protestieren alle gegen das Dekret. Schiavone (ASGI*): „Nur eine Norm des politischen Manifests, kein Kriterium der Notwendigkeit und Dringlichkeit“.
Mit 145 Ja-, 107 Neinstimmen und einer Enthaltung hat sich die Regierung den Rückhalt für das umstrittene Migrations-Dekret Minniti-Orlando sichern können. Dieses kommt nun zur Bewertung in die Abgeordnetenkammer. Das erklärte Ziel der beiden Minister ist es, die Verfahren zur Anerkennung des internationalen Schutzes zu entschlacken, Rückführungen zu beschleunigen und feste Regeln für die Aufnahme zu gewährleisten. Doch die neu eingeführten Maßnahmen bringen eine Reihe von Kritikpunkten mit sich: Menschenrechtsorganisationen beklagen, dass das Dekret ein „strategischer Schachzug im Wahlkampf sei, der dem rechten Lager in der Kriminalisierung von Migration hinterherlaufe.“ Vor allem die Vertreter*innen der Zivilgesellschaft stellen sich gegen das Dekret: von Sant’Egidio bis Arci*, Antigone, Amnesty International, das Centro Astalli, CIR* und CNCA*. Auch der Nationale Richterbund (AMN) hat sich gegen die neuen Maßnahmen ausgesprochen. Aber welche sind die kritischen Punkte des Dekrets?
Spezialisierte Richter*innen und Zweifel bezüglich der Diskriminierung. Um die Bearbeitung von Asylanträgen zu beschleunigen sieht das Dekret vor, Spezialabteilungen einzurichten (ursprünglich waren es 14, jetzt werden es 26), welche sich ausschließlich mit der Bearbeitung von Asylanträgen und Rückführungen beschäftigen und sich aus Richter*innen zusammensetzen, die über entsprechende Fachkompetenzen im Bereich Migration verfügen. Doch es ist die Einführung eben jener Spezialabteilungen, die Zweifel an der Rechtmäßigkeit aufkommen lassen. So werden sie als Widerspruch zum Artikel 102 der Verfassung gewertet, laut welchem „keine außerordentlichen Richter*innen und Spezialrichter*innen eingeführt werden“ dürfen, sondern lediglich „Spezialabteilungen für bestimmte Angelegenheiten“. Laut Gianfranco Schiavone, Anwalt beim ASGI, Experte für Migrationsrecht und Präsident der ICS, dem Büro für Geflüchtete in Triest, basiert alles auf einem Wortspiel: „Der Unterschied ist minimal: man spricht nicht von Spezialrichter*innen, da die Verfassung diese explizit verbietet, sondern von Spezialabteilungen,“ erklärt er. „Das Problem jedoch bleibt: die Spezialisierung bezieht sich nicht auf den gesamten Bereich, also das Migrationsrecht als Ganzes, sondern nur auf Geflüchtete und somit ausschließlich auf den internationalen Schutz. Entsprechend könnte sich die Bedenken bezüglich einer*s Spezialrichters*in für Asylsuchende bewahrheiten, womit voraussichtlich ein Legitimationskonflikt einhergehen würde, da die Maßnahme als diskriminierend eingestuft werden könnte.“
Laut Schiavone lösen die vorgesehenen Maßnahmen auch das Zeitproblem nicht, denn anstatt die Verfahren zu beschleunigen, würden diese nur noch umstrittener werden: „Die Spezialabteilungen werden nicht helfen. Kompetenzen in diesem Bereich sollten weit verbreitet sein und die Zuständigkeit an dem Ort liegen, an welchem der*die Antragsteller*in gemeldet ist. So kann die Rechtsprechung auch physisch an die Menschen herangetragen werden,“ fügt er hinzu. „Die Zahl der Geflüchteten in unserem Land wird in Zukunft immer weiter ansteigen und es ist daher völlig unvernünftig ausgerechnet jetzt die Anzahl der Richter*innen, die sich mit dieser Materie beschäftigen, zu reduzieren. Als ob es sich um eine Randerscheinung handele und nicht um ein ernstes Thema, das unsere Rechtsordnung in Zukunft immer mehr beschäftigen wird.“
Die Gesetzesänderung für welche die Regierung das Vertrauen angefragt hat, überwindet jedoch einen der kritischen Punkte: den der Anhörung, die im ersten Entwurf durch eine Videoaufzeichnung ersetzt worden war. Der neue Text sieht die direkte Anhörung des*r Antragstellers*in vor, für den Fall dass eine Videoaufzeichnung nicht möglich ist; „falls die betreffende Person eine entsprechenden Anfrage in der Klageschrift gestellt hat“ und der*die zuständige Richter*in diese für notwendig hält oder „sich die Anfechtung auf Tatsachen beziehen, die im Laufe des ersten Verwaltungsverfahrens nicht festgestellt wurden.“
