Am Freitag, den 16. Dezember, sind wir zum Hafen von Palermo gefahren, um die 388 Migrant*innen willkommen zu heißen, die über den Tod gesiegt hatten und an Bord des spanischen Militärschiffes Navarra angekommen waren. Zusammen mit den Überlebenden ist auch ein Leichnam angekommen. Den Mitarbeiter*innen der Ämter und Hilfsorganisationen, die sich am Hafen befanden, um die Landungsoperationen zu begleiten, wussten nicht von dem Leichnam, bis zur Ankunft des Schiffs in Palermo. Wahrscheinlich ist dieser Mensch, der in einem schwarzen Sack an Land gebracht wurde und von dem immer am Hafen anwesenden Comboni-Missionar gesegnet wurde, erst nach der Rettung im Meer auf dem Weg nach Palermo verstorben. Er litt an Diabetes und hat es nicht geschafft, unter psychophysischem Stress und den unmenschlichen Bedingungen den ungleichen Kampf zu gewinnen. Der Tod hat wieder einmal mit Hilfe der Europäischen Migrationspolitiken gewonnen.
Der Kommandant des spanischen Schiffes hatte sich geweigert an den Kai “Die 4 Winde” festzumachen, weil er meinte, die Wassertiefe sei nicht ausreichend. Diese Entscheidung hat die Landung verspätet: Sie hätte um 7 Uhr beginnen sollen, erst gegen Mittag fing sie tatsächlich an. Letztendlich sind die Migrant*innen in Gruppen von 23 Personen an Bord von zwei Schlauchbooten, die zwischen Schiff und Hafen pendelten, ans Land gekommen.
Auch der Leichnam wurde auf einem Schlauchboot transportiert: Auf ihn wartete niemand, kein Ehrengeleit, kein Fernsehteam, nichts, nur ein schwarzer Sack, als wenn der Leichnam Abfall wäre.
In Palermo ist die Prozedur immer die gleiche: Die Ankunft wird in kleinen Teilen aufgeteilt und während die Migrant*innen den Hafen erreichen, werden sie, nach einer ersten vorläufigen Aufteilung, vor-identifiziert, bevor sie sich später im Polizeipräsidium einer kompletten Identifizierung (mit Erfassung der Fingerabdrücke) unterziehen müssen, um dann zum Schluss in die verschiedenen CAS* in Mittel und Nord-Italien gebracht zu werden. Der einzige Unterschied zu den Anlandungen davor war in der Verteilung der Erste-Hilfe-Kits: Die Firma, die seit langem mit dieser Aufgabe beauftragt ist, war bei dieser Anlandung von der Arbeit befreit, weil Caritas Italia, die in diesen Tage in Palermo zu Besuch war, die Erlaubnis bekommen hatte, selbst die Kits zu verteilen. Es sah so aus, als wenn die Vertreter der Caritas, die bei der Ankunft nicht dabei waren und also kein Interesse hatten, die Migrant*innen und den Leichnam zu empfangen, nur eine Bühne suchten, um für ihr Werk Reklame zu machen.
Nachdem alle Fingerabdrücke erfasst wurden, sind die Erwachsenen, mitten in der Nacht, von Palermo abgefahren, während die 45 unbegleiteten Minderjährigen in Notaufnahmezentren gebracht wurden. Es sind nach wie vor schwerwiegende Probleme bezüglich der Unterbringung von Minderjährigen in Palermo zu beklagen: überfüllte Einrichtungen und keine Privatsphäre, Jungen und Mädchen (teilweise Opfer von Menschenhandel) werden zusammen in vollgestopften Gebäuden untergebracht. Es entsteht eine fortlaufende Notsituation, die das Verlassen dieser Zentren auf eigene Faust begünstigt und keinerlei Schutz und Beachtung zulässt. In einer solchen Lage können keine Projekte entstehen, die die Eingliederung der Minderjährigen in das soziale und Arbeitsumfeld ermöglichen könnten, obwohl schon so viele große Verkündungen in den Zeitungen erschienen sind.
Leider ist diese vom europäischen System erarbeitete Notsituation Schuld dran, dass so viele Probleme in der Abwicklung auf territorialer Ebene entstehen, die dann von den Präfekturen gelöst werden müssen, wie zum Beispiel der chronische Mangel an Personal und Geldmitteln, um die Zentren zu bezahlen und das Fehlen an geeigneten Kontrollmöglichkeiten. Wieder einmal muss die Basis für das Nichtvorhandensein eines organisierten Aufnahmesystems zahlen!
Die erste Priorität ist die Identifizierung, die zweitwichtigste Aufgabe ist das in den CAS* „Abstellen“ der Migrant*innen. Ein Paradebeispiel ist das von G., einer nigerianischen Frau, das vor 7 Monaten in Italien ankam und das wir vor ein paar Wochen im CAS* Madonna dell’Accoglienza im Stadtviertel Boccadifalco am Stadtrand von Palermo getroffen haben.
G. war schwanger, als sie ankam; sie wurde direkt ins Krankenhaus gebracht, wo sie eine Fehlgeburt hatte. Das Baby wurde in einen schwarzen Sack gelegt: weiterer Abfall, den es zu verstecken gilt. Sie wurde entlassen und in das CAS* verlegt. Seitdem ist nichts passiert: Keine Akte wurde angelegt, ihr Asylgesuch wurde nicht weiterverfolgt, sie wurde nicht angehört, sie ist schlicht und einfach in dem CAS* abgestellt worden. Ihren wiederholten Bitten, sich mit ihrem Mann, der in einem CAS* in Latium untergebracht ist, wieder vereinigen zu dürfen, wurden nicht entsprochen. G., die uns ihre Ehebescheinigung zeigte, hat nie einen Rechtsanwalt sprechen dürfen. „Danke! Danke für alles!! - sagte sie uns vor 2 Tagen am Telefon ganz aufgeregt, “Italien hatte mich fallen lassen und nicht nur das, sondern hatte mich auch noch von meinem Mann getrennt – wir haben immer noch nicht den Grund verstanden. Wir hatten keine Möglichkeit, zusammen für unser Kind zu weinen, das von den Politiker*innen getötet wurde. Danke, dass ihr mir zugehört habt, es war doch nicht so schwer! Jetzt bin ich wieder mit meinem Mann zusammen und hoffe, dass die Polizei uns nicht wieder trennt“. G. hat sich bei uns bedankt, aber es war keine große Anstrengung nötig: Wir haben ihr einfach aufmerksam zugehört und uns ein Bild ihrer Lage gemacht und daraufhin die Organisationen und die Institutionen aktiviert, die für die Familienzusammenführungen zuständig sind, Familien, die so oft bei der Ankunft auseinandergerissen werden.
Solche Zustände sind im CAS* Madonna dell'accoglienza nicht selten: Es ist ein Zentrum für Frauen, mit und ohne Kinder und Familien, das für 30 + 3 Personen konzipiert wurde und stattdessen im Moment 56 Personen „enthält“. Die Präfektur hat bekräftigt, dass sie in einer Notsituation lieber einen Platz in einer überfüllten Einrichtung sucht, weil die Alternative die Straße wäre. In der Provinz Palermo gibt es zurzeit nur eine Einrichtung für Frauen und deswegen wurde ein ehemaliges Spielzimmer als Schlafplatz für 12 Frauen zweckentfremdet. So schlafen hier auf kleinen Campingliegen hochschwangere Frauen, Frauen mit ihren neugeborenen Babies und sogar eine Mutter mit ihrem Kleinkind mit Trisomie 21. Und schon wieder ist die Rede von einer „Notsituation“!
Das Zentrum, ein ehemaliges IPAB*, wird von der Genossenschaft Societate geführt, die im Bereich der Immigration ein neuer Akteur ist. Das Fehlen von Winterkleidung, von Decken und Wi-Fi, die für die Bewohner*innen die einzige Möglichkeit darstellen würde, mit den Familien im Herkunftsland in Kontakt zu bleiben, wird von der Genossenschaft mit finanziellen Schwierigkeiten gerechtfertigt. Ein Zentrum, das sogar von der Polizeidirektion vergessen wurde: Eine Mitarbeiterin vor Ort meldete, dass die Frauen nicht einmal zur abschließenden formalen Einreichung ihres Asylgesuchs in die Polizeidirektion geladen werden, und dass die Wartezeit ca. 8 Monate beträgt. Die Frauen leben sozusagen in einem Zustand der Verwahrlosung. Der vor Ort aktive Psychologe ist sehr mit bürokratischen Aufgaben beschäftigt und, obwohl eine konstante Aufsicht und eine aufmerksame Behandlung nötig wären, bleibt wenig Zeit für ausführliche Gespräche. Die wären umso wichtiger, weil viele der Frauen in Libyen vergewaltigt und gefoltert wurden und sie oft Fehlgeburten erleiden. Teilweise fehlt die psychologische Betreuung und Begleitung komplett, auch aufgrund der Schwierigkeit sich zu verständigen.
Es fehlt auch die Begleitung für die Mütter, deren Kinder im Krankenhaus sind, wie uns O. erzählte: „Mein Ehemann und ich haben nicht Mal mehr das Geld, um die Busfahrkarte zum Krankenhaus zu kaufen, um dort unser Kind zu besuchen, das dort schon seit einem Monat liegt. Seit zwei Monaten bekommen wir kein Pocket Money mehr; sie können uns mit dem Auto nicht dorthin fahren und so wechseln wir uns ab. Leider verstehen wir die Ärzte nicht wirklich und so bekommen wir oft keine Informationen. Wir müssen warten, bis die Direktorin ab und zu das Krankenhaus anruft“.
Zum Schluss haben wir noch E. getroffen, die sehr aufgebracht war, weil ihr Sohn gezwungen ist, Mädchenkleidungen zu tragen. Der kleine D. trug einen rosa Strampler: „Es ist nicht gerecht! Für meinen Kleinen gibt es nicht einmal ordentliche Kleidung. Ich habe gebrauche Kleidung genommen, aber es war nichts für Jungs dabei. Es ist nicht gerecht! Ihr würdet auch nicht diese alten und miefigen Kleidchen euren Kindern anziehen. Nicht Mal eine Decke gegen die Kälte habe ich!“. E. wie die anderen Frauen, die wir hier getroffen haben, wartet schon seit Mai auf die Gelegenheit, ihren Antrag auf Internationalen Schutz stellen zu können, aber die Wartezeiten in dieser Notsituation können sehr lang sein, das wissen wir ja schon!
Bevor wir die Einrichtung verlassen, gehen wir an einem Zimmer vorbei, das vollgestopft mit schwarzen Säcken ist, wie die, die wir am Hafen gesehen haben, wie die, die wir benutzen, um die Leichnamen derer zu verstecken, die wir im Meer töten. Zum Glück handelt es sich in diesem Fall nur um Abfälle, Bio- und Restmüll: Schlussendlich landet auch der Abfall in schwarzen Säcke!
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
CAS* - Centro di accoglienza straordinaria - Außerordentliches Aufnahmezentrum
IPAB* - Istituto Pubblico di Assistenza e Beneficenza – Öffentliche Fürsorge- und Wohltätigkeitsanstalt
Aus dem Italienischen von A. Monteggia übersetzt