Einspruch abgelehnt. Der jedoch kritischste Punkt des Dekrets Minniti-Orlando bleibt die Streichung des Einspruchs und folglich einer der drei Rechtsinstanzen, die von unserem Rechtssystem selbst bei minimalsten Angelegenheiten garantiert wird. Im Falle, dass der Asylsuchende Einspruch gegen den Beschluss der Territorialkommissionen erheben will, muss er sich folglich nun direkt an das Kassationsgericht wenden. „Es ist von vielen Seiten mit guter Begründung festgestellt worden, dass die doppelte Rechtsinstanz keine explizite Verankerung in der Verfassung hat,“ erklärt Schiavone, „aber um festzustellen, ob eine Maßnahme legitim und gerecht ist, müssen wir wissen, wie sich diese ins Gesamtgefüge unseres Rechtssystems eingliedert. Und keiner wird der Tatsache widersprechen können, dass es sich um den einzigen Fall im italienischen Rechtssystem auf dem Gebiet der Menschenrechte handelt, in welchem keine zwei Rechtsinstanzen vorgesehen sind. Was selbst bei minimalen zivilen Rechtsstreitigkeiten, wie zum Beispiel dem Diebstahl einer Süßigkeit im Supermarkt, vorgesehen ist, gilt nicht mehr bei der Feststellung ob eine Person in ihrem Heimatland unmenschlichen und demütigenden Handlungen ausgesetzt ist. Es ist äußerst fragwürdig, ob eine Spezialabteilung die Funktion einer doppelten Rechtsinstanz einnehmen kann“, fügt er hinzu, „und auch ob ein so unterschiedlicher Tatbestand parallel zum restlichen Rechtssystem existieren kann, gerade weil es sich dabei um fundamentale Menschenrechte, wie etwa das Recht auf Leben, auf Gesundheit und auf Asyl handelt, also alle von der Verfassung vorgesehenen Rechte“. Mit dieser Formulierung „riskiert die Maßnahme ungerecht zu sein. Wir schließen nicht aus, dass es Zweifel bezüglich der Legitimität gibt, da sie nicht den Kriterien der Angemessenheit, Gleichheit und der Anti-Diskriminierung entspricht“. Für Schiavone sollte dieser Punkt überdacht werden und zwar nicht nur in der Kammer, sondern auch in einer korrigierenden Gesetzesänderung des Dekrets 142 zum Asyl, welche die Regierung noch bis September erlassen muss. Schiavone hält diese für den angemesseneren Ort zur Behandlung einer solchen Fragestellung und zeigt Unverständnis, dass man diese Gelegenheit nicht genutzt hat. „In diesem Zusammenhang hätte man entsprechende Änderungen vornehmen können, sowie zu anderen kritischen Punkten, wie die Reform der Territorialkommissionen. Stattdessen hat man ein Immigrationsdekret erdacht, für das wir keinerlei Notwendigkeit und Dringlichkeit sehen und eher wie ein politisches Manifest im Wahlkampf erscheint.“
Die neue Abschiebehaft: es ändern sich die Namen, jedoch nicht die Regeln. Mit dem Dekret werden die CPR (centri di permanenza per il rimpatrio= Aufenthaltszentren für die Rückführung) eingeführt. Es handelt sich dabei um Einrichtungen, die kleiner sind als die ehemaligen Abschiebehaftzentren und weitläufiger auf dem Territorium verbreitet sind. Sie sollen die Rückführungen von jenen beschleunigen sollen, die kein Anspruch auf Asyl haben. „Die rechtlichen Voraussetzungen um in einem CIE zu landen sind die selben geblieben, anders ist lediglich der Name: zum vierten Mal werden diese Einrichtungen umbenannt, ohne jedoch zentrale Elemente zu verändern,“ erklärt Schiavone abschließend. „Man hätte über die Voraussetzungen reden müssen, die die Abschiebung oder die Festnahme bestimmen, das heißt man hätte dafür sorgen müssen, dass man sich auf die sozial kritischen Fälle beschränkt, für welche man derartige Handlungsmaßnahmen als notwendig erachtet. Das wurde nicht gemacht: man spricht jetzt von kleineren Einrichtungen, aber auf der rechtlichen Ebene ändert das sehr wenig.“
Die Vorwürfe der Menschenrechtsorganisationen: „Eine falsche Antwort, die nur zu Wahlkampfzwecken dient.“ In diesen Wochen wurde das Dekret von vielen humanitären Organisationen, die sich mit Migration und Menschenrechten beschäftigen, kritisiert. Vergangene Woche haben sich einige dieser Vereine bei einer öffentlichen Versammlung in der Universität „La Sapienza“ in Rom getroffen. Für Paolo Morozzo Della Rocca der Comunità Sant’Egidio bietet das Dekret „die falsche Antwort auf eine Reihe echter Probleme“, welche die Regierung nicht angehe, wie etwa die Inklusion von Asylsuchenden oder legale Wege zur Einreise in unser Land. Für Filippo Miraglia von Arci „ist der Text nicht annehmbar“ und hat nur den Zweck im Wahlkampf dem rechten Lager in Sicherheitsfragen hinterherzulaufen. Eine Meinung die von vielen Vertreter*innen der Zivilgesellschaft geteilt wird, wie von Patrizio Gonnella von Antigone und Cild*, und Chiara Peri vom Centro Astalli. „Wir werden diese Unterschlagung der Rechte nicht hinnehmen“, fügt Don Armando Zappaloni, der Präsident der CNCA, hinzu: „wir sind sogar bereit ungehorsam zu werden“.
Eleonora Camilli
*ARCI - Associazione Ricreativa e Culturale Italiana: gegründet 1957, ist ein sozialer Förderverein in Italien. Er agiert gegen Faschismus und für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
*ASGI - Associazione per gli Studi Giuridici sull'Immigrazione: Verein für juristische Studien zur Immigration.
*CIR - Consiglio Italiano per i Rifugiati: Italienischer Geflüchtetenrat
*CNCA - Coordinamento Nazionale Comunità di Accoglienza: Nationale Koordination der Aufnahmegemeinschaften
*CILD - Coalizione Italiana Libertà e Diritti Civili, Italienischer Verein far die Freiheit und die Menschenrechte
Aus dem Italienischen von Giulia Coda